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Gender Images - Gender Memory

04.03.2010, 10:25

GenderImages ? GenderMemory

Geschlechterverh?ltnisse im sp?tsowjetischen Alltag

Dissertationsprojekt von Aglaia Wespe

Ein Werkstattbericht

Forschungsinteresse -- Die informelle ?ffentlichkeit erkunden
Thema meines Dissertationsprojekts sind Alltag und Geschlechterverh?ltnisse in der Sowjetunion zwischen 1965 und 1989. Ich untersuche, wie Bewohnerinnen und Bewohner st?dtischer Gebiete sich in und zwischen ?ffentlichen und privaten Sph?ren bewegten und problematisiere diese Dichotomie zugleich aus Sicht der Geschlechtergeschichte. Ziel ist es, die Grenzen der Kategorien ?ffentlichkeit und Privatheit in zweifacher Hinsicht auszuloten: Auf einer konkreten Ebene suche ich nach der Bedeutung der beiden Bereiche im sp?tsowjetischen Alltag, auf einer begrifflichen frage ich nach den Grenzen der Einteilung.
Die Arbeit kn?pft an die Kritik der Geschlechterforschung an der traditionellen Geschichtswissenschaft an. Weil die Einteilung ?ffentlich ? privat und andere Schl?sselbegriffe der Moderne bestimmte Teile Gesellschaft diskriminieren, durchleuchten Vertreterinnen der Gender Studies diese Begriffe auf ihre Ein- und Ausschlussmechanismen bez?glich Geschlechts und anderer Kategorien (Butler 2004, Hausen 1998). Das Konzept der informellen ?ffentlichkeit von Viktor Voronkov und Elena Zdravomyslova bildet in meiner Forschung den Ausgangspunkt dazu (Voronkov und Zdravomyslova 2002).
Der Soziologe und die Soziologin schreiben, dass in Russland die Grenze zwischen privater und ?ffentlicher Sph?re anders als in Westeuropa verlaufe. Um die Aufteilung der Bereiche zu fassen, entwickelten sie das Konzept der informellen ?ffentlichkeit. Diese informelle ?ffentlichkeit bildet im sp?tsowjetischen Alltag einen Raum der staatlich nicht kontrollierten Interaktion. Sie kann der privaten Sph?re zugerechnet werden, weil sie Netzwerke von Familie und Bekannten, Subkulturen und Schatten?konomien umfasste, die der Staat vorgeblich nicht wahrnahm. Zugleich hatte der Zwischenbereich ?ffentlichen Charakter, indem er Teil einer m?ndlichen Kultur von Liedern, Gedichten und Gespr?chen war und auch in ?ffentlichem Rahmen von Caf?s, Konzerten oder Ausstellungen sichtbar war. Das informelle Leben wurde durch ungeschriebene Regeln bestimmt, die habituellen Codes. Gleichzeitig existierte ein dem hegemonialen Diskurs angepasstes ?ffentliches und privates Leben; es wurde vom Staat kontrolliert und per geschriebenen Codes reguliert. Das Nebeneinander von geschriebenen und habituellen Codes bestimmte eine Leitnorm, die Zdravomyslova und Voronkov das Prinzip der 'sozialen Schizophrenie' oder 'legitimen Heuchelei' nennen (2002, 60): "The essence of the Soviet hypocrisy is the shared tacit knowledge and practice of double standards that each individual followed. He/she performed according to one set of rules in official kollektivist gatherings, he/she followed another set of rules in informal public and private settings." Voronkov und Zdravomyslowa weisen auf die Notwendigkeit hin, die Codes in ihren unterschiedlichen Auspr?gungen empirisch zu untersuchen. Hier setzt mein Projekt an.

Quellen -- Dokumentarfilme der Leningrader Welle und autobiographische Erinnerung
Ich untersuche, welche Facetten privaten, informellen und ?ffentlichen Lebens in Filmen sichtbar werden, die 1965?1989 am Leningrader Dokumentarfilmstudio gedreht wurden. Die Filme sind aussergew?hnlich, weil sie nicht ausschliesslich die ?ffentlich-offizielle Seite des Sozialismus pr?sentieren. In Folge der gesellschaftlichen und politischen Ver?nderungen Ende 1950er und Anfang 1960er Jahre brach eine neue Generation von Filmschaffenden mit der Vorgabe des Regimes, sie d?rfte nur ?ber Ereignisse und Errungenschaften berichten und stellte das Leben gew?hnlicher Leute in den Mittelpunkt von Spiel- und Dokumentarfilmen (Bulgakowa 1999).
Weil die thematische Neuausrichtung am Leningrader Dokumentarfilmstudio stark pr?sent war, sprechen russische Filmexpertinnen und -experten von der "Leningrader Welle" (Arkus 2001). Die Filme dieser Tradition spiegeln auch Ausschnitte aus dem Leben gew?hnlicher Leute: Eine Strassenbahnfahrerin erz?hlt ?ber ihren Arbeits- und Familienalltag, Museumsbesucher/-innen werden mit versteckter Kamera beobachtet, w?hrend sie in der Eremitage das Gem?lde der Madonna Litta betrachten, oder angehende Schiffsjungen erkl?ren vor der Aufnahmekommission der Marine, weshalb sie Matrose werden wollen. (1) Die Regisseure und Regisseurinnen richteten die Kamera auch in den 70er und 80er Jahren auf unspektakul?re Details des sowjetischen Alltags. Doch nach dem Ende des politischen 'Tauwetters' Anfang der 60er Jahre stiessen sie vermehrt auf die Restriktionen der Zensurbeh?rde. Weil die Filme nicht der Parteiideologie entsprachen, wurden sie kaum aufgef?hrt gerieten in Vergessenheit.
Bei der Interpretation betrachte ich die Filme als politischen und gesellschaftlichen Denken beeinflusste Konstruktionen, die einerseits durch die Produktionsbedingungen in der Sowjetunion, andererseits von der Subjektivit?t und dem pers?nlichen Blick des Regisseurs oder der Regisseurin gepr?gt sind (Schlumpf 1991). Auch wenn die Lenigrader Filme einen st?rkeren Alltagsbezug als Propagandafilme aufweisen, sind sie deshalb als Fiktion zu verstehen, die bestimmte Realit?ten des Sozialismus ausklammern. Wenn ich ausschliesslich die Filme untersuchen w?rde, m?sste ich mich also darauf beschr?nken, die regimekritische Repr?sentation von Wirklichkeit im Film zu analysieren
Um den Konstruktionsweise der Filme auf die Spur zu kommen, wird das Material mit weiteren Perspektiven auf die sp?tsowjetischen Lebenswelten erg?nzt, mit Oral-History-Interviews, die ich mit den Regisseuren der Filme und mit russischen Migrant/-innen in der Schweiz f?hre. Dieses Vorgehen beabsichtigt nicht, die filmische Fiktion mit den Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu kontrastieren, die aufzeigen w?rden, 'wie es wirklich war', denn Erinnerungen sind ebenso wie Filme konstruiert und selektiv. Vielmehr ist das Ziel, aus den Filmen und den Erinnerungen verschiedene Rekonstruktionen des sowjetischen Alltags zu gewinnen und analytisch aufeinander zu beziehen.
Die Interviews mit den Regisseuren fanden im Sommer 2007 statt, in St. Petersburg und Moskau nach Informationen ?ber die Leningrader Dokumentarfilmtradition recherchierte. Nachtr?glich erwies sich, dass die Gespr?che nicht nur f?r die Suche, sondern auch f?r die Analyse der Filme Aufschl?sse gaben. Deshalb entschied ich, die Interviews mit den heute 70- bis 80-j?hrigen Filmemachern als Aussenperspektive mit engem Bezug zum Filmmaterial in die Arbeit einzubinden. Erste Interpretationsergebnisse sind weiter unten im Text aufgef?hrt.
Die Interviews mit den russischen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz, die ich noch nicht erhoben habe, sollen eine weiter entfernte Sicht auf die Filme gew?hrleisten. Vorgesehen ist, Personen mit Jahrgang 1950 und ?lter zu befragen, die zwischen 1965 und 1989 in Leningrad lebten. Im Zentrum der Interviews wird die Vergangenheit der Erz?hlenden stehen. In fokussierten Interviews (2)
werde ich nach der Erinnerung an Ereignisse fragen, ?ber die in den Dokumentarfilmen berichtet wird, beispielsweise an einen Konzertbesuch oder an Feierlichkeiten f?r eine Heldin der Arbeit. Es bietet sich an, dazu ausgew?hlte Filmsequenzen als Erz?hlstimuli zu verwenden.

Fallbeispiel -- Film und Oral History verbinden
Wie der Br?ckenschlag zwischen Film und Erinnerung aussehen k?nnte, l?sst sich am Beispiel des Films Tramvaj idet po gorodu (1973) veranschaulichen. Der Film portr?tiert eine Strassenbahnfahrerin und ihre Passagiere, die mit versteckter Kamera aufgenommen wurden. Aus dem Off ist zu h?ren, wie die Protagonistin ?ber das eigene Leben und jenes ihrer Fahrg?ste sinniert. Bild und Ton wechseln st?ndig zwischen ?ffentlicher, halb?ffentlicher und privater Sph?re hin und her, etwa wenn die Hauptdarstellerin am Ende der Abendschicht beobachtet, wie ein Liebespaar im Tramwagen Z?rtlichkeiten austauscht, es mit der Ansage der n?chsten Haltestelle unterbricht und sich dann ausmalt, was f?r eine romantische Nacht ihre letzten Fahrg?ste vor sich haben. In den Interviews frage ich die Migranten und Migrantinnen mittels der beschriebenen Filmsequenz oder einer entsprechenden Frage (z. B. "Erz?hlen Sie von einer Strassenbahnfahrt?"), welche Erinnerungen sie mit der Nutzung ?ffentlicher Verkehrsmittel verbinden. Ausgehend davon l?sst sich untersuchen, inwiefern die Befragten die Strassenbahn als ?ffentlichen, privaten und geschlechtsspezifisch konnotierten Raum erinnern. Dieses Vorgehen setzt die im Film und in der Erinnerung konstruierten Welten ins Verh?ltnis zueinander, ohne die eine oder andere als realit?tsnaher zu gewichten.
Die Erinnerung der Zeitzeug/-innen und ihre Sicht auf die Filme kann sich insbesondere im Hinblick auf die Geschlechterforschung als interessant erweisen. Sie zeigen auf, inwieweit die Geschlechterverh?ltnisse, die die Befragten erinnern, mit den im Film konstruierten Geschlechterrollen ?bereinstimmen oder divergieren. Die Verbindung ist viel versprechend, weil in Film und Erinnerung unterschiedliche Erz?hl- und Darstellungsweisen zum Tragen kommen und einander erg?nzen. W?hrend die Interviews auf verbaler Ebene von "Geschlecht erz?hlen", stellen die Filme nonverbale und visuelle Aspekte dar. Zudem ist zu erwarten, dass die Filme Erinnerungen ausl?sen, die st?rker von den damaligen Erlebnissen als von ihrer jetzigen Situation gepr?gt sind. Dies erm?glicht die mehrdimensionale Untersuchung der Konstruktion und Bedeutung von Geschlecht in privaten, ?ffentlichen und dazwischen liegenden Lebensbereichen in der Sp?tsowjetunion.

Methode -- Die dokumentarische Interpretation von Bild und Text
Ich werte die Interviews und Filme mit der soziologischen Methode der dokumentarischen Interpretation aus. Diese Methode verortet sich in der hermeneutischen Tradition und wurde in den 20er Jahren von Karl Mannheim entworfen. Ralf Bohnsack und weitere Forschungsgruppen haben sie seit den 80er Jahren aufgegriffen und weiter entwickelt. Die Methode setzt sich zum Ziel, die praktischen Erfahrungen von Einzelpersonen und Gruppen zu rekonstruieren und dadurch Aufschluss ?ber die Handlungsorientierungen und -praxis der Erforschten zu erhalten (Schwiter 2006). In der Regel arbeiten Soziologen und Soziologinnen mit Interviewtexten, weil Erz?hlungen, so die zugrunde liegende Annahme, Aufschluss ?ber den Orientierungsrahmen der erz?hlenden Person geben. Die Methode wird jedoch auch verwendet, um Filme, Fotografien oder Zeichnungen zu interpretieren und die Erfahrungsr?ume aus dem Material der Bildproduzenten zu erschliessen (Bohnsack 2009, 177).
Weil sich die dokumentarische Methode sowohl f?r die Interview- als auch f?r die Filminterpretation einsetzen l?sst, bietet sie sich zur Auswertung meiner Quellen an. Zudem eignet sie sich besonders, um unterschiedliche Vergleichshorizonte, wie sie mit den Dokumentarfilmen und Oral-History-Interviews vorliegen, aufeinander zu beziehen. Die Methode sieht nach der Interpretation eines einzelnen Textes oder Bildes den Arbeitsschritt des Fallvergleichs vor, in dem gefragt wird, wie dasselbe Thema in unterschiedlichen Zusammenh?ngen dargestellt wird (Bohnsack 2009, 21).

Interviewinterpretation -- Die Zensur als Widersacherin und Inspirationsquelle
In diesem Abschnitt sind erste Interpretationsergebnisse aus den Interviews mit den Regisseur/-innen festgehalten. Die Auswertung orientiert sich am Zugang zu lebensgeschichtlichen Interviews von Heiko Haumann und Ueli Maeder (2008) sowie von Gabriele Lucius-Hoene (2004).(3) Es handelt sich um einen Zusammenschnitt aus vier Gespr?chen, eine genau durchdachte Zusammenf?hrung steht noch aus. Fest steht, dass es sinnvoll ist, in der Filmanalyse die Erinnerungen an das Arbeitsumfeld am Leningrader Dokumentarfilmstudio zu ber?cksichtigen, weil diese Hinweise zur Konstruktionsweise der Filme geben. Dies zeigt sich an den Erz?hlungen ?ber die Zensur, einem Thema, das alle Befragten ansprachen. Zum Beispiel erz?hlte Ljudmila Stanjukinas ?ber die Arbeit am Film Diri?iruet Jurij Temirkanov (1974), die Zensurbeh?rde habe ihr verboten, eine kurze Sequenz in den Film aufzunehmen, die den ber?hmten Leningrader Dirigenten w?tend zeigt. Die Zensurbeh?rde verlangte, sie m?sse die Stelle herausschneiden:
"Привожу картину в комитет сдавать начальство. Нет. Это надо вырезать. ЧТО. Он же дискредитирует дирижера. [?] И я плачу два часа, я плачу, он меня етот заместитель министер он мне наливает воду, он меня отпавит. И только я успокоюсь, он опят начинает надо ето вырезать, я говорю нет. И так я выплакываю, не вырезаю." ? "Ich reiche den Film bei den Beh?rden ein. Nein. Das m?ssen sie rauschneiden. WAS. Das diskreditiert den Dirigenten. [?] Ich weine zwei Stunden, ich weine, er dieser Minister schenkt mir Wasser ein. Und kaum habe ich mich beruhigt, f?ngt er wieder an, das muss raus, und ich sage nein. Ich weine, das schneide ich nicht raus." (4)
Die direkte Rede, in der Ljudmila den Ton des Vorgesetzten und ihren Widerstand wiedergibt, l?sst vermuten, dass ihr der Eingriff des Zensors noch heute pr?sent ist. Was die umstrittene Filmpassage betrifft, so sticht sie aus der Gegenwart betrachtet nicht besonders heraus. Dass der kurze Wutausbruch des Dirgenten verboten wurde, zeigt auf, dass die Beh?rden keinerlei Kritik an ?ffentlichen Personen tolerierte. Nicht einmal andeutungsweise durfte eine Schw?che des Stars sichtbar gemacht werden.
Auch andere Regisseure erz?hlen, wie die Beh?rde in ihre Arbeit eingriff und manche Filmssequenzen oder die Auff?hrung eines ganzen Films verbot. Dennoch erinnern sie die Zensur nicht nur negativ. So bef?rwortet Michail Litvjakov, dass seine Vorgesetzten die Berichterstattung ?ber bestimmte Themen verhinderten.
"Дело в том, что когда я снимал свои проблемные фильмы, я хотел сделать такой фильм опасное любопытствo. В этом как раз и была проблема (.) И меня вызвали соответствующие органы безопасности, сказали: 'Михаил Сергеевич, любой фильм, который вы снимаете, он будет (.) рекламой этих проблем. Не знают они и слава богу.' И они были правы. Сейчас, когда показывают, как (..) используют эти наркотики ? это безобразие. Видим всякие телевизионные программы, 'дежурные части', - они всё это показывают и рассказывают, это безобразие, понимаешь. [?] Считаю, что (..) идет такая атака на человечество во всех регионах." ? "Die Sache ist die, als ich meine Problemfilme drehte, wollte ich einen Film mit dem Titel gef?hrliche Neugier machen. Genau das war mein Problem. Sie holten mich in die zust?ndigen Sicherheitsorgane, sie sagten: 'Michail Sergeevi?, was auch immer f?r einen Film Sie drehen, er wird Reklame f?r diese Probleme sein. Sie wissen nichts davon und Gott sei Dank'. Und sie hatten Recht. Heutzutage, wenn sie zeigen, wie man diese Drogen nimmt, das ist ein Skandal. Wir sehen diese Fernsehprogramme zur Hauptsendezeit, sie zeigen alle diese Skandale, verstehst du. [?] Ich finde da findet in allen Bereichen eine Attacke auf die Menschheit statt."
In diesem Zitat wird deutlich, wie nach der Meinung von Michail ?ber Probleme zu informieren sei. Die heutigen Dokumentarfilme empfindet der Regisseur als Attacke auf die Menschheit. Vor dem Hintergrund dieser Situation h?lt er es f?r legitim, manche Probleme zu verbergen, wie dies in Sowjetzeiten gemacht wurde. Interessant ist der fiktive Dialog, den der Regisseur mit den Zensurbeh?rde f?hrt: "Sie sagten, Michail Sergeevi?, was auch immer f?r einen Film Sie drehen, er wird Reklame f?r diese Probleme sein. Sie wissen nichts davon und Gott sei Dank. Und sie hatten recht." Die Zensurbeh?rde erscheint als Instanz, die den Regisseur zwar in seiner beruflichen Freiheit einschr?nkt, dies aber zum Wohl aller Beteiligten tut und damit im Recht ist.
Nikolaj Obuhovi? sagt, die Zensur habe die k?nstlerische Freiheit nicht nur beschnitten, sondern auch gef?rdert, weil sie die Regisseure zwang, die Aussagen der Filme indirekt zu vermitteln:
"И еще очень важная такая мысль по поводу вот этих Ленинградской волны и так далее, этого времени, очень важная вещь. Потому что нельзя было напрямую о чем-то говорить. Надо было обязательно изкровенный? язык. Надо сказать так, вот чтобы, как бы, чтобы начальнику не пришло в голову, не догадался чтобы он, что ты хочешь. А интеллигентный человек, чтобы он понял этот намек." ? "Und noch ein wichtiger Gedanke was die Leningrader Welle angeht, und so weiter, eine sehr wichtige Sache. Man durfte n?mlich nicht direkt ?ber etwas reden. Es brauchte unbedingt eine verschl?sselte Sprache. Man musste etwas so sagen, also so irgendwie so, dass der Vorgesetzte nicht erriet, was du willst. Und so, dass ein intelligenter Mensch den Wink verstand."
Auffallend an dieser Stelle ist der Unterschied, den der Erz?hler zwischen dem Vorgesetzten und einem "intelligenten Menschen" macht. Der Regisseur zeichnet die Gegner seiner Filme als Dummk?pfe, die die Aussage seiner Filme nicht verstanden.
In den Erinnerungen der beiden Regisseure l?sst sich erkennen, wie die Erfahrungen der Gegenwart die Bewertung der Vergangenheit beeinflusste. Michail st?rt sich daran, dass heute gedrehte Filme jegliche Grenzen von Anstand und Sittlichkeit ?berschreiten:
"Они снимают такое реальное кино, фильм. Сестра, продвинутая девушка, садится с камерой напротив пьяной в хлам своей сестры, и это называется кино, они везут на фестивали [...]. И я считаю, если нет цензуры, она должна бы сама цензурить себя. Ты не должен пускать мат. Ну ты, как режиссер, пытаешься свое отношение показать. Самое же простое. Ставлю я себе (.) водки, да? [imitiert Tonfall eines Betrunkenen] Ну я выпиваю, снимаю. Вот такие у нас некоторые продвинутые режиссеры. (..) И всё на продажу, всё на продажу. И отходы покупают западные каналы телевидения. Такое уродство, меня просто воротит, понимаешь (..) кино как искусство не существует. От этого ни ты ни твоя страна ничего не получает." ? "Sie drehen so genannt reale Filme, der Film ? Schwester. Eine m?chtegern-moderne junge Frau setzt sich mit der Kamera zu ihrer stockbetrunkenen Schwester, und das nennt sich Film, sie zeigen das am Festival. [?] Ich finde, selbst wenn es keine Zensur gibt, muss sie dich selbst zensieren, du darfst kein unfl?tiges Vokabular zulassen. Du als Regisseur, ich versuche dir die Einstellung zu zeigen. V?llig primitiv. Ich stell dir einen Vodka hin, ja? Ich trinke aus und drehe. Einige solcher 'moderner' Regisseure gibt's bei uns. Und dieser M?ll wird westlichen Fernsehkan?len verkauft. Weisst du, mir dreht dieser Zerfall schlicht den Magen um."
Nikolaj verurteilt das Vorgehen des Regimes m?glicherweise nicht, weil er damit gross geworden ist und retrospektiv das Sowjetsystem bevorzugt. Als er die sowjetischen und postsowjetischen Arbeitsbedingungen vergleicht, wird deutlich, dass die heutige Freiheit der Filmschaffenden ein Doppelgesicht hat:
"Теперь часто если частное какое-то телевидение, то ничего не требуют от тебя. Тем уже не надо ничего. Просто заставляют тебя делать. Поэтому очень сложно стало работать." ? "Jetzt ist es oft so, wenn einer der Unternehmer eines Fernsehsenders ist, verlangt er nichts von dir. Man l?sst dich einfach machen. Darum wurde es sehr schwer zu arbeiten."
Der Regisseur assoziiert die Freiheit im 21. Jahrhundert nicht mit vielf?ltigen kreativen M?glichkeiten, sondern mit Geldproblemen:
"Сейчас уже [...] нет уже цензуры такой. Надо просто, чтобы тебе дали деньги. А денег никто не дает. Вот и все. Поэтому очень сложно работать нашему брату. Раньше ты не сдавал картину, вот." ? "Etwas wie Zensur gibt es nicht mehr. Man muss dir einfach das Geld geben. Und niemand gibt Geld. Das ist alles. Darum ist es sehr schwierig zu arbeiten. Fr?her konntest du den Film nicht einreichen, ja."
Die Arbeitsbedingungen waren, so Nikolajs Quintessenz, in der Vergangenheit unm?glich, und sie sind es in der Gegenwart. Im Sozialismus waren die Regisseure zwar in ihrer k?nstlerischen Freiheit eingeschr?nkt, doch sie wurden wahrgenommen, wenn auch als potentieller Feind. Die Zensur bedeutete daher nicht nur Restriktion, sondern sie stiftete auch Identit?t und Inspiration.
Interessant sind die Interviews auch im Zusammenhang mit dem Konzept der informellen ?ffentlichkeit. Im der Erinnerung von Peter Mostovoj zeigt sich, wie die Grenze zwischen informeller und offizieller ?ffentlichkeit am Leningrader Filmstudio verschwimmt.
"В основном, если в среднем делали 50 фильмов в год, то 45 были такие коммунистическо-пропагандистские, но некоторое количество, ну очень немногие, делали фильмы человеческие, они тоже понимали, что нельзя делать только пропаганду. Ну, когда ты писал этот синопсис, конечно, там присутствовали всякие слова: ?коммунистическое воспитание?, ?советский человек?, ну такие лозунги, понимаете?" ? "Wenn am Studio 50 Filme pro Jahr gemacht wurden, dann waren 45 solche kommunistischen propagandistischen, aber einige von guter Qualit?t, nun, wenige menschliche Filme machten sie, auch sie begriffen, dass man nicht nur Propaganda machen konnte. Also, wenn sie dir erlaubten einen dieser f?nf Filme zu drehen, und du die Synopsis schriebst, dann brauchte es da nat?rlich gewisse Worte, kommunistische Erziehung, sowjetischer Mensch, solche Losungen, verstehen Sie."
Das Bewilligungsverfahren der staatlichen Filmproduktion f?hrte Peters pers?nlicher Statistik zufolge dazu, dass haupts?chlich Propagandafilme gedreht wurden und ein paar wenige "menschliche" und qualitativ gute. Mit der Unterscheidung der Filmsparten t?nt Peter an, die Mehrheit der Filme sei schlecht gemacht gewesen und habe nichts mit der Lebensrealit?t zu tun gehabt. Im zweiten Satz des Zitats beschreibt Peter, welche informellen Regeln es zu befolgen galt, wenn er einen Film verwirklichen wollte: Teils durfte er seine k?nstlerischen Ideen verwirklichen, wenn er die Sprache der offiziellen ?ffentlichkeit sprach.

Informelle ?ffentlichkeit im Film
?ber die Filme ?ussere ich mich in diesem Text nicht ausf?hrlich, weil ich mit der Interpretation am Anfang stehe. Bis jetzt wurde klar, dass die Thematik der offiziellen und informellen ?ffentlichkeit und Privatheit in den bisher gesichteten Filmen wiederholt aufscheint. So zeigt Nikolaj Obuhovi? im Film Na?a mama ? geroj (1979) die Protagonistin nicht nur an Parteianl?ssen, sondern auch, als sie von der Nachtschicht nach Hause kommt und vor Ersch?pfung weint. Die Zensurbeh?rde verbot den Film und gab ihn erst 1989 frei, was belegt, dass die Berichterstattung ?ber Bereiche jenseits der offiziellen ?ffentlichkeit nicht gestattet war. Dass Nikolaj und andere Regisseure Ausschnitte aus dem privaten und informell ?ffentlichen Leben zeigten und damit einen Blick hinter die Fassaden des offiziellen Sozialismus warfen, galt als Kritik am Regime. Es f?llt auf, dass die informelle ?ffentlichkeit in den Filmen meist als m?nnlich konnotiert erscheint. Daher fragt sich: Tangierte die Regimekritik der Filme auch die Einordnung m?nnlich gleich ?ffentlich versus weiblich gleich privat? Die vorl?ufige Antwort lautet, dass die Filme in weiten Teilen traditionelle Geschlechtermuster darstellen. M?nner sind in der offiziellen und informellen ?ffentlichkeit zu sehen, Frauen werden privaten Bereichen von Familie und M?tterlichkeit zugeordnet. In der weiteren Interpretation der Filme m?chte ich der Frage nachgehen, ob und wie die Quellen die Geschlechterstereotypen und/oder die Dichotomie von ?ffentlich und privat durchbrechen.

Fragen an die Leserinnen und Leser
Ich freue mich ?ber Diskussionsbeitr?ge zu allen Aspekten des Werkstattberichts, doch besonders intessieren mich R?ckmeldungen zu folgenden Fragen:
? Wie beurteilen Sie das Vorgehen, Dokumentarfilme mit Oral-History-Interviews in Bezug zu setzen?
? Neulich sagte eine Politikwissenschaftlerin im Gespr?ch ?ber mein Projekt, der Begriff der informellen ?ffentlichkeit sei ihr sehr suspekt. Sie bezweifelte, ob es in der Sowjetunion staatsfreie R?ume gegeben habe. Wie beurteilen die Leser und Leserinnen das Konzept der informellen ?ffentlichkeit?
? Welche Ideen, Hinweise, Einw?nde gibt es zur Interpretation der Interviews mit den Regisseuren und Regisseurinnen?

Literatur
Arkus Ljubov (Hg.): Novej?aja istorija ote?estvennogo kino 1986-2000, Sankt Peterburg 2001, 3 Bde.
Bohnsack Ralf: Qualitative Bild- und Videointerptetation, Opladen 2009.
Bulgakowa Oksana: Der Film der Tauwetterperiode, in: Engel Christine (Hg.): Geschichte des russischen und sowjetischen Films, Stuttgart 1999, S. 109?181.
Butler Judith: The end of sexual difference? In: Dies.: Undoing gender, New York 2004, S. 174?203.
Haumann Heiko, Ueli M?der: Erinnern und Erz?hlen. Historisch-sozialwissenschaftliche Zug?nge zu lebensgeschichtlichen Interviews. Unver?ffentlichter Artikel, Basel 2008.
Hausen Karin: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anst?ssigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Medick Hans et al. (Hg.): Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. G?ttingen 1998, 17?55.
Helfferich Cornelia: Die Qualit?t qualitativer Daten. Manual f?r die Durchf?hrung qualitativer Interviews, Wiesbaden2 2005.
Lucius-Hoene Gabriele, Depperman Arnulf: Rekonstruktion narrativer Identit?t. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Wiesbaden2 2004.
Schlumpf Hans-Ulrich Warum mich das Graspfeilspiel der Eipo langweilt, in: Daniel Dall?Agnolo et al. (Hg.): Ethnofilm. Katalog, Beitr?ge, Interviews, Bern 1991, S. 205?220.
Schwiter Karin: Dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack. Arbeitspapier Graduiertenkolleg Gender in Motion, Universit?t Basel 2006.
Voronkov Victor, Zdravomyslova Elena: The informal public in Soviet Society: double morality at work - Part II: Post-Communist Understanding of the Public and Private, in: Social Research Spring 2002/69, S. 49-69.

Film
Boronin Viktor (Reg.): A zavtra v more [Und morgen ans Meer]. Leningrad 1969, 18 min.
Kogan Pavel (Reg.), Mostovoj Peter (Kamera): Vzgljanite na lico [Schaut auf dieses Gesicht]. Leningrad 1966, 10 min.
Obuhovi? Nikolaj (Reg.): Na?a mama ? geroj [Unsere Mutter ist Heldin der Arbeit]. Leningrad1979, 46 min.
Stanjukinas Ljudmila (Reg.): Tramvaj idet po gorodu [Die Strassenbahn f?hrt durch die Stadt]. Leningrad 1973, 21 min.
Stanjukinas Ljudmila (Reg.): Diri?iruet Jurij Temirkanov [Es dirigiert Jurij Temirkanov]. Leningrad 1974, 19 min.

Kurzbiographie der interviewten Regisseur/-innen
Michail Litvjakov (*1931) machte die Ausbildung zum Regisseur am Moskauer 'Staatlichen Allunionsinstitut f?r Filmkunst' (Vsesojusnyj gosudarstvennyj institut kinoiskusstva). Ab 1964 arbeitete er am Leningrader Dokumentarfilmstudio, die erste Arbeit war sein Diplomfilm Ve?nyj boj (Ewiger Kampf) ?ber den Dienst eines Notfallarztes. 1989 initiierte Litvjakov das Dokumentarfilmfestival Poslanie k ?eloveku / Message to man. Seither hat er als Direktor des Festivals u. a. die schwierige Aufgabe, mit Hilfe von Staat und Sponsoren die Finanzierung des Festivals zu sichern.
Petr Mostovoj (ca. *1940) studierte am elektrotechnischen Institut in Leningrad Physik und arbeitete w?hrend f?nf Jahren als Physiker. In dieser Zeit drehte er als Amateur ?ivaja voda (Lebendiges Wasser) und erhielt dank des Films eine Anstellung als am Leningrader Dokumentarfilmstudio. 1966 war Peter Kameramann von Schaut auf dieses Gesicht, einer jener Arbeiten, die die Leningrader Filmtradition begr?ndete. Sp?ter verwirklichte er als Regisseur eigene Filme. Anfang der neunziger Jahre leitete Peter das Kinostudio Risk in Moskau, bis er 1993 nach Israel auswanderte, wo er als freischaffender Regisseur t?tig ist.
Nikolaj Obuhovi? (*1936) studierte in Leningrad am Institut f?r Theater, Musik und Kinematographie. Ab 1959 arbeitete er als B?hnenbildner, dann als Kameramann am Leningrader Dokumentarfilmstudio. Seit er 1970 er einen Weiterbildungskurs f?r Drehbuchautoren und Regisseure besucht hat, war er Regisseur am Leningrader, sp?ter St. Petersburger Dokumentarfilmstudio.
Ljudmila Stanjukinas (*1930) arbeitete nach ihrer Ausbildung am Herzen-Institut in Leningrad zwei Jahre als Lehrerin in der Republik Komi. 1958 wurde sie als Assistentin des Produzenten Ejfman U?itel am Leningrader Dokumentarfilmstudio angestellt, acht Jahre sp?ter drehte sie den ersten eigenen Film ?ber eine Jugendtheatergruppe. Ljudmila lebt seit Anfang der neunziger Jahre in Jerusalem. Ihr Ehemann Pavel Kogan (1931?1992) war ebenfalls Regisseur am Dokumentarfilmstudio.

Kurzbiographie der Autorin
Aglaia Wespe, aufgewachsen in Luzern, studierte 1998?2004 Europ?ische Ethnologie und Geschichte an der Universit?t Basel. Seit 2005 arbeite sie an einem Dissertationsprojekt, das von Heiko Haumann betreut wird. 2005?2008 nahm sie am Graduiertenkolleg Gender in Motion. Wandel und Persistenz in Geschlechterbeziehungen der Universit?t Basel teil und verbrachte 2007 viermonatigen Forschungsaufenthalt in St. Petersburg und Moskau. Seit 2009 wird das Dissertationsprojekt vom Schweizerischen Nationalfonds gef?rdert.

1. Tramvaj idet po gorodu (1974), Vzgljanite na lico (1966), A zavtra v more (1969). Mehr Angaben zu den Filmen stehen am Ende des Texts.
2. Der Begriff bezeichnet in der qualitativen Forschung eine Interviewform, in der Forschende einen Reiz als Erz?hlstimulus einsetzen. Im ?brigen verl?uft das Gespr?ch wie andere halb-strukturierte Interviews nach einem Leitfaden, in dem die Fragen festgehalten sind (Helfferich 2005, 24).
3. Ich ging nicht von der im vorigen Abschnitt skizzierten dokumentarischen Methode aus, weil ich erst vor kurzem darauf aufmerksam wurde.
4. Ich nahm Interviews mit den RegisseurInnen auf Mini-Disc auf und transkribierte sie anschliessend. Die Punkte in runden Klammern und gelb unterlegte Stellen markieren Worte oder Teils?tze, die ich aufgrund mangelnder Sprachkenntisse teils nicht verstanden habe. Vermutungen, was in den L?cken stehen k?nnte, nehme ich gerne entgegen.

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