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Der Umgang mit der Erfahrung von Kriegsgefangenschaft in Russland waehrend und nach dem Ersten Weltkrieg.

11.03.2005, 15:06

O. Nagornaja

Die Erinnerungen an die Gefangenschaft als Instrumentalisierungsmittel fuer die Erfahrungen des totalen Krieges. Der Erste Weltkrieg in der oeffentlichen Kommunikation Russlands[1].

Zu einem zentralen Thema bei Erforschung der nichtmilitaerischen Aspekte des 1. Weltkrieges wurde in den letzten Jahren die Frage, wie die Macht und die Gesellschaft die Erfahrungen des totalen Krieges als Kontroll- und Disziplinierungsmodell fuer die einzelnen Gruppen und fuer die Gesellschaft[2] aufarbeitet und umsetzt. Es handelt sich dabei nicht nur um die im totalen Krieg durchgefuehrte Mobilisierung der Ressourcen der Front und des Hinterlandes und um das System der Zwangsarbeit, die Massencharakter angenommen hat, sondern um den totalen Charakter der Kontrolle ueber die oeffentliche Meinung, die sich in der Zensur der Erlebnisse und Erinnerungen an den Krieg manifestierte.
Am Beispiel einer oeffentlichen Diskussion ueber die Probleme der Kriegsgefangenschaft analysiert dieser Artikel die Kommunikationsvorgaenge von Machtinstitute und sozialen Gruppen, die in Russland die Strukturen des kollektiven Gedaechtnisses an den Krieg mitgestaltet haben.
Im ersten Teil handelt es von der massgeblichen Instanz bei Diskussion, Filtration und Anwendung der Erinnerungen. Als solche Instanz wurden die einander abloesenden Regierungen bestimmt, die die Aufarbeitung der Kriegserfahrungen zu beeinflussen suchten, um die Handlungen des Staates zu legitimieren. Die Interpretationsmuster der Erlebnisse und ihre Umwandlung in die Strukturen des kollektiven Gedaechtnisses wurden nicht nur von der Macht ausgestrahlt, sondern auch von bestimmten sozialen Gruppen, die das symbolische Gedaechtniskapital ins soziale Kapital zu transformieren bestrebt waren.
Diese Mechanismen werden am Beispiel der Erinnerungen der russischen Kriegsgefangenen, die aus der Gefangenschaft gefluchtet oder im Zuge des Gefangenenaustausches und der Repatriierung zurueckgekommen waren.

1. Die Macht und die Herausbildung der Erinnerungspolitik

Im Vergleich zu den anderen europaeischen Staaten, die in den Ersten Weltkrieg eintraten, hatte Russland die schlechteste politische und oekonomische Organisation, seine Mobilisationsinstitute waren auf den totalen Krieg nicht vorbereitet. Wenn in den Juli-Tagen 1914 in beiden Metropolen ein schwacher patriotischer Konsens entstanden war, zeigten die ersten Niederlagen in Ostpreussen und der Rueckzug 1915 die beschraenkte Widerstandskraft russischer Soldaten an der Front, und die Konkurrenz zwischen Staat und Gesellschaft hinsichtlich Optimierung der Kriegsfuehrung zerstoerte schnell die Strukturen des Burgfriedens im Hinterland[3]. Die Notwendigkeit der Legitimierung einer neuen Zwangs-und Kontroll-Ebene loeste den Kommunikationsprozess zwischen Staat und Gesellschaft aus, der einen in der Extremsituation zugenommenen Bedarf an Ausbildung von Deutungsmustern der Kriegsziele, seiner Dauer und Opfer befriedigen sollte[4].
Nach den ersten groesseren militaerischen Niederlagen versuchte die russische Regierung der OEffentlichkeit an der Front und im Hinterland das wirkliche Ausmass an Verlusten zu verheimlichen, was nicht zu Letzt im Publikationsverbot nicht nur der Kriegsgefangenenzahlen zum Ausdruck kam, sondern auch im Gebrauch des Begriffes selbst ?russischer Kriegsgefangener? in der Presse und in der amtlichen Schriftfuehrung. Man durfte nur die Zahlen der in die Kriegsgefangenschaft geratenen feindlichen Soldaten und Offiziere veroeffentlichen, die vom Sieg russischer Waffe zeugten, und die Paradebeschreibung der Inhaftierungsbedingungen im Hinterland[5] als Nachweis fuer die Erfuellung Russlands von Bestimmungen der Haag-Konvention.
Die Verheimlichung der wirklichen Situation der Gefangenen auf dem Territorium der Mittelmaechte rief jedoch unter den russischen Soldaten die Verbreitung der Vorstellung von der Gefangenschaft als einem gluecklichen Los, was die Faelle der freiwilligen Massengefangenschaft erhoehte. In dieser Situation war die Macht gezwungen, die Diskussion ueber die Gefangenschaft zu initiieren, wobei sie gleichzeitig harte Forderungen an die zu veroeffentlichenden Memoiren stellte: der Leser durfte nur mit den negativen Erinnerungen an die Haftbedingungen in den deutschen Gefangenenlagern konfrontiert werden. Die nuechternen Beurteilungen der Haftbedingungen, ausgehend von der von der wirtschaftlichen Situation der Mittelmaechte, wurden unerbittlich eliminiert. Laut Erinnerungen eines fuehrenden Funktionaers des Moskauer Stadtausschusses Gefangenenhilfe N. Shdanov liess die russische Militaerzensur die Erscheinung in Russland sogar der Gefangenengruppenfotos verbieten, genehmigte lediglich die Ausschnitte von Bildern der Einzelpersonen zu machen und sie an die Verwandten zu schicken. Das wurde dadurch begruendet, dass die Gruppenfotos manchmal den Eindruck von den guten Inhaftierungsbedingungen in der Gefangenschaft vermitteln[6].
1915 wurde in Russland, dem Beispiel der Alliierten folgend, die Ausserordentliche Ermittlungskommission unter Leitung des Senators Krivzov gegeruendet, die Verletzungen der Kriegsgesetze durch die Mittelmaechte untersuchen und die Informationen ueber ihre Taetigkeit allerorts verbreiten sollte. Im Gebaeude der Kommission wurde ein Museum[7] eingerichtet, zu dessen wesentlichem Expositionsbestand neben den Beweisen fuer den Einsatz der Deutschen der Dum-Dum-Geschosse auch die materiellen Nachweise der Schrecken der Gefangenschaft gehoerten: Bruehe anstatt Kaffee, das sogenannte deutsches ?Kriegsbrot?, das aus einer Mischung minderwertigen Mehls unter Kartoffelzusatz gebacken wurde, Darstellungen von Gefangenenmisshandlungen, darunter die Misshandlungen der Geistlichen usw. Hier wurden zusammengetragen und eingehend die Beweise und Erinnerungen an die Gefangenschaft untersucht. Die Veroeffentlichungen der Ermittlungskommission ?Naschi vragi? (?Unsere Feinde?) erschienen in bedeutender Auflagenstaerke und wurden zur obligatorischen Verteilung bei den Kampftruppen und in der Etappe bestimmt[8].
Eines der wichtigsten Probleme bei der Legitimierung der Kriegsziele und der Herausbildung des Feindbildes, mit dem die Macht und die Gesellschaft in Russland seit Kriegsbeginn konfrontierten, wurde die Notwendigkeit der UEberwindung des eigenen Minderwertigkeitskomplexes hinsichtlich der Deutschen, die waehrend ganzer Jahrzehnten ein nachahmungswertes Musterbeispiel in allen Bereichen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gaben. Um den Unbesiegbarkeitsmythos der deutschen Staatsmaschinerie zu ueberwinden, musste man die Deutschen als Kulturtraeger diskreditieren und sie mit unmenschlichen barbarischen Merkmalen ausstatten. Diese Entmenschlichung des Feindsbildes sollte die Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und die Kampffaehigkeit der Soldaten an der Front foerdern.
Die zahlreichen Erinnerungen an die Grausamkeiten der deutschen und oesterreichischen Truppen gegenueber russischen Kriegsgefangenen sollten die russische Allgemeinheit davon ueberzeugen, dass im Lande der ?Dichter und Denker? empoerende Vorfaelle passieren koennen[9]. Grobheit, Arroganz und der sture Duenkel wurden als permanente Zuege aller deutschen Militaers verkuendet. Die preussischen Offiziere, die nicht nur die feindlichen, sondern auch die eigenen Soldaten schikanierten, wurden hingestellt als ?echte lebendige Illustrationen zum Bild des preussisch-deutschen Militarismus, das vielen vom Hoerensagen bekannt war? [10].
Besonders wurde der feudalistisch-absolutistische Charakter des deutschen Staates herausgestellt, was seine Herausgliederung aus der Gemeinschaft der westlichen Verbuendeten Russlands ermoeglichte und ihm den Vorbildsstatus der wirtschaftlichen und politischen Ordnung abzuerkennen. Der Sturz der alten Ideale wurde logischerweise mit der Selbsterhoehung abgeschlossen: ?die goldene Zeit des Aufbluehens des geistigen Lebens Deutschlands ist vorbei und kommt kaum zurueck. Wir sind aber an denjenigen Eigenschaften der russischen Seele und des Herzens reich, die ein Unterpfand fuer die reiche geistige Kultur sind, und die aeussere Kultur ist bereits im Anzug? [11]Gleichzeitig verbreitete die Propaganda neben den Bildern der Entbehrungen und Schikanen hartnaeckig die Verhaltensmuster, die eine Vorbildswirkung auf die russischen Soldaten und Offiziere ausueben mussten. ?Im Oktober 1915 haben die sechs unteren Dienstgrade, die aus der oesterreichischen Gefangenschaft gefluechtet sind, die Aussage gemacht, dass, ungeachtet vieler Qualen wegen der hartnaeckigen Weigerung ihres ganzen Trupps, die feindlichen Schuetzengraeben auszuheben, vier Kameraden erschossen wurden, die nach Zeugenaussagen als Helden starben. Jegliche Versuche ...scheiterten an unerschuetterlicher Standhaftigkeit und am Treueid des russischen Soldaten?. An der Herausbildung von Verhaltensmustern beteiligte sich aktiv die Kirche, die regelmaessig die Verordnungen des Synods ueber die Kommemoration und Verewigung des Gedaechtnisses gefangener Soldaten ? Helden[12], darunter auch in den heimischen Kirchengemeinden, veroeffentlichte.
Das in den Erinnerungen ueberlieferte Bild des Maertyrer-Soldaten, der im wesentlichen unter der Unfaehigkeit und dem Unwillen der eigenen Regierung litt, tatkraeftige Hilfe zu organisieren, machte einen zwiespaeltigen Eindruck auf die OEffentlichkeit im Hinterland. Neben einer chaotischen Pakete - und Geldersammlung an die Adresse gesellschaftlicher und staatlicher Organisationen entstand eine ganze Flut von Forderungen, die Inhaftierungsbedingungen der feindlichen Kriegsgefangenen in Russland zu verschlechtern und die Repressionen zu verschaerfen.
Die Provisorische Regierung, die sich aus den fuehrenden Repraesentanten der gesellschaftlichen Organisationen zusammensetzte, versuchte die Taetigkeit der staatlichen und oeffentlichen Hilfsstellen fuer russische Kriegsgefangene zu koordinieren und eine breitangelegte Propagandakampagne unter den Gefangenen zu starten, um ihnen die Loyalitaet gegenueber neuer Ordnung zu anerziehen. Angesichts der gefaehrlichen Aussicht - der Heimkehr eines bedeutenden Kontingents leidgepruefter und erbitterter Soldaten und Offiziere ? wurde die neue Macht von der Propaganda durch die Konfrontation mit den Misserfolgen der alten Macht legitimiert.
"Wenn dieser schreckliche Krieg beendet sein wird, wird unser Kriegsgefangener im erneuerten und umgestalteten Russland ankommen...Er wird sehen, das auf dem neuen Russland nicht die Suenden des alten Russlands liegen, welches ruhmlos zu Grunde gegangen war. Er wird aber noch inniger das neue Russland lieb gewinnen fuer das Wenige, was es fuer die Gefangenen gemacht hat"[13].
In der gesellschaftlichen Diskussion gewann das Bild der Qualen der Kriegsgefangenen neue Aspekt und begann vielfaeltigere Funktionen zu erfuellen. Der Regierungschef Fuerst L`vov begruesste persoenlich die aus der Gefangenschaft zurueckgekehrten Gruppen der AErzte und Invaliden und schlug ihnen vor, intensiver die russische Gesellschaft ueber die Grausamkeiten der deutschen Gefangenschaft zu informieren, um die Offensive zu propagieren[14], und foerderte damit die Schaffung von ideologisch beeinflussten Erinnerungen.
Die Erinnerungen der Fluechtlinge und der Heimkehrer, die in dieser Zeit veroeffentlicht wurden, sollten keinesfalls der Gesellschaft die Moeglichkeit eines schnellen Sieges ueber einen staerkeren Gegner suggerieren, sondern auf eine langwierige Konfrontation mit ihm vorbereiten, die unermessliche materielle und menschliche Verluste erforderte. In den Memoiren wurden die Deutschen als "fleissige (Menschen), die sich der Arbeit mit Pflichtgefuehl und feierlich hingeben" dargestellt. Deshalb sollte sich die russische Gesellschaft den Illusionen von der ruinierten deutschen Wirtschaft und den ausgehungerten Einwohnern entledigen, die sich freiwillig ergeben wollen.
Die Veroeffentlichung der Kriegsgefangenenerinnerungen war auf die Diskreditierung des Gedankens von dem separaten Frieden gerichtet als eine Massnahme entgegen immer lauter werdenden Stimmen in der Gesellschaft. Eben dieses Szenario der Kriegsbeendigung war nach Augenzeugenberichten der Heimkehrer "...eine fixe Idee aller Deutschen. Das war das einzige Gespraechsthema mit den russischen Gefangenen ...am 6. Dezember 1915, als die Hoffnungen besonders stark waren, liess man die russischen Gefangenen auf dem Platz antreten und zu Ehren des Geburtstages von Nikolai die Hymne "Herr, behuete den Kaiser" anstimmen" [15].
Nach der Oktoberrevolution versuchte die bolschewistische Regierung trotz des im ganzen Lande herrschenden Organisationschaos mit allen Mitteln die erste Welle (1918 - Anfang 1919)der spontan heimkehrenden Kriegsgefangenen unter Kontrolle zu stellen. Die neuen Machthaber glaubten daran, dass die aus dem Bauern-und Arbeiter-Milieu stammenden Kriegsheimkehrer unter Einwirkung eigener Erfahrungen und der Massenagitation das richtige Klassenbewusstsein gewinnen koennen. Die Integration der ehemaligen Kriegsgefangenen wurde zum Kompetenzbereich des NKVD, welches den Kriegsheimkehrern die Interpretation des Weltkrieges und der Gefangenschaft
aufzuzwingen versuchte, die von den Partei-und Staatsbehoerden festgelegt worden war. Die Verstaatlichung der gesellschaftlichen Organisationen und die Diskussion in der Gesellschaft beguenstigten die Okkupation von persoenlichen Erinnerungen[16] und das Verwischen von Widerspruechen zwischen individuellen Erlebnissen und gesellschaftlichen Einstellungen.
Die Erinnerungssammelbaende anlaesslich des 10-jaehrigen Jubilaeums des "imperialistischen" Weltkrieges sowie die spaeteren Ausgaben schilderten die Gefangenschaft als den Weg zum Atheismus und der Revolution[17]. Es ist bemerkenswert, dass die Redaktion auf die frueher veroeffentlichten Materialien verzichtete: die ehemaligen Kriegsheimkehrer "erinnerten sich" nach einem Auftrag. Als Autoren wurden die vorrevolutionaeren Parteimitglieder und die einfachen Kriegsteilnehmer gewaehlt, die "einen langen Weg vom Freiwilligen der alten Zarenarmee bis hin zum ueberzeugten und standhaften Rotarmisten zurueckgelegt hatten". Die Erinnerrungen der Letzteren veranschaulichten deutlich den "ganzen und leidvollen Weg, den der geduldige (bis zu einem Zeitpunkt) Soldat des Zaren zur Revolution ging"[18]. Auch die visuellen Beweise wurden im Sinne der dominierenden Interpretationen uminterpretiert. Ein Foto mit der Darstellung eines Tauschhandels bzw. eines Handelsgeschaeftes der zivilen russischen Bevoelkerung mit den oesterreichischen Kriegsgefangenen durch das Drahtverhau hinueber wurde als ein Nachweis der Verbruederung in der Gefangenschaft hingestellt[19]. Auf solche Weise wurden im Zuge der institutionellen Bearbeitung aus dem vielschichtigen Erinnerungsmilieu unbequeme Erinnerungen verdraengt und ausgeblendet, und die mit dem dominierenden Vorbild kompatiblen zum Soll-Muster erhoben wurden.

2. Erinnerungen der russischen Kriegsgefangenen als Mittel fuer die Gruppenidentifikation.

Die russischen Kriegsgefangenen bildeten eine relativ zahlreiche (ca. 2,5 Mln. Soldaten und Offiziere) und in Folge ihrer Erfahrungen eine ganz besondere Gruppe der russischen Gesellschaft im 1. Weltkrieg. Sogar nach zahlreichen Pressepublikationen ueber die unmenschlichen Schikanen, denen die Gefangenen in den Lagern der Mittelmaechte ausgesetzt wurden, wurden sie von einigen staatlichen und gesellschaftlichen Stellen als verdaechtige Elemente interpretiert, die ihre Pflicht vor der Heimat nicht erfuellt hatten. Deshalb gewaehrten dieser marginalen Gruppe die Herausgabe von Erinnerungen und der Einbau darin der vom bestehenden Regime vermittelten Interpretationsmuster die Moeglichkeit, sich der Stigma der Verraeter zu entledigen.
Zweifelsohne scheint die Erinnerungskultur Russlands hinsichtlich des 1. Weltkrieges im Vergleich zu den anderen europaeischen Laendern unterentwickelt zu sein[20], jedoch die zensierten Erinnerungen der Kriegsheimkehrer lassen die Rekonstruktionen dessen, wie die Erlebnisse des totalen Krieges in die Strukturen des kommunikativen Gedaechtnisses implementiert wurden. Bei der Ausgestaltung der unmittelbaren Erlebnisse der Kriegsgefangenschaft zu den Memoiren mussten sie durch das Doppeltefilter der Gruppen- und der Staatszensur passieren. Die von einer sozialen Gruppe und den einzelnen Individuen verfolgten Ziele riefen zum Leben die Prozesse der Vergangenheitsuminterpretation hervor, sowie die Fabrikation und die Harmonisierung der Erinnerungen gemaess diesen Prozessen. Die frueher relevanten Geschehnisse und Personen sind in Vergessenheit geraten, die tatsaechlichen Erlebnisse sind verdraengt, um die aufzuzwingenden Interpretationsmuster der stattgefundenen Ereignisse zu objektivieren und zu interiorisieren[21].
Als offene Motivation fuer die Veroeffentlichung der eigenen Erinnerungen galt der Auftrag der Kameraden, die in der Gefangenschaft sind und den Wunsch haben, dass "man in der Heimat die Wahrheit ueber die deutsche Gefangenschaft erfaehrt: sie hoffen immer noch auf die Unterstuetzung und den Beistand"[22]. In den Erinnerungen der Kriegsgefangenen laesst sich aber ausser dem Schuldgefuehl gegenueber den hinter dem Stacheldraht Verbliebenen ursaechlich der Versuch festzustellen, den Aufenthalt in der Gefangenschaft und die Arbeit fuer den feindlichen Staat zu rechtfertigen: ?Viele koennen wahrscheinlich erstaunt und unfreundlich fragen:?Warum hatten denn die Gefangenen fuer den Feind gearbeitet? Ohne ihre Arbeit koennte Deutschland keinen einzigen Tag Krieg fuehren!? Wer moechte sich in die Seele eines Menschen hinein versetzen, der so erniedrigt und unterdrueckt ist wie die russischen Gefangenen in Deutschland, der wird eine Antwort bekommen? [23].
Die unter der Provisorischen Regierung veroeffentlichten Erinnerungen benutzten ein in der oeffentlichen Diskussion verbreitetes Mittel, und zwar, die Beschuldigung der fruehren Machthabenden: ?Um sich plastisch der Atmosphaere der deutschen Gefangenschaft zu vergegenwaertigen, erinnern sie sich an unser Polizeiregime?. Die Kriegsgefangenen stellten sich als Traeger einer gleichen fuer die ganze russische Gesellschaf Erfahrung vor und versuchten die Segregation einer marginalen Gruppe zu ueberwinden:? frueher fristete er duesteres Leben eines Sklaven und hatte alte, vererbte Unzufriedenheit... er ist einfach ein ungebildeter Ungluecklicher, den man entweder ins Polizeirevier oder in die Arena der Weltschlacht schleppt? [24]. In dieser Zeit erforderten diese Rekonstruktionen zusaetzlicher Unterstuetzung in Form des amtlich genehmigten Bildes der unmenschlichen Leiden der Gefangenen. In die Memoiren wurde eine wesentliche Korrektur eingebracht: die Leiden waren nicht umsonst, weil sie die Opfer fuer die Heimat waren. ?Man hat uns nicht nur einige Jahre Schweine genannt, sondern auch wie Schweine behandelt...Wir wurden in staendiger Angst gehalten, keine Minute konnten wir unseren Lebens sicher sein, jeder, der sich uns naeherte, bespuckte und verhoehnte unser Vaterland, damit das Joch der Gefangenschaft noch unertraeglicher uns unterdrueckte. Das wurde durch Hunger, Verpruegelungen, Angst und Erniedrigungen erreicht? [25].
Nach der Oktoberrevolution benutzten die Kriegsheimkehrer fuer ihre Rehabilitation einfachere und leichter von der Gesellschaft und der Macht rezipierbare Bilder. Laut neuer Auslegung mussten die Gefangenen im Prozess der Zwangsarbeit eher als die anderen erleben, dass der Patriotismus der Deutschen nur eine Fassade war, die wirkliche Ziele und Absichten des deutschen Imperialismus verbarg. Die bei den Zwangsarbeiten eingesetzten Gefangenen arbeiteten fuer die Ausbeuter, die ?aus jedem Gefangenen alle Saefte fuer die eigene Bereicherung auf Kosten der Gratisarbeitskraefte aussaugen wollten? [26]. Die Erinnerungen bestimmten die Kriegsgefangenen weniger als Opfer des alten Regimes, sondern vielmehr als der unmittelbarsten Revolutionsteilnehmer: ?Wir wurden zum Mord... und in den Tod fuer unsere Unterdruecker, fuer die verfluchte Ordnung geschickt, die wir, die UEberlebten, drei Jahre spaeter zerstoerten? [27]. Die Zwangsarbeit wurde von einer gezwungenen Handlung in die Heldentat uminterpretiert, weil eben sie es ermoeglichte, dass die Kriegsgefangenen zu den Begleitern des Gedankens ueber die Weltrevolution wurden: ?Die Taetigkeit der Kriegsgefangenen in Betrieben und auf dem Lande unter den oesterreichischen Bauern, sowie der Umgang mit den Soldaten der oesterreichischen Armee haben tiefe Wurzeln der Revolution in den oesterreichischen Boden geschlagen?. [28]
Zu einer Form der Selbstrechtfertigung der eigenen Passivitaet und der ?unheroischen? Taten wurde die Suche nach solcher Kategorie der Kriegsgefangenen, die den freiwilligen, d.h. einen noch schwerwiegenderen Verrat gegenueber der Heimat und seinen Leidensgenossen veruebt hatten. Diese Rolle kam in den Erinnerungen automatisch den Dolmetschern in den Lagern zu, die wegen ihrer Sprachkenntnisse aus Gefangenen juedischer Herkunft rekrutiert worden waren. Das Bild der Juden als Verraeter und Spione wurde bereits ins gesellschaftliche Bewusstsein implementiert und foerderte eine bequeme Reduktion der Wirklichkeit: ?Die deutschen Vorgesetzten versuchten einen Teil der Gefangenen zu gewinnen und mit ihrer Hilfe ueber die anderen zu regieren. Sie wurden menschlicher behandelt, einige gingen (ihnen)auf den Leim und wurden Aufseher...Das Gleiche muss man bezueglich vieler Dolmetscher sagen, die skrupellos ihre Kameraden auspluenderten? [29].
Es laesst sich deutliche Abhaengigkeit der Auslegung der Juden als Verraeter und der Hauptschuldigen an den Leiden der Gefangenen in den Lagern von dem Regime feststellen, unter dem die Memoiren veroeffentlicht worden waren. Eindeutige Aussagen machten die Gefangenen, die ihre Erinnerungen unter dem Zaren und der Provisorischen Regierung veroeffentlichten. Die Erinnerungen der spaeteren Zeit jedoch unter Beruecksichtigung der internationalen Revolutionslosungen und der Abstammung der Fuehrer machten vorsichtigere Behauptungen, dass ?nur diejenigen, die diesen raffinierten Mechanismus nicht durchschaut hatten, konnten wirklich glauben, dass in der Gefangenschaft die Jueden alles regierten? [30].
Einige reflektierten den Antisemitismus als ein Merkmal der alten Ordnung: "Zusammen mit der abziehenden Armee raste durch die Doerfer die beschaehmende Welle der judische Pogromme. Die Vorgesetzten waelzten die ganze Schuld auf die Juden ab...die Verleumdung wurde in den Befehlen verlesen...Daran haben sich alle wie an die Gebetsstunden gewoehnt. Man hatte gewusst, wenn das Juden sind, dann sieht es schlecht aus"[31]. In den Erinnerungen der Sowjetzeit traten an die Stelle der Juden, die Verraeter und Schuldige an allen Katastrophen waren, die Unter-Offiziere und Feldwebel, die bei der niedrigsten Lageradministration dienten. Die Ausdruecke bezueglich der Ersteren blieben die gleichen. Die unteren Offiziersdienstgrade werden als Personen charakterisiert, die "bereit sind, ihre eigenen Leute zu verraten" und die "den OEsterreichern nicht unbedeutende Hilfe geleistet haben" [32].
In den im Exil erschienen Erinnerungen blieben die antisemitischen Parolen demgegenueber ein Bestandteil des explikativen Narrativs: "Die Jueden-Dolmetscher, die Jueden-Abteilungsleiter war eine der schwierigsten alltaeglichen Erscheinungen der Gefangenschaft. Sie kontrollierten die Post, verpfiffen die Aufsaessigen". Ausserdem kam bereits damals bei den Juden die Faehigkeit zum Vorschein, einen noch groesseren Verrat (Revolution) zu verueben, weil "sie die Sprache konnten, aber keine Russen waren, sie liebten Russland nicht"[33].
In den Erinnerungen, die unter der Sowjetmacht produziert wurden, erschien die Gefangenschaft als temporale und lokale Struktur, in der kraft objektiver Bedingungen die Prozesse des Werdeganges des revolutionaeren Bewusstseins bedeutend rascher abliefen als in Russland selbst: "Das, was in Russland und an der Front im Maerz 1917 stattfand, spielte sich en miniature in der Gefangenschaft lange vor der Februarrevolution ab"[34]. Dem trugen die Unterschiede in den Haftbedingungen der Offiziere und Soldaten[35] bei, was nach Augenzeugenberichten sehr schnell zur Vertiefung der Klassenunterschiede gefuehrt haette[36]. Sogar die Soldatenmasse bleib von Prozessen der sozialen Divergenz nicht unberuehrt: die Gefangenschaft gliederte hier "wohlhabende Menschen (heraus), die von zu Hause Geld und Pakete bekamen"[37].
Laut Erinnerungen der Sowjetzeit hat die Februarrevolution nur den unueberwindlichen Klassenabgrund vertieft und verwandelte ihn in die offene Feindschaft trotz Versuche "einiger Offiziere Sozial-Demokraten zu werden, mit den Soladaten zu liebaeugeln und die Volkssprache nachzuahmen"[38]. Die gefangenen Mannschaften, die das richtige Bewusstsein besassen, "haben sich bald von der neuen Regierung abgewandt, ihr nicht weiter geglaubt und wurden zu deren Feinden"[39]. Ausserdem laut den Erinnerungen half die Revolution den Kriegsgefangenen, die im fernen Russland stattfand, die sich in den Feinheiten der politischen Programme nicht auskannten, auf intuitiver Ebene bestimmen, welche politische Partei vorgezogen wird. So haben die Lagerinsassen sofort abgelehnt "die Intelligenz, die sich ....und dumm benimmt", weil sie "viele Schwaetzer(hatte), die wirklich daran glaubten, dass die Bolschewiki das "freie Russland" zu Grunde richten, und ihre Pathosreden ueber die verletzte Demokratie, ueber den Krieg bis zum Endsieg hatten einen unausgesprochen albernen Ton hier unter Tausenden vor Hunger und an Krankheiten sterbenden Menschen"[40]. Lange bevor die Sozialdemokraten ihre politische Unfaehigkeit in Russland an den Tag legten, hatten sie in der Gefangenschaft ihren Ruf als Ideenkaempfer und mutige Maenner untergraben. In seinen Erinnerungen schildert K. Levin sehr plastisch das Benehmen eines typischen Vertreters dieser Partei bei der Loesung der Frage nach seiner vorfristigen Heimkehr. "Er war schrecklich nervoes, rang die Haende, stiess gedaempfte Seufzer aus und lief hin und her, fragte, ob er abgeschoben wird, weinte und versteckte hoffnungslos seinen schwarzen Kopf in den Knien"[41]. Als wirklich echte Menschen erschienen vor den Gefangenen die Bolschewiken, von denen die "Revolution...den sklavischen schwarzen Russ, erniedrigtes und unfreies Aussehen weggespuelt hat", sie schienen "Menschen von einer schoenen Welt"[42] zu sein.
Die Kriegsheimkehrer, die eine schwierige Schule des Widerstandes gegenueber dem deutschen Imperialismus absolviert hatten, wurden der OEffentlichkeit in Sowjetrussland nicht als normale Revolutionaere vorgestellt, sondern als "bolschewistische Agitatoren"[43], da sich eben "mit ihrer Ankunft die politische und revolutionaere Lage zu Gunsten der Revolution gestaltete"[44]. Die spontane Flucht der Gefangenen in die Heimat, nachdem die neue Macht neue Dekrete verkuendigte, wurde dargestellt nicht als Streben der verhungerten Menschenmassen in die Heimat nach langjaehriger Haft zurueckzukehren, sondern als zweckbestimmtes Streben "nach Sowjetrussland zu kommen, um kontinuierlich fuer die Arbeiterklasse zu arbeiten"[45].
Eine radikale klassenmaessige Uminterpretation erfuhr nach der Oktoberrevolution das Feindsbild. Die Grausamkeit der Deutschen gegenueber den Gefangenen wurde als Beweis einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe der ganzen Gesellschaft interpretiert - "der Krieg hat alle zu Tieren gemacht. Alle Voelker schmachteten unter der schweren Ferse des Imperialismus und kamen moralisch herunter"[46]. Die unmenschliche Behandlung des unbewaffneten Feindes durch die deutschen Militaers wurde als Ausdruck der Klassenvorurteile erklaert: die meisten Offiziere "waren echte deutsche Patrioten", weil sie von den Kleingutsbesitzern abstammten[47]. Die deutsche zivile Bevoelkerung, die im patriotischen Rausch die Gefangenen erniedrigte, wurde der Kategorie der "verbiesterten deutschen Bourgeois" zugerechnet"[48].
Die niedrigsten Bevoelkerungsschichten Deutschlands wurden als Opfer hingestellt, die "gezwungener weise in den krieg zogen, ihre Offiziere nicht liebten und vor ihnen Angst hatten und ihnen nicht glaubten"[49]. In den Erinnerungen wurde die hoechste Stufe des Klassenbewusstseins dem deutschen Proletariat zugeschrieben, welches angeblich freundlich die russischen Gefangenen in den Betrieben aufgenommen hatte: "Auf Arbeit wurden wir unter einem Joch der kapitalistischen Ausbeutung zu einer Arbeiterfamilie"[50]. Die Hinwendung der "Gefangenen-Parteimitglieder" in ihren Erinnerungen an die Gestalten der deutschen Sozialdemokraten, die sich gleich mit dem Kriegsbeginn auf eine Abmachung mit den imperialistischen Regierungskreisen eingelassen hatten, erschien logisch und mit den Leninschen Thesen konform. In den Mund der Vertreter dieser Partei hatte man den Gedanken hineingelegt darueber, dass es "in Deutschland bereits keine Sozialdemokratie existiert"[51]. So wurde die Schuld am Kriegsausbruch vom deutschen Proletariat auf seine fruehren Fuehrer abgewaelzt und die Kommunisten wurden zu einzigen ideellen Initiatoren der Arbeiter verkuendet.
Das klassische Schema des Klassenkampfes wurde auch bei der Schilderung von nationalen Wiederspruechen in Bezug auf die Kriegsgefangenen der Alliiertenarmeen: "Bereits ab Sommer 1915 gliederten sich die Gefangenen in zwei voellig kontroverse Gruppen: in die Wohlhabenden und die Besitzlosen, in die Bourgeois und die Proletarier. Unter den Bourgeois verstand man die Franzosen, Englaender und Belgier, unter den Besitzlosen - die Russen"[52]. Der gleiche Interpretationsschluessel wurde an den im Krieg entstandenen Stereotyp von den Grausamkeiten der ungarischen Militaers und der zivilen ungarischen Bevoelkerung bezueglich der russischen Gefangenen angewandt. Nach der Revolution wurde diese Tatsache als Folge der schwachen internationalen und nationalen Politik der Zarenregierung ausgelegt: "es mutet seltsam an, aber die Ungaren haben bis jetzt 1848 nicht vergessen, als die Soldaten des Nikolai Palkin (woertlich Nikolai, die Spiessrute. Anm.des UEbers.) halfen, das gegen OEsterreich aufgestandene Land mit Blut zu ueberstroemen"[53].
Die Realitaet des totalen Krieges und des langjaehrigen Aufenthaltes hinter dem Stacheldraht musste zwangslaeufig auf dem Wertesystem einer bedeutenden Gefangenenmasse Spuren hinterlassen. Der Einfluss einer laengeren Haft auf die Religiositaet der Gefangenen im 1. Weltkrieg bedarf einer separaten Untersuchung, aber man kann anhand der Erinnerungen verfolgen, wann und zu welchem Zweck die russischen Gefangenen ihre religioesen Erfahrungen artikuliert oder ihre Position bezueglich Glauben und zu Kircheninstitutionen zum Ausdruck brachten.
Noch im Juli 1917 kommen aus dem Munde der Kriegsgefangenen religioese Auslegungen von Leiden der Gefangenschaft als "aegyptische Finsternis" und der Vergleich der Befreiung mit der Auferstehung im Himmelsreich des Herren: "ich war frueher in der Hoelle, jetzt bin ich aber auferstanden...die Engel sind herbeigeflogen, um uns aus der Hoelle zu retten, wo wir wegen unserer Schulden schmachten mussten"[54]. Die Rotkreuz-Schwestern zeugten in ihren Erinnerungen von den religioesen Stimmungen der Gefangenenmasse und von ihrem Streben, die seelischen Leiden durch Hinwendung zum Glauben und zur Kirche zu mildern[55].
Darueber hinaus wurden in den in die Heimat zugestellten Schreiben die Bitten ausgesprochen, dass "unser russischer Seelsorger" kommen sollte[56].
Nach Oktober 1917 schildern die Erinnerungen die Gefangenschaft als einen Weg nicht nur zur Revolution, sondern auch zum antireligioesen Bewusstsein. Die laengere Haft selbst, unmenschliche Plagen und die Grausamkeiten der Umgebung bewiesen den Kriegsgefangenen das Truegerische der religioesen Lehren, weil "gegen die (Gottes)Existenz schrieen alle Steine"[57]. Die Erfahrungen aus der Gefangenschaft zeugten auch von der Schwaeche der Anfeindungen seitens verschiedener konfessioneller Lehrmeinungen, weil sich die Kirchenvertreter selbst leicht begaben, die Grenzen im Rausch des Hurra-Patriotismus[58] bzw. im Bedarfsfall zu ueberwinden. K. Levin schildert mit genuegender Ironie die Etablierungssituation der religioesen Praktiken in seinem Lager: "Es erwies sich, dass die besten Tenorstimmen die Juden und die Russen - die besten Bassstimmen hatte...(Die Geistlichen) bewiesen, dass der juedische Gott Gott der Vater ist, d.h. Mitglied des Kollegiums - der Dreieinigkeit, deshalb durften die Juden im Chor singen...die juedischen Tenoere sangen Haliluja in der Kirche, und die russischen Basse droehnten die Jegowa-Verherrlichung in der Lager-Synagoge. Daran haben sich alle gewoehnt, und die religioes-vokale Internationale wurde von allen Lagerinsassen erlaubt"[59].
Die spaeteren Erinnerungen entlehnten und adaptierten harmonisch ins Erzaehlen die bei neuem Regime etablierten Bilder und Definitionen: "Er hat sich ans Morphium gewoehnt und verlangte launisch jeden Abend eine Injektion...Morphium fuer einen, Gebet fuer andere..." [60]. In UEbereinstimmung mit den klassenmaessigen Definitionen, die besagten, dass sich anhand der Religion "die Herrschaft der Bourgeoisie etabliert", "erinnerten sich" die Kriegsheimkehrer unter der Sowjetmacht daran, dass in den deutschen Gefangenenlagern die Kirchen auf Initiative der Unter-Offiziere eingerichtet wurden, die die Soldaten zum Besuch des Gottesdienstes zwangen[61]. Es ist kein Zufall, dass die Soldaten das von den Offizieren organisierte orthodoxe Osternfest ignorierten, und statt dessen versammelten sie sich geschlossen auf der von Bolschewiken veranstalteten Kundgebung.
Ungeachtet anderer Motive der Instrumentalisierung der Erfahrungen aus der Kriegsgefangenschaft in der russischen Kriegsemigration konnte man jedoch anhand der Materialien dieser Erinnerungen den Einsatz analoger mnemonischer Strategien verfolgen. Die Leiden und der Heroismus der Gefangenen werden hier mit dem Zweck thematisiert, die alte russische Armee zu mythologisieren und eine bestimmte soziale Gruppe zu etablieren, die in ein fremdes Milieu transferiert wurde und die eine Selbstidentifikation als ein Teil dieses Milieus benoetigt. Zweifellsohne mussten auch in diesem Fall die Widersprueche individueller Erlebnisse durch die Entwicklung und Translation bestimmter Bilder des kollektiven Gedaechtnisses geloescht werden.
Zu den resistenten Mythologemen, die den Interpretationen von Gefangenschaferfahrungen zu Grunde gelegt wurden, gehoert die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit und der Unbeugsamkeit des Geistes der Gefangenen in ihrer Treue zum Zaren und Vaterland. Laut Erinnerungen waren die Offiziere bereit, den familiaeren Wohlstand aufs Spiel zu setzen, um dem Gegner keine Gelegenheit ein uebriges Mal zu bieten, sich von der Schwaeche der russlaendischen Staatsbehoerden zu ueberzeugen. Die Memoiren strapazieren sogar das traditionelle Bild der freiheitsliebenden Kosaken; in den Kosakentruppen "galt die Gefangenschaft traditionsgemaess nicht als ein Unglueck, sondern als Schande, deshalb versuchten sogar die verwundeten Kosaken aus der Gefangenschaft zu fliehen, um diese Schande abzuwischen"[62]. Ausserdem ist kennzeichnend, dass bei der Herausbildung der Gedaechtnisstruktur der Ersatz von realen Geschehnissen durch bereits existierende resistente Bilder des Kulturgedaechtnisses stattfindet. So legt P. Krasnov in seinen Erinnerungen ein Zeugnis davon ab, dass die Gefangenen versuchten, sich die Finger abzuhacken, um nur nicht fuer den Feind zu arbeiten und Verrat an der Heimat und den Verbuendeten zu verueben[63]. Das direkte Urbild dieses Mythologems scheint uns eine im Vaterlaendischen Krieg 1812 gebkreierte und in der russischen Kunst reflektierte Legende von einem russischen Bauer zu sein, der sich die Hand mit dem Mal von Napoleon abgehackt hat.

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Auf solche Weise erlaubt die Erforschung der Kommunikationsprozesse der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges den Ursprung der Mechanismen der totalen Kontrolle und der Leitung der Gesellschaft und des oeffentlichen Bewusstseins aufzudecken, der im wesentlichen das Antlitz des ganzen ?Extremjahrhunderts? gepraegt hat. Unter den Transformationsbedingungen der Mental- und Wertestrukturen, die sich in Russland waehrend des Weltkonfliktes vollzogen, ist die Herausbildung der Klischees von Wahrnehmungen und Interpretationen der Ereignisse und die Bestimmung der Bilder des kollektiven Gedaechtnisses zum gewichtigen sozialen und politischen Kapital geworden, wofuer die Macht, Gruppen und die Einzelindividuen zu kaempfen begannen. Die Erinnerungen an die feindliche Gefangenschaft und die oeffentliche Diskussion ueber die russischen Kriegsgefangenen wurden zum Schlachtfeld unterschiedlicher mnemonischer Strategien. Die einander abloesenden politischen Regimes strebten danach, den Prozess der Herausbildung des kommunikativen Gedaechtnisses an die Gefangenschaft fuer die totalitaere Mobilisation der Gesellschaft, fuer die Legitimation ihrer Handlungen im Lande und in der internationalen Arena und fuer die Aufzwingung von eigenen Interpretationsmustern zu benutzen. Wenn die zaristische Regierung die Mechanismen und die Institute der Erinnerungspolitik nicht einsetzen konnte und die Provisorische Regierung nicht dazu kam, in vollem Ausmass die Massnahmen der mnemonischen Kontrolle zu organisieren, haben die Bolschewiken, die die haertesten Methoden bei der Manipulation und der Anwendung des kommunikativen Gedaechtnisses einsetzten, es vermocht, den Erinnerungsprozess unter ihre Kontrolle zu stellen und ihre Auslegung der Gefangenschaft des Ersten Weltkrieges aufzuzwingen. Die Kriegsgefangenen selbst versuchten die Publikationsmoeglichkeit ihrer Erinnerungen fuer ihre persoenliche soziale Wiedereingliederung, fuer die Gruppenidentifikation und fuer die UEberwindung der Verraeterstigma zu benutzen. Die Rotkreuz-Schwestern ihrerseits, die die Gefangenenlager der Mittelmaechte besichtigt hatten, thematisierten die Kriegsgefangenschaft als Versuch die vom Krieg gegebenen Moeglichkeiten der Umverteilung der Genderrollen zu benutzen.

Anmerkungen

1. Der Artikel ist mit der Unterstuetzung der Herda-Henkel-Stiftung vorbereitet, AZ 11/SR/03.
2. Siehe z.B.: Holquist P. Making war, forging revolution: Russia's continuum of crisis, 1914 ? 1921, Cambridge 2002; Liulevicius V.G. War land on the Eastern Front : culture, national identity and German occupation in World War I, Cambridge 2000.
3. Siehe: Beyrau D. Der Erste Weltkrieg als Bewaehrungsprobe. Bolschewistische Lernprozesse aus dem ?imperialistischen? Krieg, in: Journal of modern history. 2003. ? 1. S. 100-101.
4. Ausfuehrlicher ueber die Protesse des Kommunizierens ueber die Kriegserfahrung, siehe: Buschmann N., Karl H. Zugaenge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Buschmann N., Karl H. Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Franzoesischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001. S.21.
5. Siehe, z.B.: Schnikevich; Е. Otchet chlena, sostojaschego pri Zentral`nom spravochnom bjuro o voennoplennych Osobogo komiteta pomochi voennoplennym po komandirovke v Omskij voennyi okrug dlja obsledovanija stepeni nushdy voennoplennych Avstro-vengerskoj armii. Petrograd 1915.
6. Shdanov N.M. Russkije voennoplennye v mirovoj vojne. Moskau, 1920 (Trudy voenno-istoricheskoj komissii. S.2
7. Siehe: Rossijskij gosudarsvennyi voenno-istoricheskij archiv (im weiteren ? RGVIA). F.2003.Оp.2.D.753. S.79.
8. Siehe: Nashi vragi. Obsor dejstvij chresvychajnoj sledstvennoj komissii. Petrograd 1916.
9. Grigor`ev S. Dva mesjaza v germanskom plenu (Vpechatlenija, nabljudenuja, vyvody). Оdessa, 1914. S.4.
10. Ebenda. S.65.
11. Ebenda. S.3.
12. Siehe: RGVIA F.2003.Оp.2.D.753. L.90.оb.
13. Siehe:Ruskij voennoplennyi. Shurnal izdatelstva Moskovskogo gorodskogo komiteta pomoschi russkim voennoplennym 1917g. ? 1. S.1-2.
14. Siehe: Shdanov. Op. sit.. S.105.
15. Schamurin J.И. Dva goda v germanskom plenu. Moskau, 1917. S.29.
16. Ausfuehrlicher ueber den Begriff der okkupierten Erinnerungen siehe: Hockerts H. Zugaenge zur Zeitgeschichte: Primaererfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Jarausch К. (Hg.), Verletztes Gedaechtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt am Main 2002. S.42-45.
17. Siehe, z.B.: Desjateletie mirovoj vojny. Sammelband U.d. R. V. М. Ochitovich;. Moskau, 1925; Desjateletie mirovoj vojny. (Materiali dlja agitatorov). Moskau, 1924, usw.
18. Dmitriev V. Dobrovolez. Vospominanije o vojne i plene. Мoskau -Leningrad, 1929. S.2.
19. Siehe: Desjateletie mirovoj vojny.S.277.
20. Siehe: Narskij I. Kriegswirklichkeit und Kriegserfahrung russischer Soldaten an der russischen Westfront in den ersten beiden Kriegsjahren (im Druck)
21. Ausfuehrlicher darueber siehe: Berger P., Luckmann Т. Sozial`noje konstruirovanije real`nostj. Moskau, 1995. S.259.
22. Schamurin J. Op.cit S.1
23. Ebenda. S.41.
24. Ebenda.S.42.
25. Ebenda.S.5
26. Ebenda. S.54.
27. Levin K. Zapiski iz plena. Moskau, 1930. S.39.
28. Razgon I. V avstrijskom plenu / Desjateletie mirovoj vojny. S.281.
29. Schamurin J.Op.citS.14
30. Kirsch J. Pod sapogom Vilgelma. Moskau, 1927. S.74.
31. Dmitriev V. Op.cit S.16.
32. Levin K. Zapiski iz plena. S.42.
33. Krasnov P.N. Venok na mogilu russkogo soldata. S.36
34. Razgon I. Op.cit S.278.
35. 37 Siehe: Linov A. Vospominanije rjadovogo (iz avstrijskogo plena) / Desjateletije mirovoj vojny. S.286.
36. Siehe: Levin K. Zapiski iz plena. S.64
37. Levin K. Za koljucej provolokoj. Moskau, 1929. S.17.
38. Razgon I. Op.cit S.280.
39. Levin K. Za koljucej provolokoj. S.24.
40. Levin K. Zapiski iz plena. S.234.
41. Ebenda. S.238.
42. Levin K. Za koljucej provolokoj. S.29-30.
43. Kirsch J. Op.cit S.102.
44. Razgon I. Op.cit S.280.
45. Linov A.Op.cit S.286.
46. Kirsch J. Op.cit S.16.
47. Ebenda. S.39.
48. Ebenda. S.28.
49. Levin K. Zapiski iz plena.S.4.
50. Kirsch J. Op.cit S.44.
51. Ebenda. S.25.
52. Ebenda. S.57.
53. Levin K. Sapiski iz plena. S.26.
54. Russkij voennoplennyj. 1917. ? 2.
55. Tarasevich; А. Otchet po obsledovaniju lagerej i mest vodvorenja russkich voennoplennych v Avstrii i Vengrii. Moskau, 1917. S.10.
56. Siehe.: Schuberskaja Е.М. Dnevnik komandirovki v Germaniju dlja osmotra lagerej russkih voennoplennih v ijule-oktjabre 1916. Petrograd 1917. S.14; Otcet sestry miloserdijy A.V.Romanovoj // Vestnik Krasnogo Kresta 1916. ? 6. S.2017.
57. Kirsch J. Op.cit. S.18
58. Levin K. Zapiski iz plena. S.20.
59. Ebenda. S.55.
60. Ebenda. S.237.
61. Ebenda. S.52; Razgon I. Op.cit S.278.
62. Krasnov P. Op.cit S.41.
63. Ebenda. S.44.


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