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Der juedischer Arbeiterbund

04.05.2011, 11:55

"Falls eine bundistische Gruppe gegruendet wird, moechten Sie auch daran teilnehmen?" Der juedischer Arbeiterbund in der Schweiz, von den Anfaengen bis 1914.

Sandrine Mayoraz, Historisches Seminar der Universitaet Basel

In diesem Vortrag werde ich einige Ergebnisse meiner Masterarbeit ueber den juedischen Arbeiterbund in der Schweiz vorstellen. Am Anfang werde ich ueber die Fragestellung und die benutzten Quellen sprechen, dann werde ich einige Worte ueber die Gruendung des Auslandskomitees des Bundes in Genf sagen, bevor ich zur Organisation des Bundes im Ausland und insbesondere in der Schweiz komme. Danach werde ich zwei konkrete Faelle von Bundisten, die aus der Schweiz ausgewiesen wurden, vorstellen, und die Entwicklung der Partei in der Schweiz bis zum ersten Weltkrieg kurz schildern.

1. Fragestellung und Quellen
Fuer diese Arbeit habe ich mich bemueht, zwei Aspekte ins Zentrum zu legen. Zum Einen habe ich angeschaut, wie das Auslandskomitee des Bundes und die anderen Bund-Zirkel in der Schweiz organisiert waren, und welche Funktion sie erfuellten, und zum Anderen habe ich versucht zu entdecken, welches Verhaeltnis zwischen den Bundisten und den Schweizer Behoerden existierte. Konkreter gesagt, ob die Schweizer Obrigkeit die Bundisten und ihre Taetigkeiten in ihrer Ganzheit wahrnahmen oder nicht.
Um diese Aspekte zu untersuchen, habe ich mich hauptsaechlich auf Archivquellen gestuetzt. Diese Dokumente habe ich im Institut fuer Sozialgeschichte in Amsterdam (IISH), im Bundesarchiv in Bern (BAR) und im Staatsarchiv in Genf (AEG) gefunden. Im Archiv des Auslandskomitees des Bundes bestanden die Quellen vor allem aus Berichten ueber Sitzungen der vereinigten Organisation aller bundistischen Zirkel im Ausland, aus Briefen und Mitteilungen des Zentralbueros dieses Verbandes oder des Auslandskomitees, aus Zirkularen des Auslandskomitees und aus Zusammenfassungen der Taetigkeiten der Bundistengruppen ausserhalb Russlands fuer eine gegebene Periode. In der Schweiz waren vor allem Personendossiers von Leuten, die Probleme mit den Behoerden gehabt hatten, und Akte der politischen Polizei zu finden. Schwierig bei der Suche war, dass nicht immer klar erschien, ob die eine oder die andere Person zum Bund gehoerte oder nicht.
Neben diesen Archivquellen haben sich auch die Memoiren vom Vladimir Medem (1879-1923), dem bedeutenden Bundisten, der eine wichtige Rolle im Bund im Ausland spielte, als unabdingbar erwiesen, weil er wichtige Informationen ueber seine Aufenthaltsjahre in der Schweiz, das Funktionieren der bundistischen Gruppen in der Schweiz und das Verhaeltnis dieser Gruppen zu anderen russischen sozialistischen Gruppierungen gibt.

2. Organisation und Struktur des Bundes im Ausland bzw. in der Schweiz
Die Struktur des Bundes im Ausland erwies sich als beweglich und flexibel. Im Laufe der Zeit veraenderte sie sich, um sich den Beduerfnissen der Partei besser anzupassen. Der Bund war in der Schweiz auf drei Ebenen verankert. Erstens gab es in verschiedenen Staedten einzelne bundistische Zirkel, zentral'nye krugki genannt. Zweitens gab es das Zentralbuero der ?vereinigten Organisation der Foerderungsgruppen des Bundes im Ausland? (einfacher gesagt, das Zentralbuero aller bundistischen Gruppen, die sich im Ausland befanden). Drittens existierte das Auslandskomitee des Bundes.

2.1. Die Gruendung des Auslandskomitees in Genf
Schon im ersten Jahr nach seiner Gruendung wurde eine Verfolgungswelle gegen den Bund ausgeloest. Zahlreiche Bundisten wurden von der zaristischen Polizei verhaftet, mehrere Druckereien wurden beschlagnahmt. Die Gruendung des Auslandskomitees des Bundes erfolgte in der zweiten Haelfte des Jahres 1898 in Genf durch John Mill (1870-1952), einen der Gruender des Bundes. Er war kurz vor dieser Repressionswelle nach Westeuropa gereist. Er ging nach Genf, wo er schon unmittelbar nach seinem Ankommen gegen Juli 1898 versuchte, dem Zentralkomitee in Russland zu helfen. Er rief verschiedene Gruppen ins Leben und warb fuer den Bund in den russisch-juedischen Kolonien. Nach wenigen Monaten konnte er dem Zentralkomitee regelmaessig Geld schicken. Er entschied sich, seinen Taetigkeiten eine formellere Struktur zu geben und kuendigte in einer russischsprachigen gedruckten Mitteilung vom 15. Januar 1899 die Existenz des Auslandskomitees an. Diese Nachricht wurde dann im Maerz desselben Jahres in einer Nummer der Ydisher Arbeter veroeffentlicht. Das Ziel dieses Komitees war, soviel wie moeglich zu machen, um das Zentralkomitee des Bundes im Russischen Reich zu unterstuetzen. Dies sollte vor allem durch finanzielle und literarische Hilfe geschehen. Unter finanzieller Hilfe verstand man die Uebergabe von Spenden, Geldsammlungen usw. Das Auslandskomitee gruendete beispielsweise eine spezielle Hilfskasse fuer die Unterstuetzung von politischen Gefangenen und deren Familien im Russischen Reich. Mit literarischer Hilfe war das Publizieren vieler bundistischer Artikel, Zeitschriften und Manifeste sowie ihre Verbreitung im Ausland und im Russischen Reich gemeint. Zu diesem Zweck wurde auch eine Druckerei errichtet, die als "israelitische Druckerei" bezeichnet wurde. Sie befand sich zuerst in Carouge, eine Nachbargemeinde der Stadt Genf. Dort druckte das Komitee bedeutende bundistische Zeitschriften und Dokumente, die weiter in Europa und in Russland verteilt werden sollten, wie beispielsweise Die Letzten Nachrichten oder spaeter Der Bote des Bundes. An der Redaktion der Schriften beteiligten sich Mitglieder aus den unterschiedlichen zentralen Zirkeln, ueber die ich gleich sprechen werde. Das Auslandskomitee wurde im Dezember 1899 beim dritten Kongress des Bundes als seinen offiziellen Vertreter im Ausland anerkannt. Auf die Frage warum Mill gerade Genf auswaehlte, konnte ich aus den Quellen keine direkte Antwort finden. Die Schweiz bot aber gute Bedingungen an. Neben der wichtigen russischen Emigrantengemeinde, die schon bestand, hatte das Land eine zentrale geographische Lage in Europa, was erlaubte, es einfacher als Plattform fuer die Kommunikation und fuer das Schmuggeln illegaler Literatur zu benutzen, als andere Regionen. Dazu riskierten die politischen Emigranten mit ihrem Aktivismus im Grunde genommen wenig. Solange sich die Russen nicht in die Schweizer Politik einmischten und das Land durch ihre revolutionaeren Taetigkeiten nicht bedrohten, zeigten sich die Behoerden verstaendnisvoll. Ein entscheidender Faktor war meiner Meinung nach auch die Anwesenheit eines anderen Bundisten in der Schweiz. Cemach Kopelson (1869-1933) hielt sich zu dieser Zeit schon in der Schweiz auf, und half Mill finanziell, als dieser in Zuerich ankam.
Ich moechte noch hinzufuegen, dass sich die israelitische Druckerei in den ersten Jahren zwar in Carouge befand, dass sie aber ab Herbst 1903 in Genf an der Rue de Carouge 81 gelegen war. An dieser Adresse hatte das Auslandskomitee auch sein Stammlokal, das eine Versammlungsort war, und dies nicht nur fuer die regulaeren Mitglieder des Auslandskomitees, sondern auch fuer Bundisten, die sich nur vorlaeufig in Genf aufhielten und einen Zufluchtsort suchten.

2.2. Die Zentralzirkel und das Zentralbuero
Einzelne mit dem Bund sympathisierende Gruppen waren schon kurz nach der Gruendung des Bundes in verschiedenen Staedten im Ausland erschienen, vor allem dort wo sich viele im Exil lebende russisch-juedische Sozialisten aufhielten. Nach der Gruendung des Auslandskomitees organisierten sich diese Gruppierungen in so genannten центральные кружки (Zentralzirkel). Ein Zentralzirkel bestand mindestens aus 3 Personen. Das Ziel dieser kru?ki war die Unterstuetzung der Bundes. Konkreter bedeutete dies, dass die Zirkel literarische und materielle Hilfe leisteten, die Ideen des Bundes unter den Studenten sowie Arbeitern aus dem Russischen Reich, die sich im Ausland aufhielten, verbreiteten, Persoenlichkeiten fuer die juedische Arbeiterbewegung in Russland ausbildeten und die oeffentliche Meinung im Westen fuer die Sache des Bundes gewinnen sollten. Diese Zentralzirkel wurden im Gegenteil zum Auslandskomitee bis 1906 jedoch nicht als parteiische Organe anerkannt, was unter den Bundisten im Exil oft auf Unverstaendnis stiess. In der Schweiz waren die Bundisten am Anfang vor allem in Bern erfolgreich. Sie halfen mit grosser Begeisterung bei Drucktaetigkeiten des Auslandskomitees mit, indem sie Manifeste, Zeugnisse und Artikel ins jiddische bzw. ins russische uebersetzten.
Die bundistischen Zentralzirkel, die in verschiedenen Staedten geboren waren und die sich eigene Namen gegeben hatten, brauchten eine Struktur, um sich effizienter organisieren zu koennen. Im Januar 1902 trafen sich Vertreter aller zentralen krugki in Bern, wo sie sich fuer die Schaffung der Vereinigte Organisation der bundistischen Zirkel im Ausland und des Zentralbueros entschieden. Dieses Zentralbuero sollte das Auslandskomitee bei seinen Aufgaben fuer das Zentralkomitee unterstuetzen. Es war fuer die Organisation der Zentralzirkel, der gemeinsamen Feste und Protestversammlungen verantwortlich. Er schlug den krugki auch Referenten vor, was Anlass fuer Referatstourneen in mehrere Staedte war. Eine seiner wichtigen Aufgaben stellte die Informationsvermittlung zwischen den einzelnen Zirkeln und dem Auslandskomitee dar. Dank ihm sollte das letztere einen Ueberblick ueber die Aktivitaeten und Entwicklung der Gruppen in den Kolonien erhalten. Die Praesenz eines Mitglieds des Auslandskomitees bei der Gruendungsveranstaltung des Zentralbueros und das Faktum, dass einer der Angehoerigen des Zentralbueros unmittelbar vom Auslandskomitee ernannt wurde, beweist einerseits die enge Kooperation zwischen den zwei Instanzen. Andererseits aber war das Buero dadurch dem Auslandskomitee unterstellt. Ab diesem Datum trafen sich Vertreter der unterschiedlichen Zentralzirkel regelmaessig in Bern, um ueber ihre Organisation zu sprechen. Sie strebten deutlich eine langfristige Entwicklung und eine tiefe Verwurzelung unter den sich im Exil befindenden russischen Juden an. Jeder Zirkel musste regelmaessig Fragebogen ueber die Zusammensetzung der Kolonien, die Verhaeltnisse zwischen den verschiedenen politischen Bewegungen und die geleistete Arbeit (Verbreitung von Zeitschriften, Referate, Diskussionen, Konzerte usw.) ausfuellen und dem Zentralbuero schicken.
Am Ende des Jahres 1902 befand sich die Haelfte der Zentralzirkel in der Schweiz (4 von 8). Der Berner Zirkel war laut Vladimir Medem der aelteste und wichtigste der Gruppen ausserhalb Russlands. Er hatte 1902 zwoelf Mitglieder. Genf folgte mit elf Angehoerigen. Lausanne zaehlte vier Personen. Die Berner Gruppe verfuegte ueber eine gute Basis engagierter Bundisten, die fuer die Errichtung des Zentralbueros von Nutzen sein konnten.

Eine Schwierigkeit fuer die bundistischen Zentralzirkel war die Frage der oeffentlichen Bekanntmachung. Es wurde entschieden, dass diese geheim bleiben sollten. Ein Zentralzirkel konnte zum Beispiel andere krugki gruenden (beispielsweise Bildungs- oder Diskussionszirkel), um ein bestimmtes Problem zu loesen bzw. einen gewissen Punkt zu diskutieren, ohne dass diese ueber die Existenz des Zentralzirkels Bescheid wussten. Dies ist im Zusammenhang mit der Angst vor Verfolgungen zu sehen. In Westeuropa hielten sich auch Agenten des Zaren auf, die beauftragt wurden, russische Sozialisten zu ueberwachen. Die Angehoerigen des Bundes verhielten sich also extrem vorsichtig. Vladimir Medem, der Anfang November 1901 in Bern angekommen war, erzaehlt in seinen Memoiren, dass die Bundisten potentielle Mitglieder nie direkt fragten, ob sie einem bundistischen Zirkel beitreten wollten oder nicht, sondern eher die Frage stellten: "Falls eine bundistische Gruppe gegruendet wird, moechten Sie auch daran teilnehmen?"
Der Bund verfuegte durch seine Organisation in der Schweiz ueber eine solide Arbeits- und Unterstuetzungsbasis. Diese solide Organisation zeigte jedoch ihre Schwaechen und Grenzen insbesondere in zwei Angelegenheiten, die ich im Folgenden vorstellen moechte.

3. Die Ausweisungen von Aron Kremer und Chaim Bernstein
Im Jahre 1900 war es Aron Kremer (1865-1935), einer fuehrenden Persoenlichkeit des Bundes, gelungen, aus dem Gefaengnis auszubrechen und ins Ausland zu fluechten. Er trat sofort in Kontakt mit John Mill und seinem Auslandskomitee und liess sich Ende Dezember 1900 in Genf nieder. Er arbeitete unter anderem in der israelitischen Druckerei, zusammen mit einem Chaim Bernstein, der seit Februar 1901 in der Schweizer Stadt wohnte. Beide sahen sich im April 1901 in einen Konflikt mit den Genfer Behoerden verwickelt, die mit ihrer Ausweisung aus der Schweiz endete. Dieser Vorfall hatte aber weit darueber hinausgehende Folgen.
Am 5. April 1901 fand eine oeffentliche Versammlung statt, die ins Leben gerufen worden war, um gegen die Auslieferung eines italienischen Anarchisten zu protestieren und um demonstrierende Studenten in Russland zu unterstuetzen. Die Teilnehmer stammten nicht nur aus dem Russischen Reich, sondern es wurde auch auf franzoesisch und italienisch gesprochen. Nach der Versammlung nahm ein Teil der Zuhoerer an einer Demonstration vor dem russischen und vor dem italienischen Konsulat teil, bei der sie ?revolutionaere Lieder sangen, schrien und pfiffen.? (1) Beim Protest vor der russischen Vertretung kam es zu einem Zwischenfall: Ein von den Demonstrierenden geworfener Stein landete in einem Zimmer der Wohnung des Konsuls, und schlimmer: Die Wappen des Gebaeudes wurden heruntergerissen und zerstoert. Dies loeste eine diplomatische Krise mit dem russischen Konsul aus, der sich bei den Genfer Behoerden beschwerte, dass nichts unternommen worden sei, um dies zu verhindern. Die Untersuchung ueber diese Unannehmlichkeiten fuehrte zur Verhaftung von mehreren Individuen, von denen sechs in Haft blieben. Fuenf stammten aus Russland, und einer aus Italien. Unter den Verdaechtigten befanden sich Kremer und Bernstein. Trotz den Bemuehungen ihres Anwaltes und der Unterstuetzung von mehr als 100 Personen, die eine Petition zu Gunsten der laut ihrer Meinung ungerecht verhafteten Verdaechtigten unterschrieben hatten, wurden Bernstein und Kremer am 17. April 1901 aus der Schweiz ausgewiesen, ohne dass ihre Beteiligung an den Gewaltakten wirklich bewiesen wurde. Beide begaben sich nach Paris und erklaerten, dass sie nach London fahren wollten. Diese Ausweisungen hatten nach Vladimir Medem die Verlegung des Auslandskomitees und seiner Druckerei nach London zu Folge. Zwischen Herbst 1901 und Herbst 1903 blieb also das Auslandskomitee in London. Es gibt mehrere andere Hypothesen ueber die Gruende dieses Umzugs. Einige behaupten, dass das Komitee eine groessere Heimlichkeit anstrebte, oder dass es nach logistischer Unterstuetzung suchte.(2) Diese zwei Argumente scheinen aber schwach zu sein, wenn man die Situation des Auslandskomitees in Genf betrachtet. Dort verfuegte es mit der Druckerei ueber eine gute, selbst aufgebaute Infrastruktur, und ueber ein Sammelbecken von russisch-juedischen Studenten, die eine wertvolle Hilfe zur Publikation und zum Schmuggeln illegaler Literatur leisten konnten.

4. Der Fall David Machlin
Ein anderer Fall, der Folgen fuer die Organisation des Bundes in der Schweiz hatte, ist die Geschichte von David Machlin (1879-1952), der am 10. Mai 1906 aus der Schweiz ausgewiesen wurde. Dieser Vorfall ist sowohl von Seiten der Eidgenossenschaft als auch von Seiten des Bundes dokumentiert, und deswegen hat sie einen grossen Wert.
4.1. Die Ereignisse
Am 24. April 1906 entschieden die Berner Behoerden David Machlin nach einer Hausdurchsuchung zu verhaften. Diese Wohnungsdurchsuchung hatte der Berner Regierungsstatthalter am Vorabend geordnet. Die Aufmerksamkeit der Polizei hatte Machlin auf sich gelenkt, weil er unter seinem Namen die Saele fuer vier Versammlungen von Russen gemietet hatte. Diese Zusammenkuenfte waren Gegenstand eines polizeilichen Berichts, in dem ans Licht kam, dass sich Machlin zwar am 4. April 1906 in Bern angemeldet hatte, dass er jedoch im Gegenteil zu seinen Aussagen nicht an der Universitaet Bern immatrikuliert war, und sich moeglicherweise schon seit laengerem illegal in der Stadt aufhielt. Die Unklarheit, die Machlin umgab, hatte den Verdacht erweckt und fuehrte zur Hausdurchsuchung. Bei diesem Ereignis beschlagnahmte die Polizei "eine Menge anarchistische Literatur, eine Anzahl Photographien und ein Kistschen mit Instrumenten und Chemieapparaten." (3) Um die entdeckte Literatur und Fotografien zu entsorgen, brauchten die Agenten vier grosse Kisten. Der Verdaechtigte wurde am folgenden Tag verhoert. Waehrend des Verhoers erklaerte er, dass er seit Ende November 1905 in Bern gewohnt habe. In die Schweiz sei er im Herbst 1904 gekommen. Wie die Polizei es spaeter erfuhr, war er aus Preussen wegen Teilnahme an einer russischen Protestversammlung am 16. Maerz 1904 ausgewiesen worden. In Zuerich habe er sich an der Universitaet im Wintersemester 1904/1905 immatrikuliert. Dort habe er Chemie bis zum Ende des Sommersemesters 1905 studiert. Anfang August 1905 habe er den 7. Zionistenkongress in Basel besucht, bevor er sich zwischen Ende August und Mitte Oktober in Genf niederliess. Nach seinem Aufenthalt in Genf sei er nach Zuerich zurueckgekehrt, wo er sich entschieden habe, ins Russische Reich zurueckzufahren. Wegen dem Streik des russischen Post- und Telegraphwesens konnte er aber das fuer die Rueckreise notwendige Geld von seinen Eltern nicht erhalten. Deswegen habe er sich nach Bern begaben. Dort habe ihm das "Centralbuereau der vereinigten Organisation der bundistischen [...] Gruppen" (4) eine Stelle als Sekretaer angeboten, welche er annahm.
Die Genauigkeit der Information ist schwer nachpruefbar, da man nur Machlins Zeugnis hat. Die Zusammenfassung der Taetigkeiten der vereinigten Organisation der bundistischen Foerderungsgruppen im Ausland zwischen dem 15. Maerz und dem 15. Juli 1906 bringt ueber den Laufbahn Machlins keine zusaetzlichen Praezisierungen. Sie bestaetigt einfach nur, dass er als Sekretaer des Zentralbueros taetig war.
Waehrend des Verhoers achtete Machlin schnell darauf, die Anarchismus- Beschuldigungen fuer falsch zu erklaeren: "Ich bin nicht Anarchist und auch nicht sozialistischer Revolutionaer oder Terrorist, sondern Sozialdemokrat." (5) Mehrmals wiederholte er diese Aussage in verschiedenen Worten. Um die grosse Anzahl an russischsprachigen Papieren, Broschueren, Zeitschriften usw. in seiner Wohnung zu begruenden, behauptete er, es handelte sich um das Archiv des Sekretariats der "ausserhalb Russlands wohnenden Bundisten" (6). Ueber die Versammlungen sagte er, dass es um bundistische Veranstaltungen ginge, und dass keine anderen Themen als bundistische Fragen besprochen worden seien.
Erstaunlicherweise untersuchte die Polizei die Bund-Gruppe in Bern nicht weiter. Den Verhafteten fragte sie nicht nach dem Namen der anderen Bundisten in der Stadt. Was die Behoerden am meisten beschaeftigte, war die gefundene Kiste, deren Inhalt sie sofort dem kantonalen Chemiker zur Untersuchung uebergaben. Seine Schlussfolgerung war klar: "Es kann somit bestimmt erklaert werden, dass die meisten der besichtigten Objekte zur Bombenfabrikation oder zur Herstellung von Sprenggeschossen geeignet sind." (7)
Machlin versuchte, sich gegen die Anklage, eine Bombe vorbereiten zu wollen, zu verteidigen. Ueber den Kasten sagte er, dieser sei ihm von einem Michael Schaewitsch, den er in Russland vier Jahre vorher kennengelernt hatte, und jetzt der terroristischen Richtung angehoerte, zur Aufbewahrung uebergeben worden. Da die Kiste mit einem Vorhaengeschloss abgeschlossen war und er den Schluessel nicht habe, konnte er nicht wissen, was ihr Inhalt war. Warum er einverstanden war, diese Kiste aufzubewahren, praezisierte er nicht.
Hier muss man den Eifer der Schweizer Behoerden, Machlin des Terrorismus zu ueberfuehren, im Kontext des Aprils 1906 wieder betrachten. Es hatte naemlich schon mehrere Bombenaffaeren, in die Russen verwickelt waren, in der Schweiz gegeben. Die Letzte, die in Genf grosses Aufsehen erregt hatte, hatte Anfang Dezember 1905 stattgefunden. An der rue Blanche hatte es am 3. Dezember in einer von Russen gemieteten Wohnung eine Explosion gegeben, bei der mehrere Personen verletzt worden waren. Als die Polizei den Fall untersuchte, entdeckte sie, dass sich in der Wohnung ein Labor und eine Druckerei befanden. Dies gab Anlass zur sogenannten Bilit Affaere, benannt nach dem Hauptprotagonisten Boris Grigor'evitsch Bilit (1864-?), der nach einem Fehler die Explosion verursacht hatte, und dabei schwere Verletzungen erlitten hatte. Behaelt man dies im Hinterkopf, kann man besser verstehen, warum die Behoerden die Entdeckung der aus Genf stammenden Kiste bei Machlin sehr ernst nahmen. Es waren kaum vier Monate seit dem Fall Bilit vergangen.

4.2. Die Reaktion des Bundes im Ausland
Interessant ist, dass der Bund in der Schweiz dieses Mal nicht passiv blieb wie im April 1901. Er reagierte zuerst auf eine kurze Meldung, welche die Berner Zeitung Der Bund in ihrer Ausgabe vom 26./27. April publiziert hatte. In diesem Artikel beschrieb der Journalist den Verhafteten als einen Anarchisten, der bei ihm zu Hause das ganze noetige Material fuer eine Bombenherstellung besass.
"Die Organisation der juedischen Sozialdemokraten, Bundisten in Bern" (8) schrieb der Zeitung einen Brief um Korrekturen und Praezisierungen zu geben. Dieses Schreiben beschraenkte sich nicht auf eine Schilderung der Verhaftung Machlins, sondern bemuehte sich, die Verwechselung des Begriffs "Sozialdemokrat" mit "Anarchist" zu korrigieren: ?Wie jede andere socialdemokratische Organisation hat unsere Partei nichts mit den Anarchisten zu thun, bekaempft sie auf's entschiedenste und es muss als ein recht veraltetes polizeiliches Stueck betrachtet werden, wenn man um Liebesdienste der russischen Regierung erweisen zu koennen, die Socialdemokraten mit den Anarchisten in einen Korb wirft.? (9) Ein Teil des Briefes wurde in der Bund-Zeitung vom 28. April veroeffentlicht.
Die Bundisten in Bern gaben sich also Muehe, Machlin von jeglichem Verdacht reinzuwaschen. Sie beschraenkten sich nicht auf die Publikation dieser Erlaeuterung in der Schweizer Zeitung, sondern gingen weiter. Am 2. Mai schickte ein Bundist, den ich wegen seiner unlesbaren Unterschrift nicht identifizieren konnte, dem Bundesrat einen Brief, in dem er wiederholt im Namen der "Vereinigung juedischer Sozialdemokraten in Bern und des Herrn Machlin" die Unschuld des letztgenannten erklaerte. Dafuer versicherte er nochmals, dass der Verhaftete "organisiertes Mitglied" der Bundisten sei, dass er daher weder Anarchist noch Terrorist sei. Die problematische Kiste und ihr Material fuer eine Bombe interpretierte er als "obwaltendes Missverstaendnis" (10). Weiter schrieb er: "Zweck dieses Gesuches ist es nun, den hohen Bundesrat zu bitten, von einer Ausweisung des David Machlin Umgang zu nehmen."
Was hatte sich seit April 1901 und den Ausweisungen Kremers und Bernsteins, die beide auch zum Bund gehoerten, geaendert? In diesen Briefen spuert man, wie die Berner Bundistengruppe an Machlin gebunden war, und wie stark sie einen Freispruch wuenschte. Diese offenen Versuche, den Sekretaer des Zentralbueros zu retten, zeigen, dass dieser fuer die Organisation als wichtige Figur betrachtet wurde. Diese Bedeutsamkeit bestaetigt der Bericht der vereinigten Organisation der bundistischen Gruppen im Ausland vom Maerz bis Juli 1906. Dort wird Machlin ausnahmsweise in seiner Rolle als ehemaliger Sekretaer des Zentralbueros namentlich zitiert. Seine Verhaftung hatte eine grosse Verwirrung innerhalb der Organisation der Bund-Gruppen im Ausland verursacht. Dazu hatte sie die Verlegung des Zentralbueros von Bern nach Genf zur Folge gehabt, und trug so zum Zusammenbruch fast aller bisherigen Traditionen und Verbindungen der Organisation bei. Obwohl der Verfasser der Zusammenfassung nicht nur Machlins Ausweisung, sondern auch die Abreise anderer Mitglieder des Zentralbueros nach Russland fuer die darauffolgende chaotische Situation verantwortlich machte, erraet man, dass der Fall Machlins eine gewisse Desorganisation der Struktur bewirkte.
Die Wichtigkeit Machlins kann jedoch nicht allein die Hilfeleistung der Partei erklaeren. Kremer stellte 1901 eine der bedeutendsten Figuren des Bundes dar. Er fand trotzdem keine Unterstuetzung von Seite seiner Gleichgesinnten und wurde ohne Proteste aus der Schweiz ausgewiesen, obwohl dies auch schwere Konsequenzen bewirkte, da das Auslandskomitee und die Druckerei ihm bald nach London folgten. Die Umstaende hatten sich aber fuenf Jahre spaeter stark veraendert. Erstens hatte der Bund an Anerkennung gewonnen. 1906 zaehlte er 33 000 Mitglieder. Seine Bedeutung in den juedischen Arbeitermassen hatte zugenommen. Im Ausland hatten sich immer mehr Zirkel in den verschiedenen Staedten gebildet, und das Netz hatte sich sogar bis nach Amerika, Suedafrika und Australien entwickelt. Die Legitimitaet der Partei wurde solcher Weise dadurch bestaerkt. Im April 1901 zaehlten die Gruppen des Bundes im Ausland wenige Zirkel, das Auslandskomitee war erst seit zwei Jahren gegruendet worden, und verfuegte noch nicht ueber eine so grosse Macht wie 1906. Dazu war es nicht das Auslandskomitee, sondern die Berner Bundistengruppe, die sich zu Gunsten Machlins einsetzte, und das erst 1902 gegruendete Zentralbuero, das die Folgen der Abwesenheit Machlins tragen musste.
In der Wahrnehmung der juedischen Arbeiterpartei hatte sich zwischen April 1901 und April 1906 auch bei den Schweizer Behoerden ein Wandel vollzogen. 1901 wurde ueberhaupt keinen Unterschied gemacht zwischen Angehoerigen des Bundes und Mitgliedern anderer russischen sozialistischen Bewegungen, die Druckerei des Auslandskomitees in Genf fiel als bundistisches Unternehmen nicht auf. Um 1905-1906 hatte die Bundesanwaltschaft die Taetigkeiten der israelitischen Druckerei in Genf naeher angeschaut. Mindestens eineinhalb Jahre hatte sie die Veroeffentlichungen des Betriebs ueberwacht und uebersetzen lassen, ohne irgendeinen Aufruf zur Gewalt zu finden. Deswegen interessierte sie sich weniger fuer die Berner Bundistengruppe als fuer die Leute, die mit Machlin und der Kiste direkt etwas zu tun hatten. Denn die Behoerden hatten bei ihren Kontrollen feststellen koennen, dass sich der Bund gegen den Terrorismus ausgesprochen hatte. Diese nicht allzu negative Einstellung gegenueber ihrer Partei fuehlten die Bundisten von Bern auch. Deshalb versuchten sie, die Lage zu erklaeren und den Angeklagten zu retten.

4.3. Die Ausweisung
Die Versuche der Berner Bund-Gruppe blieben erfolglos. Am 3. Mai, nur ein Tag nach dem Brief des Berner Zirkels an den Bundesrat, verfasste die Bundesanwaltschaft eine Rekapitulation des Falls fuer das Schweizerische Jusitz- und Polizeidepartement.
Die Bundesanwaltschaft anerkannte, dass es unter den gefundenen Dokumenten keine gab, welche die Verbindung des Bundisten mit einer terroristischen Bewegung beweisen wuerden. Bei der fragwuerdigen Kiste kam sie jedoch zu einem anderen Schluss. Nachdem sie die Aussagen des Verhafteten vorstellte und zugab, es bestehe die Moeglichkeit, dass Machlin den Schluessel zum Schloss dieser Kiste nicht besass, weil man ihn nirgendwo gefunden hatte, beurteilte sie die Situation nicht zugunsten des Russen. Ein grosser Nachteil fuer den Bundisten war, dass er seine Version nicht beweisen konnte. Obwohl die Bundesanwaltschaft selbst behauptete, dass das eingezogene Material nicht bedeutend genug war, um eine potentielle grosse Gefahr darzustellen, empfahl sie, Machlin auszuweisen, mit der Begruendung, dass er erstens ungenuegende Auskuenfte ueber diese Kiste gegeben haette, und dass er zweitens in der Schweiz "einzig zu agitatorischen Zwecken"? (11) gewohnt haette. Die Zeugnisse der Berner Bundistengruppe, sei es die publizierte Erklaerung im Bund oder der Brief vom 2. Mai, wurden ueberhaupt nicht beruecksichtigt. In seiner Sitzung vom 4. Mai genehmigte der Bundesrat die Vertreibung des Bundisten, und Machlin wurde am 10. Mai nach Basel an die Grenze beim badischen Bahnhof gebracht, von wo er den Schnellzug nach Karlsruhe nahm. Zwischen der Verhaftung des Sekretaers des Zentralbueros und seiner Ausweisung waren zwei Wochen vergangen.

5. Der Bund im Ausland 1906
Wie gesagt blieb die Ausweisung Machlins nicht ohne Konsequenzen fuer die Organisation des Bundes im Ausland. Ungefaehr zum gleichen Zeitpunkt erlebte die Partei in Russland eine schwierige Phase. Nach der gescheiterten Revolution von 1905 hatte die Mitgliederzahl des Bundes in Russland begonnen abzunehmen. Wenn man einen Blick auf den Bericht der vereinigten Organisation dieser Gruppen fuer die Periode zwischen dem 15. Maerz und dem 15. Juli wirft, sahen die Situation und die Perspektiven der bundistischen Zirkel im Ausland 1906 weniger dunkel aus als in Russland. Bei ihrer 5. Sitzung im Maerz 1906 entschieden sich die Bundisten im Ausland fuer eine Reorientierung ihrer Politik. Der Verfasser der Zusammenfassung selbst spricht von einem Wendepunkt in der Geschichte der Organisation. Erstens aenderten sie ihren Namen. Die Organisation wurde Anfang Maerz 1906 in Vereinigte Organisation der Foerderungsgruppen fuer den Bund im Ausland umbenannt. Zweitens erhielt der Verein ein neues Statut mit u.a. zwei wichtigen Aenderungen: die Demokratisierung und die Legalisierung der Organisation. Die Legalisierung implizierte, dass die zentralen krugki, die ab jetzt Foerderung- oder Hilfegruppen hiessen, in den verschiedenen Kolonien nicht mehr geheim sondern oeffentlich handeln durften. Den anderen Leuten war es bewusst, dass solche Gruppen existierten. Im Gegensatz zu den ehemaligen Zentralzirkeln durften sie ihre Mitteilungen und Publikationen mit ihrem Namen unterschreiben, und sich der Oeffentlichkeit aussetzen.
Die so genannte Demokratisierung, die eigentlich eng mit dem Bergriff der Legalisierung verbunden war, bedeutete erstens eine Erweiterung des Bestands der Organisation und zweitens eine innere Reorganisation der Struktur der jeweiligen Zirkel. Dies erfolgte mit der Gruendung der sogenannten Бюро Группы, die mit der Steigerung der Anzahl an Bundisten in den Zirkeln fuer einen guten Betriebsablauf unabdingbar waren. Sie erfuellten eine Vertretungsrolle jedes Zirkels gegenueber dem Auslandskomitee oder anderen sozialistischen Fraktionen in den jeweiligen Kolonien. Sie standen also in unmittelbarem Kontakt mit dem Auslandskomitee in Genf, dem sie am Ende jedes Monats die gesammelten Spenden zu Gunsten des Bundes ueberreichten. Gleichzeitig gaben sie dem Zentralbuero eine Bilanz ab. Ihre Mitglieder wurden von den jeweiligen Foerderungsgruppen gewaehlt. Die geheime Abstimmung fand am Anfang jedes Semesters statt. Wie viele Personen genau das Бюро Группы zaehlte, durfte die Gruppe entscheiden. Sie bestanden jedoch mindestens aus drei Personen: einem Praesidenten, einem Kassierer und einem Sekretaer.
Die oben erwaehnten Elemente erlauben, breitere Schlussfolgerungen ueber das Funktionieren dieser bundistischen kru?ki zu ziehen. Erstens hatten sich die Bundisten im Ausland die Konsequenzen einer Legalisierung gut ueberlegt. Die Gruendung der Gruppenbueros zeugt von einem Willen, so effizient wie moeglich zu handeln, und die Struktur, die sie im Russischen Reich im Untergrund gebildet hatten, zu imitieren. Dies stand in Verbindung mit weiteren strategischen UEberlegungen, um eine langfristige Entwicklung der Bewegung unter den russischen Juden im Ausland zu foerdern. Zweitens deutet die Tatsache, dass sie am Anfang jedes Semesters ueber die Bildung des Gruppenbueros abstimmten, auf eine erwartete rasche Veraenderung der Zusammenstellung der Foerderungsgruppen hin, was die grosse Mobilitaet der russisch-juedischen Ausgewanderten hervorhebt.
Laut dem Bilanzbericht vom August 1906 trug der Reorientierungsbeschluss sofort Fruechte. Obwohl der Verfasser vor einer zu grossen Begeisterung warnte, weil die neue Ordnung erst seit fuenf Monaten in Gang war, behauptete er, dank ihr sei die Mitgliederzahl drastisch gestiegen. In einem Vergleich zwischen der Anzahl der Leute, die am 15. Maerz ? das heisst bis zum neuen Organisationsstatut ? und am 15. Juli zu einer Gruppe gehoerten, ist diese Entwicklung gut sichtbar. Fuer die Schweizer Staedte, in denen ein bundistischer Zirkel existierte, stieg die Zahl der Angehoerigen deutlich: in Zuerich von 5 auf 15, in Bern von 8 auf 28, in Lausanne von 7 auf 15 und in Genf von 3 auf 20. In den meisten anderen europaeischen Ortschaften verlief die Zunahme aehnlich, wobei in vielen Staedten den Unterschied weniger spektakulaer war als in der Schweiz.

6. 1909-1912: Zwischen Schwierigkeiten und Erfolgen
Diese Begeisterung dauerte aber nicht lange. In den naechsten drei Jahren erlebte der Bund ausserhalb Russlands ebenso eine Krise wie die Partei im Russischen Reich. Aus dem Bericht ueber die Taetigkeiten der Foerderungsgruppen im Ausland zwischen Mai 1909 und Mai 1910 kommt hervor, dass auch wenn sich die Gruppen in ein paar Staedten weiter entwickelt hatten und ein grosses Interesse fuer die Partei gezeigt hatten, "Apathie und Indifferenz" in den meisten Zirkeln erschienen waren, und dies auf fast allen Ebenen: Geldsammlung, Referate, Diskussionen, Bildungszirkel usw. Die Ausdehnung der Einflusssphaere war an einem toten Punkt angelangt: es konnten keine neuen Menschen fuer die Bund-Gruppen gewonnen werden, und ehemalige Mitglieder hatten sich von den Foerderungsgruppen entfernt. Der materielle Aspekt war kaum erfreulicher. Was die Schweizer Gruppen betrifft, konnte ein regelmaessiges Einkommen dank der Organisation verschiedener Veranstaltungen nur in Genf und Bern gesichert werden. Aehnliches galt fuer die Mitgliederbeitraege, die in Genf regelmaessig, in Bern "teilweise" und in Zuerich ueberhaupt nicht bezahlt wurden.
Trotz dieser schwierigen Phase verfuegte die Organisation des Bundes im Ausland immer noch ueber ein gut aufgebautes Netz. Das Zentralbuero in Genf pflegte Beziehungen zu 17 Foerderungsgruppen (wie im August 1906), sechs Arbeitervereinen und vier Arbeitergruppen. Dazu unterhielten sie ein Verhaeltnis zu 42 weiteren Ortschaften, wo sich kleinere Gruppen bzw. einzelne Bundisten aufhielten. In der Schweiz besassen Genf, Bern und Zuerich einen zentralen kru?ok. Zuerich hatte noch einen bundistischen Arbeiterverein. Lausanne, dessen Gruppe, die 1902 entstanden war, 1906 noch in der Liste zitiert wurde, erschien 1910 in der Kategorie "Gruppen von Bundisten und einzelne Bundisten". Die Bundisten in dieser Stadt bildeten also keinen Zirkel mehr, der zur vereinigten Organisation der Foerderungsgruppen gehoerte. Wann genau dies geschah und ob es deshalb so weit kam, weil die dort lebenden Sympathisierenden nur ungenuegende Begeisterung zeigten oder weil zu wenig potentielle Interessenten vorhanden waren, konnte nicht festgestellt werden. Auf jeden Fall wurde der Kontakt mit den anderen Parteimitgliedern nicht voellig abgebrochen. Spannend ist die Tatsache, dass in dieser Kategorie nicht nur Lausanne, eine universitaere Stadt, wo sich eine bestimmte Anzahl an russischen Studenten aufhielt, vorkommt, sondern auch Davos, Lugano und Neuch?tel. Davos insbesondere hatte sich auch zu einem bekannten Ort fuer Bundisten entwickelt. Verschiedene Bundisten hielten Referate in diesem Dorf. So beispielsweise Vladimir Medem, der am 28. Dezember 1911 einen Vortrag ueber "die Voelker Russlands und die nationale Frage" hielt, wie es ein Flyer ankuendigte. Eine Kommission mit Bundisten und Mitgliedern der RSDRP war sogar gegruendet worden, um den kranken politischen Aktivisten, die sich in Davos heilen lassen wollten, zu helfen. Der Kurort stellte naemlich ein fuer Russen anziehendes Dorf dar, wo viele Pflege und Ruhe suchten. Im Zirkular vom 30. Januar 1912 wies das Zentralbuero die bundistischen Foerderungsgruppen auf einen Brief der Davoser Kommission hin. In der Meldung bat man darum, dass Parteimitglieder sich vor einer Reise in den graubuendnerischen Kurort mit der speziellen Kommission in Verbindung setzten. Denn wegen dem grossen Erfolg des Russischen Sanatoriums und der anderen russischen Infrastrukturen gab es oft keinen Platz und keine finanzielle Unterstuetzung mehr fuer neue sozialistische Ankoemmlinge. Ende Januar sollten sich die interessierten Leute schon fuer fruehestens den Monat Maerz bewerben. Hier ist wahrscheinlich vom ?Russischen Haus fuer mittellose Tuberkuloskranke? die Rede. Es war 1909 eroeffnet worden und hatte grossen Erfolg.
Der Zirkel von Genf war am aktivsten. Er organisierte ein Zusammentreffen zum Andenken an den 5. Jahrestag des Blutsonntages und beteiligte sich mit seinen Rednern an einer Protestversammlung anlaesslich der Hinrichtung vom katalanischen Anarchisten Francisco Ferrer (1859-1909), was zeigt, dass er sich fuer bestimmte Veranstaltungen anderen Parteien anschloss. (12)
Dass sich die Bundisten besonders in Genf als aktiv erwiesen, hing jedoch damit zusammen, dass Genf mit dem Zentralbuero, dem Auslandskomitee und der israelitischen Druckerei den Mittelpunkt der Bund-Organisation im Ausland darstellte. Dort hielten sich ununterbrochen wichtige Bundisten auf, was automatisch einen hoeheren Handlungsgrad zur Folge hatte.
Im Mai 1908 kam zum Beispiel Vladimir Medem, der seit 1906 auch Mitglied des Zentralkomitees war, nach Genf fuer die naechsten vier Jahre zurueck. Dort fuehrte er sein Engagement fuer das Auslandskomitee fort. Medem tat sein Bestes, um trotz der Krise die Taetigkeiten der Partei lebendig zu halten. Kurz nach seinem Ankommen entschied er mit anderen Bundisten, die Zeitschrift herauszugeben. Waehrend er sich in Genf aufhielt, machte er im Winter unterschiedliche Referatsreihen. Daneben kuemmerte er sich um die verschiedenen literarischen Publikationen. Es bestand jedoch einen Mangel an bundistischen Zeitschriften. Dies beschraenkte die Moeglichkeiten der Bundisten, sich auszudruecken und ihre Ideen zu verbreiten. Um die Schwierigkeit zu umgehen, veroeffentlichte er einige Artikel in russischsprachigen juedischen oder jiddischsprachigen Zeitschriften, die zum Teil keine sozialistischen Ideen vertraten. Dieses Verhalten entsprach der neuen Politik der Partei, die im Herbst 1910 offiziell bei der achten Konferenz des Bundes eingefuehrt werden wuerde und die nicht mehr darauf abzielte, lediglich durch rein bundistische Organisationen das Leben der juedischen Arbeiter zu beeinflussen, sondern auch durch die Beteiligung an kulturellen und nicht-parteigebundenen Gruppen neue Anhaenger zu gewinnen.
Der Bericht der Vereinigten Organisation der Foerderungsgruppen des Bundes im Ausland fuer die Periode zwischen Mai 1911 und Oktober 1912 zeigt, dass sich die Perspektiven der Organisation wieder verbessert hatten. Im Oktober 1912 zaehlten die Foerderungsgruppen insgesamt 440 Mitglieder. Diese Zahl war noch nie zuvor so gross gewesen. Die allgemeine Zugehoerigkeit zu einem lokalen kru?ok hatte 1912 also stark zugenommen. Zu den Schweizer Neuheiten zaehlten beispielsweise die Wiedergruendung eines Foerderungszirkels in Lausanne, die Erscheinung einer Bundistengruppe in Basel, sowie ein Kontakt mit vereinzelten Parteigenossen in Chur.
In der Schweiz zeigte sich fuer die betrachtete Periode nicht nur Genf unternehmungsfreudig. Die Besucherzahlen der unterschiedlichen Veranstaltungen sind zum Teil nicht vollstaendig. Man kann sich trotzdem eine Vorstellung der Situation machen. An den Versammlungen zum ersten Mai nahmen Redner der Foerderungsgruppen der Staedte Zuerich, Bern, Davos, Genf und Lausanne teil. Alle hielten ihre Auftritte in jiddisch. Diese Sprache hatte mit den Jahren an Wichtigkeit gewonnen. Sie blieb allerdings nicht die einzige Kommunikationssprache. So wurden beispielsweise in Genf und Lausanne Lektionen ueber die Politik des Bundes und sein Programm auf russisch organisiert. Referate fanden in Bern, Basel, Genf, Lausanne und Zuerich statt.
An den Vortraegen in Genf nahmen am meisten Leute teil. Einer brachte elf Besucher, drei 30 bis 35, und die zwei letzten 50 bis 56. Der Vergleich mit allen anderen Staedten erweist sich jedoch als schwer, denn nicht fuer alle sind Zahlen vorhanden.

7. Schlussfolgerung
Am Vorabend des 1. Weltkriegs hatten sowohl der Bund im Russischen Reich als auch seine Organisation im Ausland an neuen Anhaengern und aktiven Mitgliedern wieder gewonnen. Mit dem Ausbruch des Kriegs arbeiteten das Auslandskomitee und das Zentralbuero an Veroeffentlichungen, die regelmaessige Nachrichten ueber die Lage der juedischen Bevoelkerung im Russischen Reich und die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, publizierten.
Kurz nach der Februarrevolution von 1917 wurde entschieden, die Bund-Gruppen im Ausland, inklusive das Auslandskomitee aufzuloesen und die meisten der Bundisten kehrten nach Russland zurueck.
Die Organisation des Bundes im Ausland hatte vielen im Exil lebenden Bundisten erlaubt, sich fuer ihre Ideale einzusetzen, auch wenn sie unter dem Zwang der Verhaeltnisse von ihrer Heimat fern bleiben mussten. Mit dem Auslandskomitee und dem Zentralbuero hatten die ausgewanderten Bundisten ein entscheidendes Unterstuetzungsnetz aufgebaut, welches das Zentralkomitee ueber Jahre schaetzen wuerde. Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass diese Organe in der Schweiz entstanden, und ungeachtet einiger Probleme ? wie beispielsweise die Ausweisung von Aron Kremer ? in der Schweiz fast 20 Jahre geblieben sind. Dieses Land erfuellte alle Bedingungen fuer die Entfaltung eines solchen Unternehmens.

Anmerkungen
1. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Schweizerischen Bundesrates, 17.04.1901, BAR E21 13908.
2. Siehe Claudie Weill: Russian Bundists Abroad and in Exile, 1898-1925, in: Jacobs, Jack (Hg.): Jewish Politics in Eastern Europe. The Bund at 100, Palgrave 2001.
3. Hausdurchsuchungsprotokoll, 24.04.1906, BAR E21 7086.
4. Verhoerprotokoll von David Machlin, 25.04.1906. BAR E21 7086.
5. Ibid.
6. Ibid.
7. Der Kantonschemiker an Regierungsstatthalter Bern, 25.04.1906, BAR E21 7086.
8. "Erklaerung", Der Bund vom 28.04.1906, Nr. 197, 57. Jahrgang.
9. Algemeyner Yidisher Arbeter Bund Collection, Bund-Archiv im IISH, Amsterdam, Dossier 15.
10. Brief an den Schweizerischen Bundesrat, 02.05.1906, BAR E21 7086.
11. Die Schweizerische Bundesanwaltschaft an das Schweizerische Justiz- und Polizeidepartement, 03.05.1906, BAR E21 7086.
12. Francisco Ferrer Guardia (1849-1909) war ein katalanischer Anarchist. Als Anhaenger republikanischer Ideen musste er eine Zeit lang nach Paris emigrieren. Er gruendete am Anfang des 20. Jahrhundert eine Freidenkerschule in Barcelona. Er wurde fuer den Aufstand vom Juli 1909, der von der spanischen Regierung blutig niederschlagen wurde, verantwortlich gemacht, und infolge dessen am 13. Oktober hingerichtet. (Informationen aus: Brockhaus Enzyklopaedie Online)
Seine Hinrichtung loeste in mehreren europaeischen Laendern Proteste aus. In Genf wurde fuer den Abend des 15. Oktober eine Protestversammlung im Brasserie Handwerck angekuendigt. (Siehe die Zeitung "Le Journal de Geneve" vom 15.10.1909, Nr. 281, 24. Jahrgang) In diesem Saal hielten links gesinnte Gruppen und russische Emigrierte aller politischen Richtungen oft ihre Versammlungen ab, wie es Michail Schischkin in seinem Buch schreibt (S. 60) und wie es auch in den Berichten der Genfer Polizei an die Bundesanwaltschaft steht. (Siehe die Dossiers "Russen in der Schweiz" im Bundesarchiv) Wer genau diese Zusammenkunft veranstaltete laesst sich aus dem Artikel nicht erraten. Da sie in der Zeitung oeffentlich gemacht wurde, kann man jedoch vermuten, dass es sich um Schweizer handelte. Dies wuerde nochmals die Verbindung zwischen Bundisten und Genfer Aktivisten bestaetigen.

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