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Archive - Gender Images - Gender Memory - Comments

Basel - 21.01.2010 15:54
Protokoll zur Diskussion von Aglaia Wespes Dissertationsprojekt
Basel, im Dezember 2009


Im Dezember 2009 haben wir in Basel in der ?Arbeitsgemeinschaft f?r j?dische und osteurop?ische Geschichte? das Dissertationsprojekt von Aglaia Wespe anhand des von ihr geschriebenen Textes diskutiert. Aglaia war bei der Diskussion anwesend und hat auch einen Filmausschnitt aus ?Tramvaj idet po gorodu? gezeigt, in dem eine Strassenbahnfahrerin ?ber ihren Alltag erz?hlt.

Die Diskussion des Textes erwies sich als ?usserst ergiebig und kann aufgrund von drei Hauptstr?ngen zusammengefasst werden:

In einer ersten Richtung gingen viele Fragen, die sich mit den Dokumentarfilmen und den Regisseuren und Regisseurinnen besch?ftigten. So pl?dierte eine Teilnehmerin f?r eine st?rkere Verbindung zwischen Oral History und den Filmen, gab allerdings zu, dass diese Verbindung f?r die Forscherin eine Grauzone hinterlasse, die mit anderen Mitteln zu beheben sei. Ankn?pfend an das Stichwort der Oral History wurde angemerkt, dass nicht nur die Interviews mit den Filmschaffenden, sondern auch die Interviews mit den Russen und Russinnen in der Schweiz kritisch betrachtet werden sollten. So sei die Ausgangsfrage nach dem Erleben des Alltags in der Sowjetunion f?r die Interviewten mit anderen Erwartungen verkn?pft als diejenigen der Interviewerin. Wichtig sei, was sich im Erinnerungsprozess vollziehe und welche Assoziationen durch die von den Filmen angesprochene Thematik gekn?pft w?rden. Zudem k?nnen auch die Interviews ?ber den Alltag in der Sowjetunion Aufschluss geben.
Eine Teilnehmerin brachte den Vorschlag ein, auch andere Filme (?Moskva?) als Vergleich beziehungsweise Anschauungsmaterial hinzuzunehmen. Diese seien bekannter gewesen und es w?re dadurch leichter, an die Erinnerung der Befragten anzukn?pfen. Dokumentarfilme h?tten durch ihre Gattung den Anspruch, Ausschnitte des Alltagslebens zu wiedergeben, diese Dokumentarfilme aber wirken konstruiert, wie Erik Petry bemerkte.
Die in der Schweiz lebenden Russinnen und Russen assoziieren die Filme nicht mit ihrem eigenen Leben, sondern betrachten die gezeigten Szenen als Propaganda, erz?hlte Aglaia Wespe. Somit sei es ihr auch ein Anliegen, die Kluft zwischen Film und Wirklichkeit zu thematisieren und fruchtbar zu machen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stimmten ihr dabei zu und ermunterten sie, den Erinnerungsprozess selbst zu thematisieren und herauszufinden, wie dieser stattfindet.

Ein zweiter Themenblock besch?ftigte sich mit der Geschlechterproblematik und mit der Frage, wie die Autorin damit umgeht beziehungsweise auf welcher Art und Weise dies in den Interviews ausgearbeitet werden soll. Wie wird gefragt, um mehr dar?ber herauszufinden und wo wird die Grenzen zwischen traditionell und fortschrittlich gesetzt? Solche Analysekategorien seien allerdings nicht nur auf die Sowjetunion zu beschr?nken.

Der dritte Themenblock drehte sich um die schon von Christian Teichmann in seinem Kommentar kritisierte Problematik von ?ffentlichkeit und Privatheit, beziehungsweise der ?informellen ?ffentlichkeit?. Diese Kategorien seien f?r den osteurop?ischen Raum anders zu definieren; eine sinnvolle Unterscheidung sei zum Beispiel zwischen ?staatlich kontrolliert? und ?nicht staatlich kontrolliert?. Die Bildung und demzufolge auch die Arbeit mit dem Konzept einer informellen ?ffentlichkeit sei durchaus legitim und gewinnbringend. Es stellt sich nur die Frage, wie und ob dieses tats?chlich anhand der Filme fruchtbar gemacht werden k?nne.

Zusammenfassend fanden alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kollquiums, dass Frau Wespe ein ?usserst interessantes und ergiebiges Projekt vorhabe. Kritisch wurde aber bemerkt, dass einige Unklarheiten bez?glich der praktischen Ausf?hrung des Projekts bleiben, vor allem bez?glich der Geschlechteranalyse.
Au?erdem sollte beachtet werden, dass Leningrad/ St. Petersburg im sowjetischen Vergleich eine Stadt gewesen ist, in der man eher ?frei atmen? konnte und deswegen die Ergebnisse nicht auf die ganze Sowjetunion ausgeweitet werden k?nnen.
Zudem stelle sich die Frage, ob die Quellen, die verwendet werden, f?r die Beantwortung der Fragestellung des Projekts ausreichend seien oder ob nicht auch andere Quellen hinzugezogen werden k?nnten, beispielsweise um die Frage nach Geschlechterverh?ltnissen oder andere offen gebliebene Fragen zu beantworten.
































Basel - 21.12.2009 20:25
Liebe TeilnehmerInnen des virtuellen Seminars,
herzlichen Dank f?r die genaue Lekt?re des Berichts ?ber mein Dissertationsprojekt und Ihre Kommentare. In meiner Reaktion greife ich einige Diskussionspunkte auf, die ich f?r die Weiterentwicklung des Projekts spannend finde.
Freundliche Gr?sse aus Basel, Aglaia Wespe

Die Nischen jenseits staatlicher Kontrolle
Viele SeminarteilnehmerInnen beziehen sich auf die Bedeutung offizieller und (halb)?ffentlicher Kommunikationsr?ume in der Sowjetunion. Die meisten erachten den Erkl?rungsansatz der informellen ?ffentlichkeit von Elena Zdravomyslova und Viktor Vorkonkov (2001) als zu wenig differenziert und verweisen auf ein weites Spektrum wissenschaftlicher und literarischer Texte zum sp?tsowjetischen Alltag. Ich ziehe die genannten Publikationen gerne als Vergleichshorizont f?r die Film- und Interviewanalyse in Betracht. F?r dieses Vorgehen finde ich die von Christian Teichmann formulierten Fragen nach dem Verh?ltnis zwischen pers?nlichen Aussagen und staatlich ?ffentlicher Politik hilfreich. Die Dokumentarfilme und Erinnerungen stehen im Interpretationsprozess im Vordergrund. Dass es im Projekt nicht darum geht, die Quellen mit Theorien zur sowjetischen ?ffentlichkeit 'abzugleichen', verdeutlichte die Projektdiskussion im Kolloquium der Basler Arbeitsgemeinschaft zur j?dischen und osteurop?ischen Geschichte und Kultur.

Die Methoden der Visuellen Anthropologie
Einen guten Denkanstoss gibt der Hinweis auf die Projekte der "visuellen Geschichte" in ?eljabinsk von Igor Narskij. Allerdings bildet meine Arbeit ein spezieller Fall. Abgesehen von den RegisseurInnen kennen die Interviewten die Dokumentarfilme nicht, w?hrend die visuelle Anthropologie in der Regel Fotos oder Filme verwendet, die den Befragten vertraut sind (Bohnsack 2009, Rose 2006). Wie Larisa Konovalova anmerkt, haben die Russen und Russinnen in der Schweiz zweifellos eine spezifische Perspektive auf die Filme und ihre Vergangenheit. An der Tatsache, dass die Filme kaum bekannt sind, w?rde sich aber nichts ?ndern, wenn ich Personen in St. Petersburg befragen w?rde. Eine Folge der r?umlichen und zeitlichen Distanz zwischen den Filmen und den MigrantInnen k?nnte sein, dass die individuelle Erinnerung im Vergleich zu andern Forschungen der visuellen Geschichte weniger Gewicht hat.
Die seit 1980er Jahre in der Schweiz lebenden RussInnen, die ich diesen Herbst interviewte, erz?hlten kaum pers?nliche Erinnerungen. Obwohl ich ausdr?cklich nach Begebenheiten aus ihrem Leben fragte, blieben die Gespr?che bei der Frage, ob die Filme eine realistische Darstellung der damaligen Wirklichkeit zeigen. Die Befragten positionierten sich nicht als ExpertInnen f?r ihre individuelle, sondern f?r eine kollektive Erinnerung an die Vergangenheit. Vielleicht veranlassten die Dokumentarfilme deshalb nicht zum Erz?hlen der eigenen Lebensgeschichte, weil zwischen den Filmen und den Lebensgeschichten der Befragten nur eine kleine Ber?hrungsfl?che besteht, obwohl sie in Leningrad lebten, als die Filme entstanden sind.

Die Interviews mit den RegisseurInnen
Wie die Zitate in meinem Projektbericht zeigen, erz?hlten auch die befragten RegisseurInnen kaum pers?nliche Erinnerungen. Dies k?nnte daran liegen, dass ich in den Interviews nicht die richtigen Fragen stellte, wie Igor Narskij annimmt. Doch ein Interviewprojekt, das eine internationale Gruppe von SoziologInnen in Sankt Petersburg durchf?hrte, deutet auf eine weitere m?gliche Erkl?rung hin (Oswald und Voronkov 2005). Den Forschenden fiel auf, dass viele Narrative lediglich bereits sanktionierte Meinungen zu einem Thema wiedergaben. Pers?nliche biographische Erz?hlungen erhielten nur Personen, die zum sozialen Netz der InformantInnen selbst geh?rten oder die durch einen Vermittler Zugang zu einem 'Privatbereich' erhalten hatten (ebd.). Wenn diese Kommunikationsgrenze auch f?r die RegisseurInnen gilt, erkl?rt dies, weshalb die Befragten ?ber bestimmte Aspekte ihres Alltagslebens schwiegen: Ihre pers?nliche Biographie war im Gespr?ch mit einer Nicht-Russin und Vertreterin der Wissenschaft, einer offiziell ?ffentlichen Sph?re, nicht erz?hlbar. Demnach sagt das Schweigen ?ber biographische Themen etwas ?ber die Grenzen von privatem, offiziellem und informell ?ffentlichen Leben aus.
Ein weiterer Kommentar ?ber die Interviews lautet, es mache keinen Sinn, die RegisseurInnen zu befragen, weil sie beliebige Aussagen ?ber ihre die Schwierigkeiten der Vergangenheit machen w?rden. Diesem Argument zufolge verstellt die Verbitterung der Regisseure ?ber einstige und gegenw?rtige Schwierigkeiten den Blick auf die damaligen Arbeitsbedingungen. Dieser Standpunkt widerspricht grundlegenden Annahmen der Oral History, die als Richtschnur f?r die Interviewanalyse dienen. Eine zentrale Frage der Oral History lautet, inwiefern erz?hlte Erinnerung von sp?teren Einfl?ssen ?berlagert und gepr?gt wird. Deshalb verstehe ich den "moralischen Ton", der Julija Chmelevskaja irritiert, nicht als St?rfaktor, sondern als Erfahrung, die die Konstruktion der Lebensgeschichte mitbestimmt.

Die Perspektive der Geschlechtergeschichte
Die Erl?uterungen zum Verh?ltnis der Allgemeinen und der Geschlechtergeschichte zu Beginn meines Texts haben offensichtlich zu zwei Missverst?ndnissen gef?hrt. Es geht mir gerade nicht darum, ?ffentlich und privat als m?nnlich und weiblich festzulegen, wie Aleksandr Fokin aus meinem Text schliesst, und ich kenne die Bandbreite von Studien ?ber die Geschlechterverh?ltnisse in der Sowjetunion, von denen Christian Teichmann einige erw?hnt. Doch parallel dazu existieren auch 'geschlechterblinde' Forschungen einer traditionellen Geschichtsschreibung. Sie gestalten mit konzeptionellen Einteilungen in Privatheit und ?ffentlichkeit, in Natur und Kultur, in Emotionalit?t, in das Besondere und das Allgemeine hierarchische Geschlechterverh?ltnisse (Hausen 1998). Die Einteilungen verleihen m?nnlich konnotierten Bereichen Gewicht und marginalisieren Frauendom?nen in Gesellschaft und Politik als Randbereiche. Ausgehend davon m?chte ich einen Beitrag dazu leisten, mit Hilfe von weniger hierarchisierend ausgelegten Prinzipien Geschichte zu schreiben.
Verschiedene Kommentare nehmen eine Diskrepanz zwischen diesem Anliegen und dem Umgang mit den Quellen wahr, konkret wird die Geschlechterperspektive in den Aussagen der RegisseurInnen vermisst. Ich nehme den Anstoss gerne auf, die Geschlechterperspektive in den Interviews und den Dokumentarfilmen deutlicher hervorzuheben. Zugleich m?chte ich genauer erkl?ren, weshalb die Geschlechterfrage in den beschriebenen vorl?ufigen Resultaten eine Nebenrolle hat. Ich hatte bewusst darauf verzichtet, die Erfahrungen der Regisseure 'als Mann' oder der Regisseurin 'als Frau' anzusprechen. Der Entscheid geht auf Diskussionen im Graduiertenkolleg Gender in Motion. Wandel und Persistenz in den Geschlechterverh?ltnissen zur?ck. Wir gingen wiederholt auf die Frage ein, wie die Kategorie Geschlecht in qualitativen Interviews thematisiert werden kann. Explizite Fragen nach den Geschlechterrollen, so unser Fazit, zementieren in vielen F?llen die Unterschiede zwischen M?nnern und Frauen. Deshalb ist es wichtig, Geschlecht im Zusammenhang mit anderen Kategorien zu situieren. So gesehen ist es ein interessantes Ergebnis, wenn die Generation f?r die RegisseurInnen relevanter ist als das Geschlecht.
Galina Jankovskajas Frage, inwiefern M?nner in den Filmen "schauen" und Frauen "gezeigt werden" finde ich wichtig, aber methodisch schwierig zu beantworten. Wenn ich beispielsweise die Filme der Regisseurin Ljudmila Stanjukinas als Spezialfall eines "weiblichen Blicks" betrachte, kann dies Aufschl?sse ?ber das Doing gender auf beiden Seiten der Kamera geben. Gleichzeitig birgt dieser Analysefokus die Gefahr, Stereotypen von M?nnlichkeit und Weiblichkeit zu reproduzieren: Die Frage nach einem geschlechtsspezifischen Filmschaffen bringt einen Balanceakt zwischen dem Aufsp?ren und dem Festschreiben von Geschlecht mit sich.
?hnliches trifft f?r Galina Jankovskajas Idee zu, die Geschlechter- und Machtverh?ltnissen bei der Filmproduktion in den Blick zu nehmen. Am Dokumentarfilmstudio bildeten Regisseurinnen und Kamerafrauen eine Ausnahme. Die einzige von mir befragte Filmemacherin hatte keinen Ausbildungsplatz der an der staatlichen Kinoschule (Vserosijskij gosudarstvennyj institut Kinoistkusstvo VGIK) erhalten. Doch dies gilt auch f?r verschiedene Dokumentarfilmregisseure. So erz?hlte Petr Mostovoj, man habe ihm nach bestandener Aufnahmepr?fung das Studium an der Filmakademie wegen seiner j?dischen Nationalit?t verwehrt. Wie das Beispiel verdeutlicht, l?sst sich auch bei der Entstehung der Filme die Kategorie Geschlecht nicht isoliert betrachten.

Ausblick
Im n?chsten Arbeitsschritt analysiere ich den Film Tramvaj id?t po gorodu von Ljudmila Stanjukinas im Zusammenhang mit den Interviews und mit wissenschaftlicher Literatur zum sp?tsowjetischen Alltag. Die Frage, wie ich die breit gef?cherten Aspekte der Arbeit aufeinander abstimme, wird mich begleiten. Ich freue mich, auf der Suche nach m?glichen L?sungen die gewinnbringende Kritik aus unserer Diskussion einbeziehen zu k?nnen.

Bibliographie
Bohnsack Ralf: Qualitative Bild- und Videointerpretetation. Opladen 2009.
Hausen Karin: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anst?ssigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Medick Hans et al. (Hg.): Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. G?ttingen 1998, 17?55.
Oswald Ingrid, Voronkov Viktor: Licht an, Licht Aus! "?ffentlichkeit" in der (post-)sowjetischen Gesellschaft. In: Gabor T. Rittersporn et al. (Hg.): Sph?ren von ?ffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Frankfurt a. M. 2003, S. 37?61.
Rose Gillian: Visual methodologies. An introduction to the interpretation for visual materials. London 2006.
Voronkov Victor, Zdravomyslova Elena: The informal public in Soviet Society: double morality at work - Part II: Post-Communist Understanding of the Public and Private, in: Social Research Spring 2002/69, S. 49-69.
Graduiertenkolleg Gender in Motion. Wandel und Persistenz in den Geschlechterverh?ltnissen (2005?2008): http://www.gendercampus.ch/d/Studies/05/default.aspx

Christian Teichmann - 11.11.2009 10:33
Den Werkstattbericht habe ich mit Interesse gelesen. Dass der Nationalfonds das Projekt unterst?tzt, ist eine gute Sache. Nach der Antragsphase besteht nun die M?glichkeit, das Projekt als Dissertation handhabbar zu machen. Beim Lesen des Textes f?llt auf, dass es sehr viele theoretische Vorannahmen gibt, die f?r einen Antrag an eine F?rderorganisation wichtig sind, die aber gleichzeitig die Pr?zisierung der Fragestellung und des Forschungsprogramms f?r die Dissertation unn?tig komplizieren. Im Anschluss an den Kommentar von Galina Jankovskaja m?chte ich einige dieser grunds?tzlichen Annahmen im folgenden hinterfragen:
Geschlechtergeschichte: Meiner Ansicht nach besteht der Widerspruch, der am Beginn des Papers zwischen ?Geschlechtergeschichte? und ?traditioneller Geschichtswissenschaft? behauptet wird, schlichtweg nicht. Sowohl in der allgemeinen Geschichtswissenschaft als auch in der Osteurop?ischen Geschichte sind Geschlechterrollen und Familienalltag seit langem fest verankerte Themen. Dies gilt auch f?r die Sowjetunion. Schon in den f?nfziger und sechziger Jahren beschrieben europ?ische und amerikanische ?Sowjetologen? die Familienverh?ltnisse, das Alltagsleben und die geschlechtliche Arbeitsteilung in der UdSSR (Harvard Interview Project, Klaus Mehnert). W?hrend der Perestroika gab es einen enormen Aufschwung in diesem Forschungsbereich, der vor allem von westeurop?ischen Feministinnen angesto?en wurde. In Russland selbst gab und gibt es eine Reihe herausragender Forscherinnen und Schriftstellerinnen, die Geschlechterverh?ltnisse und das Zusammenleben der Familien auf das genaueste kartographierten (Ludmilla Petruschewskaja). Davon ist die Literaturwissenschaft nicht unber?hrt geblieben und viele Dissertationen und Forschungsprojekte in diesem Bereich haben schon Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang von ?Geschlechterverh?ltnissen? und ?Alltag? in der sp?ten Sowjetunion gesucht. Hierf?r spielte der Film als Quelle und ??ffentliches? Medium eine herausragende Rolle (Vgl. SSSR ? Territorija ljubvi. Moskau: Novoe izdatel?stvo, 2008).
?ffentlichkeit und Privatsph?re: Ein grundlegender logischer Widerspruch des Projekts besteht in der Art und Weise, wie es sich dem Thema ?Privatsph?re/?ffentlichkeit? ann?hert. Der Streit dar?ber, ob, und wenn wie, eine ??ffentlichkeit? in den sozialistischen Staaten existierte, ist eine alte Debatte (Vgl. Sph?ren von ?ffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten. Frankfurt/Main: Lang, 2003). Wenn es das Erkenntnisinteresse des Projekts ist, die Grenzen zwischen dem politisch definierten Raum der Kommunikation und der ?nicht staatlich kontrollierten Interaktion? zu bestimmen, erschwert und verstellt ein vorgefertigtes Konzept wie ?informelle ?ffentlichkeit? den Zugang zum Forschungsgegenstand. Denn es wird etwas postuliert, was im Projekt erst anhand des gew?hlten Quellenkorpus herausgefunden werden soll. Zudem gab es, wie im Werkstattbericht angemerkt, eine gro?e ?graue? Sph?re zwischen den beiden dichotomischen Polen ??ffentlich ? privat?. Das schwierige Problem, dass es dabei genau zu bestimmen gilt, ist jedoch die Rolle des ?Politischen?: Wann und warum wurden ?private? ?u?erungen politisch und damit ??ffentlich? (Rolle der Partei und der Medien, des Geheimdienstes und der Dissidenten)? Warum war die Implementierung staatlicher ??ffentlicher? Politik so oft Verhandlungssache und wurde damit ?privatisiert? (Rolle der Zensur, Einfluss von Patronagenetzwerken in Politik und Wirtschaft)? Nicht zuletzt wegen solcher Fragen kann man sich dem Problem der ??ffentlichkeit? im Sozialismus wohl nur ironisch ann?hern. Stephen Kotkin hat das in seinem neuen Buch vorgemacht, dem er den treffenden Titel ?Uncivil Society? gab.
Alltag: Wenn man etwas ?ber den sowjetischen Alltag und die Rolle, die Beziehungen zwischen Frauen und M?nnern hier spielten, herausfinden will, ist es eine m?gliche Zugangsweise, sich Dokumentarfilme anzuschauen, die von den Mitgliedern einer staatlich subventionierten staatskritischen intellektuellen Subkultur in Leningrad gedreht wurden. Doch w?re es nicht viel einfacher, bei den Lebensgeschichten und den Alltagsorten selbst zu beginnen? Gerade die Generation der ?schestidesjatniki? erz?hlt gern und reflektiert ?ber ihr Leben, ihr Arbeiten und ihr Lieben im sowjetischen Sp?tsozialismus. Viele haben auch schon Interviews gegeben und Historiker wie Donald Raleigh und Alexei Yurchak haben aus diesem Material sch?ne B?cher gemacht. Seit den sechziger Jahren waren es wiederum die Schriftsteller und Filmregisseure, die das beste Anschauungsmaterial zu diesem Thema geliefert haben (Wassili Schukschin, Valentin Rasputin, Andrej Bitow).
Auch wenn man die ?einfachen Leute? (?Migranten?) befragt, werden sie von den beengten Wohnungen und der Freiheit der Datschen, fr?hen Heiraten und komplizierten Familienverh?ltnissen, Trinkgelagen und Fremdgehen, Schlagestehen und Schwarzmarkt viel zu erz?hlen haben. Warum hier Filme von Intellektuellen als Ausgangspunkt f?r Interviews (?Erz?hlstimuli?) gew?hlt werden sollen, erschlie?t sich nur, wenn man die konstruktivistischen Pr?missen des Forschungsprojekts teilt (?verschiedene Rekonstruktionen des sowjetischen Alltags zu gewinnen und analytisch aufeinander zu beziehen?). Es fragt sich, ob durch den konstruktivistischen Zugang zu Erz?hlungen, Erlebnissen und Erinnerungen nicht das eigentliche Erkenntnisinteresse des Projekts zu sehr aus dem Blickfeld ger?t. Zudem fragt sich, wie die Logik des Konstruktivismus ?berhaupt mit der hermeneutischen Tradition der Interpretation zusammengebracht werden kann. Die ganze Versuchsanordnung wirkt k?nstlich, ohne dass die m?glichen Vorteile der komplizierten Methodik und ihre Ziele klar werden.
Film: Nach all der Kritik an dem vorgestellten Projekt m?chte ich ebenfalls einen ?konstruktiven? Vorschlag machen. Meiner Meinung nach w?re es am interessantesten, die Filme und Regisseure der ?Leningrader Welle? in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen. Die in den Interviews mit den Filmemachern geschilderten Szenen sagen ja schon sehr viel ?ber die Themen aus, die ohnehin im Vordergrund stehen sollen (?i tak ja vyplakivaju?). Offenbar handelt es sich bei den Regisseuren und Kameraleuten um eine eng verbundene Gruppe, die ?ber Jahre zusammengearbeitet und in ihren Situationsbewertungen und Urteilen auch heute noch eine gro?e N?he hat. W?re es also nicht das beste, sich die Filme genau anzusehen, Publikumsreaktionen und Zensurpraktiken (wie im Text demonstriert) zu erforschen und lebensgeschichtliche Tiefeninterviews zu machen? Man kann die Regisseure dann nach ihren Familien, ihren Erfolgen und Misserfolgen, ihrem k?nstlerischen Schaffen und ihrem ?Privatleben? genau befragen. Somit w?rde man ein vielseitiges und doch ?berschaubares Sample erhalten, mit dem man gut arbeiten k?nnte. Da die Mitglieder dieser Gruppe und ihr Umfeld in den sechziger und siebziger Jahren und vielleicht noch einmal in der Perestroika ihre beste Zeit hatten, kann das Projekt sein Ziel so mit einfachen Mitteln erreichen und dabei gleichzeitig viel unn?tigen konzeptuellen Ballast abwerfen.
Gutes Gelingen und viel Erfolg!

URC FREEnet

coordinators of the project: kulthist@chelcom.ru, webmaster: