Archive Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jьdischen Studien: Das Basler Beispiel10.02.2004, 10:45 von Heiko Haumann
Das neu gegründete Institut für
Jüdische Studien an der Universität Basel nahm zum Wintersemester
1998/99 seine Tätigkeit auf. Damit rückte ein lang gehegter Wunsch,
die wissenschaftliche Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und
Kultur in der Schweiz und in der alemannischen Region zu verstärken,
seiner Verwirklichung ein grosses Stück näher. Inzwischen wurde Prof.
Dr. Jacques Picard zum Leiter des Instituts berufen. Der Stiftungsrat der
Stiftung für Jüdische Studien, der die Gründung des Instituts in
die Wege geleitet hat und seine Arbeit weiter begleitet, hat die Ziele deutlich
formuliert: Die Lebenswelten der Jüdinnen und Juden, ihre Geschichte,
Religion, Kultur und Literatur in ihren Wechselbeziehungen mit der
nichtjüdischen Umwelt von der Antike bis zur Gegenwart sollen in Lehre und
Forschung behandelt und entsprechende Aktivitäten koordiniert werden. Zu
untersuchen seien insbesondere die Veränderungen von Lebensbedingungen,
Normen, Erfahrungen und Einstellungen, Selbst- und Fremdwahrnehmungen, religiöse, geistige,
soziale und politische Strömungen
unter den Juden, ihre politische und rechtliche Stellung im Vergleich
verschiedener Staaten, ihre Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie ihre
Wanderungsbewegungen, Ursachen und Auswirkungen von Antisemitismus und
Antijudaismus. In der Erforschung der kulturellen Beziehungen der Juden
untereinander seien Sprache, Literatur und Kunst einzubeziehen. Besondere
Aufmerksamkeit sei der Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz und in
der Region zu schenken. Als Generalthema für ein Forschungsprogramm formulierte der
Stiftungsrat: ´Nachbarschaft
? Ausgrenzung ? Orientierungssuche. Jüdisches Leben in Ost- und Westeuropa sowie in Israel als
multikulturelles Phänomen?.
Eine Besonderheit der Basler Beschäftigung mit Jüdischen Studien ist
neben der regionalen sowie gesamtschweizerischen Vernetzung, insbesondere mit
dem Luzerner Institut für
Jüdisch Themenfelder.
Desanka Schwara setzte dann das Projekt noch ein Jahr fort, um Kindheit und
Jugend in den genannten Regionen zwischen 1881 und 1939 zu untersuchen.
Methodisch gingen die MitarbeiterInnen von den Wechselbeziehungen zwischen
Strukturen sowie individuellem Denken und Handeln aus. Sie fragten, wie sich
Einstellungen, Werte, Normen und Verhalten von Männern und Frauen wandelten, welche neuen
Handlungsräume
und Tätigkeitsfelder
sie sich erschlossen, inwieweit die Religion einen neuen Stellenwert erhielt,
wie Jüdinnen
und Juden auf die nichtjüdische
Umwelt sowie auf Zeitströmungen
? Säkularisierung,
Aufklärung,
Assimilation, Antisemitismus und Nationalismus, Zionismus, Sozialismus ?
reagierten.
Die Ergebnisse dieses Projektes führten zu einer
Verfeinerung des Ansatzes. Mehrere Einzelstudien und weitere grössere
Forschungsvorhaben waren die Folge. Eine Vermittlung wurde versucht durch die
Ausstellung ´1897
? Der Erste Zionistenkongress in Basel? samt Begleitpublikationen anlässlich des Jubiläums 1997. Derzeit
werden in Basel am Historischen Seminar und am Institut für Jüdische Studien drei
Projekte bearbeitet, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind. In diesem Jahr
gelangen die Arbeiten zum Thema ´<Überfremdung>
oder die Politik der Ausgrenzung: Ein Vergleich Schweiz ? USA in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Diskurs ? Handeln ? Erfahrung? zum Abschluss, die 1999 begonnen
worden waren. Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen des ´Überfremdungsdiskurses?
auf die Immigrations- und Flüchtlingspolitik
der beiden Staaten. Diskurse, gesellschaftliche Strukturen und subjektive
Erfahrungen sollen aufeinander bezogen, die Perspektiven der betroffenen
Migranten mit der politischen Ebene, dem gesetzgeberischen Handeln und der behördlichen Praxis,
verbunden werden. Auf diese Weise wird die Konstruktion von ´Eigen- und
Fremdbildern? deutlich, ebenso die Tradition des Umgangs mit ´Fremden?,
insbesondere mit Juden. Gleichzeitig ist ein Beitrag zur gegenwärtigen Theorie- und
Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft angestrebt. Patrick Kury
untersucht den ´Überfremdungsdiskurs?
in der Schweiz, Simon Erlanger die Situation der Flüchtlinge in den schweizerischen
Lagern während
des 2. Weltkrieges und Barbara Lüthi stellt den Vergleich mit den Einwanderungsverhältnissen in den USA
an. Neben der gemeinsamen Publikation sind drei Dissertationen zu erwarten.
Seit Ende 2000 wird ein Forschungsvorhaben zu ´Nation und jüdische Identität? bearbeitet. Das
Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, inwieweit die Frage, was ein Jude sei,
mit der Herausbildung moderner europäischer Nationalstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert
eine neue Bedeutung bekam: War ´jüdisch
sein? noch vereinbar mit der Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Staat? Aus der Perspektive
der jüdischen
Gesellschaft untersucht die Forschungsgruppe, wie sich Jüdinnen und Juden zum Konstrukt ´Nation? verhielten
und wie sie ihre Identität
unter diesen Bedingungen bestimmten. Peter Haber wendet sich
Assimilationsstrategien von Juden zwischen 1850 und 1910 in Ungarn zu ? also in
einem Land, das sich als Vielvölkerstaat definierte ?, Erik Petry geht der jüdischen Identitätssuche im
Vielkulturenstaat Schweiz am Beispiel einer Zürcher Gruppe zwischen 1915 und 1955 nach,
Daniel Wildmann widmet sich der innerjüdischen Reformierung und Inszenierung des männlichen Körperideals im
Kontext von Antisemitismus, Zionismus und der jüdischen Turn- und Sportbewegung zwischen
1890 und 1933 in Deutschland, das sich nicht als Vielvölkerstaat verstand. Am Ende der
Bearbeitung sollen eine gemeinsame Publikation sowie drei Einzelstudien ? zwei
Dissertationen, eine Habilitation ? und ein Film stehen.
Schliesslich ist ein interdisziplinäres Projekt anzuführen, das Mitte
2001 begonnen hat: ´Vertraut
und fremd zugleich. Juden in interkulturellen Beziehungen?. Alexandra
Binnenkade untersucht die Mechanismen von Nachbarschaft und Ausgrenzung im
schweizerischen ´Judendorf?
Lengnau während
des 19. Jahrhunderts, Ekaterina Emeliantseva vergleicht die jüdisch-messianistische
Bewegung der Frankisten in Polen mit der mystisch-messianistischen Gruppe der
Chlysty innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche von der zweiten Hälfte des 18. bis
zur ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, Svjatoslav Pacholkiv erforscht anhand von Fallstudien die
Stellung der Juden in der multiethnischen Gesellschaft Galiziens zwischen 1860
und 1939. Gemeinsam ist allen Teilprojekten die Frage nach dem Verhältnis von Nähe und Distanz in
den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in verschiedenen Gesellschaften
und zu verschiedenen Zeiten, das sie über ein Konzept von Kontakt-, Konflikt- und
Ausgrenzungszonen näher
bestimmen wollen. Langwährende
christlich-antijüdische
Stereotypen, unterschiedliche Wirtschaftsweisen, Bräuche und Verhaltensformen bewirkten
eine ´Fremdheit?
der Juden, die durch gesellschaftliche Umbrüche verstärkt wurde. Nachbarschaftliche Nähe war aber auch
immer wieder von Vertrautheit geprägt. Die Bedingungen jener Spannung und ihres Umschlagens
in Aggressivität
? mit erheblichen gesamtgesellschaftlichen Folgen ? sollen von einem
einheitlichen Ausgangspunkt aus untersucht werden: der Lebenswelt des
Individuums. In ihr bündeln
sich die Innenwelten der Akteure mit den Einflüssen von Strukturen und Systemen. Erneut
werden neben einer gemeinsamen Publikation zwei Dissertationen und eine
Habilitation entstehen.
Gerade bei den beiden letzten Vorhaben wird deutlich,
dass der gemeinsame theoretisch-methodische Zugang die höchst unterschiedlichen Einzelthemen,
zwischen denen keine unmittelbaren Berührungspunkte bestehen, zusammenhält. Die
entsprechenden Diskussionen der MitarbeiterInnen erweisen sich als
ausserordentlich fruchtbar und geben den Einzelarbeiten entscheidende
Anregungen. Schon jetzt kann dieses Experiment als gelungen bezeichnet werden.
Durch die lebensweltliche Orientierung und deren Ausgestaltung haben wir die
Folgerung daraus gezogen, dass sich nicht nur in der Geschichtswissenschaft,
sondern auch in der historischen Sektion der Jüdischen Studien ein Paradigmenwechsel
vollzogen hat. Nach der Schoa konzentrierten sich die Forschungen zunächst auf die
Judenverfolgung und ?vernichtung während des ´Dritten Reiches?, auf die Geschichte des Antisemitismus
und der deutsch-jüdischen
Beziehungen, warfen also den Blick ´von aussen? auf das Leben von Jüdinnen und Juden. Abgesehen von
einigen Gelehrten, die sich mit der religiösen und geistesgeschichtlichen Entwicklung
des Judentums beschäftigten,
beginnt sich erst in jüngster
Zeit eine Sichtweise ´von
innen? auf jüdische
Themen auszubilden.
Für
die Beschäftigung
mit dem Ostjudentum lässt
sich eine ähnliche
Entwicklung beobachten. Nachdem die intensive wirtschafts-, sozial- und
alltagsgeschichtliche sowie volkskundliche Forschung in Osteuropa selbst durch
die NS-Zeit abgebrochen war, herrschte lange Zeit ebenfalls ein Zugang vor, der
vom staatlichen Handeln, vom Antisemitismus, vom Konflikt her fragte. Gottfried
Schramms Anstoss in den sechziger Jahren zur vergleichenden Untersuchung der ´Ostjuden als
soziales Problem? zeitigte anfangs nur wenig Wirkung. Erst seit den achtziger
Jahren erscheinen zunehmend sozial- und kulturgeschichtliche Arbeiten, die das
Leben der Juden zum Gegenstand hatten. Ausnahmen blieben allerdings nach wie
vor Studien, die Vorstellungen und Handlungen aus der Sicht der Juden selbst zu
rekonstruieren versuchen. Diese Beobachtung bestärkte uns in unseren Überlegungen, den lebensweltlichen
Ansatz zu erproben. Was ist damit gemeint?
Der Begriff ´Lebenswelt? kommt ursprünglich aus der Philosophie. Nach ersten Überlegungen zum
vorwissenschaftlichen, die unmittelbare Erfahrung verarbeitenden ´natürlichen
Weltbegriff? (Richard Avenarius, Ernst
Mach) sprachen seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr Philosophen von der ´Lebenswelt? (Ernst
Troeltsch, Rudolf Eucken, Georg Simmel, Wilhelm Dilthey). In Amerika machte W.
James in seinem Aufsatz ´The
Experience of Activity? von 1904 auf ´the world of life?
aufmerksam und beschrieb Lebenswelt als ein Medium menschlicher Erfahrung.
Wichtig war sein Hinweis, daß
es keine geschlossene Welt-Vorstellung gebe, sondern eine Vielzahl menschlicher
Lebenswelten, die sich wechselseitig bedingten.
Entscheidend für die Wirkung des Lebenswelt-Begriffes wurde
Edmund Husserls Phänomenologie.
Husserl knüpfte
an die erwähnten
lebensphilosophischen Konzepte ebenso an wie an Martin Heideggers Vorstellungen
von der ´Alltäglichkeit des
Daseins?, die dieser in seinem Hauptwerk ´Sein und Zeit? 1927 entwickelt hatte. Gegen
Auffassungen eines wissenschaftlichen Objektivismus setzte Husserl die
Erkenntnis, daß jede menschliche Erkenntnis subjektbezogen
und damit auch die Lebenswelt dieses Subjekts durch dessen Erfahrungen und
Wahrnehmungen bestimmt sei. Deren Verarbeitung, die Bewußtwerdung, vollziehe sich nicht
isoliert und autonom, sondern im Rahmen
vielfältiger
Verweisungszusammenhänge,
die Husserl als ´Horizont?
bezeichnet. Ja, er spricht sogar von ´Welthorizont? und identifiziert ihn mit der
Lebenswelt des Individuums.
Im Anschluß an diese Lehre hat der Lebenswelt-Begriff Einzug in die
empirische Forschung gehalten, namentlich in die Soziologie und Pädagogik. Zentral
ist er in der ´verstehenden
Soziologie?, vorab bei Alfred Schütz oder auch bei Thomas Luckmann, der auf Schütz? Arbeiten
aufbaut. Hier werden Wahrnehmung und Erfahrung des Subjekts durch empirische
Analyse mit dem Alltag verbunden. Dabei sehen die Autoren die Lebenswelt nicht
als abgeschlossenes, statisches System, sondern mit vielschichtigen
intersubjektiven Beziehungen verflochten. Der Kommunikation kommt deshalb
zentrale Bedeutung zu.
Diesen Ansatz greift Jürgen Habermas in seiner ´Theorie des
kommunikativen Handelns? auf. Allerdings wirft er Schütz
und der verstehenden Soziologie vor, letztlich beim ´Erleben einsamer Aktoren? (II, S. 198) stehenzubleiben
und die Bedeutung der Kommunikation trotz ausdrücklicher Betonung im Grunde nicht zu
erkennen. In diesem Verständnis
werde ´die
Lebenswelt mit dem kulturell überlieferten
Hintergrundwissen? identifiziert (II, S. 204), mit den ´kulturellen Deutungs-, Wert- und
Ausdrucksmustern? (II, S. 203). Dabei könnten wir aber nicht stehenbleiben, ´wenn wir die
Lebensweltanalyse als einen Versuch verstehen, das, was Durkheim Kollektivbewußtsein genannt hat
(oder Halbwachs das kollektive Gedächtnis), aus der
Innenperspektive der Angehörigen rekonstruktiv zu beschreiben? (II, S. 203).
Habermas macht darauf aufmerksam, daß der Aktor zugleich der ´Initiator zurechenbarer Handlungen
und das Produkt von Überlieferungen (ist), in denen er steht, von solidarischen
Gruppen, denen er angehört,
von Sozialisations- und Lernprozessen, denen er unterworfen ist? (II, S.
204/205). Er hat also Elemente des kollektiven, kulturellen und kommunikativen
sowie des sozialen Gedächtnisses
? um die Begrifflichkeit der derzeitigen Erinnerungsforschung zu verwenden ?
einbezogen und gleichzeitig als das aktive ´Eigene?, das in den bisherigen Gedächtnismodellen nur
indirekt angesprochen ist, deutlich benannt. Konsequent gilt Habermas
Lebenswelt als ´Komplementärbegriff zum
kommunikativen Handeln? (II, S. 182, 198). Kommunikativ bedeutet für ihn ´verständigungsorientiert?
(II, S. 184, vgl. I, S. 149 ff., 410 ff., 435 ff.). ´Aus der Perspektive von Teilnehmern
erscheint die Lebenswelt als horizontbildender Kontext von Verständigungsprozessen
(...)? (II, S. 205).
Entscheidend für die Weiterentwicklung des
Lebenswelt-Begriffes ist hier der Perspektivenwechsel auf den Teilnehmer, auf
den Aktor. Aus seiner oder ihrer Sicht im Alltag (II, S. 206) wird
Kommunikation, Handeln und Lebenswelt als ´kognitives Bezugssystem? (II, S. 207)
rekonstruiert. Wenn wir als Historikerinnen und Historiker dies tun,
analysieren wir zugleich anhand von Kommunikationsprozessen und Interaktionen
des Akteurs dessen Vernetzungen (II, S. 207). Im Begriff der Lebenswelt treffen
sich bei Habermas strukturelle Komponenten, nämlich die Kultur ? der Wissens- und
Deutungsvorrat für
die ´Kommunikationsteilnehmer?
? und die Gesellschaft ? die sozialen
Ordnungen und Bezüge
? sowie diejenigen der Persönlichkeit,
die ihr Kompetenzen verleihen und sie
damit handlungsfähig
machen, mit situationsbedingten, individuellen Faktoren (II, S. 209). Stärker als die phänomenologischen
Philosophen und verstehenden Soziologen sieht Habermas die Dialektik des
Prozesses zwischen Akteur, Binnenperspektive und Einflüssen von außen (II, S. 223 ff.). Deutlicher könnten wir
formulieren: Die Historikerin oder der Historiker rekonstruiert die Vorgänge aus der Sicht
des Akteurs in seiner Lebenswelt, analysiert insofern auch das, was auf ihn
oder sie von außen
einwirkt, etwa die sozialen Strukturen. Das bedeutet unbedingt, dass sich die
Historikerin oder der Historiker in diesem Prozeß selbst reflektieren muß, um die
verschiedenen Ebenen auseinanderzuhalten.
Auf diesem Weg kommt Habermas zu einem weiteren
massgeblichen Unterschied gegenüber bisherigen Ansätzen. Er stellt fest, daß ein ausschließlicher Blick auf
die Binnenperspektive des Aktors einen wesentlichen Bereich ausser acht läßt: Die
Gesellschaft ist auch von Vorgängen und Zusammenhängen geprägt, die der Akteur überhaupt nicht wahrnimmt, die er auch
nicht beabsichtigt hat. Habermas nennt dies ´systemische Mechanismen? (II, S. 226). Im
Kapitalismus und im modernen Staat seien solche Systeme etwa der Markt, die Bürokratie oder das
Rechtssystem. Im Grunde greift er hier auf Marx zurück, der festgestellt hatte, daß der Proletarier
von Gesetzmäßigkeiten
bestimmt werde, die sich ´hinter
seinem Rücken?
vollzögen, die
er also nicht durchschaue; erst im Sozialismus werde er durch bewußte Teilnahme an
der Steuerung der Gesellschaft Herr dieser Gesetzmäßigkeiten werden. Laut Habermas
stellen somit Lebenswelt und System zwei voneinander zu unterscheidende
Mechanismen dar, die auf verschiedenen Arten von Handlungen und
Interpretationsformen beruhen. Das lebensweltliche, kommunikative Handeln ist
verständigungsorientiert.
Systeme hingegen sind nach seiner Meinung selbstgesteuert, nicht kommunikativ.
Eine Gesellschaft differenziere sich als System wie als Lebenswelt aus,
Gesellschaften stellen ´systemisch
stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen? dar (II, S. 228).
Habermas trennt beide Bereiche voneinander, entkoppelt sie (II, S. 229 ff.),
auch wenn sie eng verbunden sind. Je stärker die systemischen Elemente seiner
Meinung nach werden ? und das gilt für den Prozeß von der archaischen Gesellschaft bis zur Moderne ? , um so mehr lösen sie sich von den sozialintegrativen ab
und um so nachhaltiger bestimmen sie die ´eigensinnigen Strukturen der Lebenswelt?
mit dem ´vortheoretischen
Wissen? ihrer Angehörigen
(II, S. 229). Diese Lebenswelt bleibe als ´Subsystem? durchaus erhalten. Schließlich komme es zu
einer ´Kolonialisierung?
der Lebenswelt, die die Moderne kennzeichne (II, S. 293). Der Mensch werde
immer stärker
fremdgeleitet (vgl. II, S. 593).
Es ist hier nicht der Ort, die Habermassche Theorie im
einzelnen darzustellen und zu kritisieren. Ihr großes Verdienst ist es, den Begriff Lebenswelt
differenziert entfaltet und ausgeleuchtet zu haben und über die bisherigen Vorstellungen
hinausgegangen zu sein. Nicht zuletzt über Habermas hat der Begriff dann endlich
auch Einzug in die Geschichtswissenschaft gehalten. Bald standen sich Alltags-
sowie Sozial- und Strukturhistoriker gegenüber. Während sich die einen seit den achtziger
Jahren vermehrt den ´eigensinnigen?
Verhaltensformen der Menschen im Widerstand gegen oder in der Anpassung an
Systeme zuwandten, nahmen die anderen den Habermasschen Gedankengang auf, daß die modernen
Systeme die Lebenswelten zurückdrängten. Nicht die ´kleinen Leute?, so
argumentierte etwa Hans-Ulrich Wehler, bestimmten den Gang der Geschichte,
sondern die Systeme: der Staat, der Kapitalismus, die Bürokratie, der Markt, die Ideologien.
Die Systeme wurden auf diese Weise zu Handlungsträgern der Geschichte. Die Hinwendung zu den ´kleinen Leuten? könne die moderne
Welt nicht mehr erklären,
sei nur für
die früheren,
eher lebensweltlich organisierten Gesellschaften analytisch sinnvoll. Im Grunde setzt sich dieser Ansatz auch in
neueren Theorien fort, so wenn Wissenschaftler, die mit einem enggefassten
Diskursbegriff arbeiten, davon ausgehen, daß nicht Menschen, sondern Diskurse in den
gesellschaftlichen Prozessen handelten.
Rudolf Vierhaus sieht hingegen in der ´Rekonstruktion
historischer Lebenswelten? eine Möglichkeit, den ´Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte? (S. 9) auf ´die von den
Menschen erfahrenen (?) Wirklichkeiten des gesellschaftlichen Prozesses? (S. 8)
zu erweitern. Unter ´Lebenswelt?
versteht er ´die
? mehr oder weniger deutlich ? wahrgenommene Wirklichkeit (?), in der soziale
Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum
Wirklichkeit produzieren? (S. 13). Der Mensch könne im Laufe seines Lebens ´in verschiedenen
Lebenswelten gleichzeitig leben? (S. 14). Wenn Lebenswelt ´raum- und
zeitbedingte (?) gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausgeformte,
symbolisch gedeutete Wirklichkeit? sei (S. 14), liessen sich ´strukturanalytische
Methoden der Sozialwissenschaft mit phänomenologischen Methoden der
Kulturwissenschaften verbinden und die Dichotomien zwischen objektiven
Strukturen sozialer Wirklichkeit und subjektiven Vorstellungen von dieser
Wirklichkeit überwinden?
(S. 14/15). Der Historiker, von der ethnologischen Methode der ´teilnehmenden
Beobachtung? lernend, trete in einen ´Prozeß der sich gegenseitig
kontrollierenden Interpretation und der dichten Beschreibung? ein (S. 15).
Diese angestrebte ´ von konkreten Lebenswelten? begreife sich als ´historische
Kulturwissenschaft? (S. 16).
Mit der Kategorie der Lebenswelt kann am Habermasschen
Hinweis angeknüpft
werden, Akteur, Binnenperspektive und Einflüsse von außen ? eben die Systeme ? stünden in einem
dialektischen Zusammenhang. Warum soll das seit dem 19. Jahrhundert anders
sein? Die Systeme handeln nicht selbst, sondern vermittelt über Menschen: Angehörige der Bürokratie,
Teilnehmer der Marktprozesse, Ausführende der Rechtsordnung. Für diese Menschen sind jene Systeme
unmittelbare Teile ihrer Lebenswelt. Und für diejenigen, die von den systemischen Elementen eher betroffen sind als dass sie
sie aktiv tragen, sind sie es im Grunde auch: Sie müssen sich ständig mit der Arbeits- und
Sozialordnung, mit dem Recht, mit dem Markt auseinandersetzen. Indirekt
gestalten sie damit diese Systeme mit. Darauf hatte bereits Habermas
hingewiesen: der Akteur sei nicht nur ´Produkt?, sondern auch ´Initiator?. Und
warum soll im lebensweltlichen Bereich, ohne die Bedeutung von Wahrnehmung und
Erfahrung schmälern
zu wollen, nur das intuitive, vortheoretische Wissen eine Rolle spielen? Die
Beschäftigung
mit Wissenschaft und Theorie kann durchaus zum Alltag gehören. Insofern wäre es angemessen,
auch für die
Neuzeit nicht von einem Gegensatz von System und Lebenswelt, nicht von zwei
voneinander weitgehend abgelösten
Bereichen zu sprechen, sondern die systemischen Elemente partiell ? und
individuell unterschiedlich ? in die jeweiligen Lebenswelten zu integrieren.
Allerdings müsste
dann ebenfalls die Habermassche Annahme aufgeben werden, Kommunikation sei
immer verständigungsorientiert.
Auch konflikt? oder gar gewaltorientierte Interaktion kann eine Form der
Kommunikation sein.
Der lebensweltlich orientierte Zugang zur Erforschung
von Geschichte versteht sich als Teil einer Kulturwissenschaft, die ´Kultur? in einem
weiten Sinn als ´Medium
historischer Lebenspraxis? begreift. Im Mittelpunkt steht somit der Mensch in
seinen Verhältnissen.
Welche symbolischen Ordnungen
einschliesslich Verschlüsselungen,
Codes, Einstellungen, Normen und Werte bestimmen das Verhalten von Menschen? Über welche
Deutungsmuster kann er verfügen?
Wie verarbeitet er Wahrnehmungen und Erfahrungen? Dieser
kulturwissenschaftliche Blick auf Menschen und ihre Geschichte muß sich deshalb
untrennbar von ihnen aus auf die Beziehungen zu anderen Menschen ? zu Einzelnen
und zu sozialen Gruppen ?, zu den symbolischen Ordnungen und ihren Repräsentationen, zu den
Strukturen in der Gesellschaft und deren Einflüssen auf das Leben einzelner Menschen
richten, auf ihre Verknüpfung
mit der jeweiligen Umwelt, auf Vernetzungen und Mechanismen. Bei einer solchen
Perspektive besteht kein Gegensatz
zwischen individueller Lebenswelt und gesellschaftlicher Struktur, zwischen
Mikro- und Makro-Geschichte, sondern
die Lebenswelt bildet gleichsam die Schnittstelle, in der sich Individuum und
System bündeln.
Das Individuum findet in seiner Lebenswelt eine
bestimmte Situation vor, etwa materielle Bedingungen,
politisch-gesellschaftliche Verhältnisse, vorherrschende Ideologien. In einer
Wechselwirkung mit Natur und Sozialwelt bilden sich in seiner Innenwelt Gefühle, Einstellungen,
Wahrnehmungsweisen heraus. Der Mensch verarbeitet auf diese Weise die Aussen-
und Innenwelt. Er entwickelt bestimmte Denk- und Verhaltensweisen, Handlungen,
die die Strukturen möglicherweise
ebenso verändern
wie seine eigene Innenwelt. Mit der Analyse der individuellen Lebenswelt werden
somit zugleich exemplarisch Strukturen und Systeme ? materielle, symbolische,
mentale, emotionale ? analysiert. Da das Individuum nicht isoliert lebt,
sondern im Kontakt mit anderen Individuen und deren Lebenswelten steht, bleibt
die Analyse nicht im Punktuell-Beliebigen stecken, sondern kann das Netz
interkultureller gesellschaftlicher Beziehungen sichtbar machen. Zusammenhänge und Mechanismen
in ihren wechselseitigen Bedingungen geraten ins Blickfeld, die Geschichte zerfällt nicht in lauter
Einzelteile. Zugleich wird es möglich, eine vorzeitige Blickverengung auf eine reine
Strukturgeschichte, auf nur subjektive ´Geschichten? oder auf symbolische Systeme
zu vermeiden. Die Lebenswelt der Akteure steht jeweils in ihrem historischen
Kontext. Die sozialen und ökonomischen
Verhältnisse,
die gesellschaftlichen ? kulturellen, geschlechtsbezogenen und sozialen ?
Unterschiede, die Herrschaftsorganisation und Machtverteilung werden mit
untersucht. Individuelle, lokale, Regional- und Alltagsgeschichte in ihrem
uneinheitlichen, vielschichtigen und fragmentarischen Nebeneinander sind
zugleich Gesellschaftsgeschichte.
Indem Historikerinnen und Historiker den
Kommunikationsprozess der untersuchten Individuen verfolgen, treten sie selbst
in ihn ein: Sie versuchen, sich den Menschen und deren Lebenswelten, wie sie
sie in den Quellen kennenlernen, so zu nähern, als sässen sie ihnen im Zeitzeugengespräch der ´Oral History?
gegenüber und
müssten dies
anschliessend auswerten ? wenngleich im Bewusstsein, keineNachfragen stellen zu
können. Für sie ist der
Mensch in den Quellen ein ernstzunehmender Dialogpartner, nicht lediglich ein
Untersuchungsobjekt, seine ƒusserungen und Handlungen dienen nicht einfach
als illustrierende Belegstelle. Das bedeutet, in die vielfältigen
Wechselbeziehungen und -wirkungen die kritische Reflexion des eigenen Vorverständnisses, der ihm
bekannten oder neu anzueignenden Theorien und Methoden sowie des laufenden
Bewusstmachungsprozesses mit einzubringen. Durch diesen Dialog wird es auch möglich, sich ´das Eigene? ´fremd? zu machen
und umgekehrt.
Als Beispiel eines solchen Vorgehens erwähne ich ein eigenes
Projekt. Nach verschiedenen Vorstudien möchte ich jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und
1930 unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation rekonstruieren. In einer ersten
Annäherung
habe ich die Sichtweisen von Jüdinnen und Juden anhand exemplarischer Selbstzeugnisse mit
den Begegnungsorten im Schtetl in Beziehung gesetzt ? so, als würde bei einem
fiktiven Rundgang jemand aus seinem Leben erzählen. Ansatzweise wurden dabei die Umrisse
des Kommunikationsgefüges
im Schtetl deutlich. Die gewissermassen selbstverständliche Interaktion zwischen Juden
und Nichtjuden funktionierte so lange, wie der Gleichgewichtszustand, der sich
herausgebildet hatte, nicht gestört wurde. Befürchtungen, dass unterschwellig vorhandene Spannungen
aufbrechen, etwa judenfeindliche Klischees innerhalb der Dialektik von vertraut
und fremd in gewalttätige
Aktionen umschlagen könnten,
waren vielfach gegenwärtig.
Innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft kam ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck. Der Verlust des
Gleichgewichtszustandes wirkte jedoch durchaus auf sie zurück. Um das
Gleichgewicht zu erhalten, waren die verschiedenen Kommunikationsräume im Schtetl klar
umrissen und sorgfältig
voneinander getrennt, aber zugleich durch formell geregelte Beziehungen ? so
durch die Einbeziehung von Christen in rituell-religiöse Handlungen der Juden ? wie auf
informelle Weise durch gegenseitige Achtung und viele Kontakte verbunden. Störungen ergaben sich
vor allem, wenn jemand von der einen in die andere Welt vorzustossen suchte:
Eine christlich-jüdische
Liebesbeziehung brachte die Ordnung durcheinander, die Suche nach einer auskömmlichen Existenz
liess Juden und Christen zu ökonomischen
Konkurrenten werden, ein selbstbewusster jüdischer Sozialist oder Zionist drang in
nichtjüdische
Bereiche vor und erregte damit Befremden, nicht zuletzt in seinem bisherigen jüdischen Umfeld. Die
demographischen, wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Veränderungen seit der
zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts machten andere Kommunikationsregeln notwendig. Das Ringen
um einen neuen Gleichgewichtszustand war in manchen Selbstzeugnissen spürbar.
In einem nächsten Schritt könnte aufgrund der vorläufigen Ergebnisse ein Fragenkatalog
zusammengestellt werden, mit dessen Hilfe die Berichte der Gewährsleute noch
einmal zu durchdenken wären.
Abgesehen von Unterscheidungen nach Alter, Geschlecht, sozialem Rang, religiöser und politischer
Einstellung liessen sich etwa die Konfliktregelungen im Schtetl oder in anderen
Siedlungsformen genauer untersuchen, weiterhin die Wechselwirkungen zwischen
Gefühlen,
Einstellungen sowie Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen mit den
jeweiligen materiellen und symbolischen Strukturen, die Zusammenhänge der persönlichen Ebenen mit
den übergreifend
gesellschaftlichen thematisieren. Schliesslich könnten im Dialog mit den Selbstzeugnissen
Erinnerungsvorgänge
verdeutlicht und gefragt werden, was sie für die Lebensgestaltung und für das Zusammenleben
mit Juden wie mit Nichtjuden bedeuteten. Im Vergleich mit Selbstzeugnissen aus
anderen kulturellen Zusammenhängen
wäre der
Stellenwert von Erinnerung für
Verhalten und interkulturelle Beziehungen präziser zu fassen. Die lebensweltliche
Orientierung hätte
den Akteuren ihren Platz in der Geschichte gegeben, den sie eingenommen hatten,
und aus ihrer Perspektive einen Ausschnitt gesellschaftlicher Vorgänge entschlüsselt. In der
Auseinandersetzung mit den Quellen und in der Selbstreflexion können Historiker
sowie ? vielleicht ? Leserinnen und Leser die Zusammenhänge von individuellem Denken und
Handeln mit Strukturen nachvollziehen, gleichsam ´probehandeln?, und Folgerungen für sich selbst
ziehen.
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