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Archive - Die Russen in Warschau (1815-1915) - Comments

Malte Rolf - 19.07.2006 22:39

Projektdiskussion im Virtuellen Seminar Basel/Иeljabinsk: Reaktion zu den Kommentaren


Sehr geehrte Kollegen,

zunaechst einmal moechte ich mich fuer die rege Beteiligung und die zahlreichen Anmerkungen, Kritiken, Vorschlaege und auch Nachfragen herzlich bedanken. Die UEberlegungen und Kommentare habe ich als sehr hilfreich empfunden. Ihnen allen daher mein Dank fuer die Zeit, die Sie in die Diskussion meines Projektes investiert haben.

Im Folgenden moechte ich auf die Diskussion reagieren. Ich werde dabei nicht die einzelnen Aspekte abhandeln, sondern gebuendelt auf Fragen/Kritiken eingehen. Ich hoffe, dass ich die wesentlichen Punkte anspreche. Die Reihenfolge meiner Antworten spielt dabei im uebrigen keine Rolle.

Sollten Sie Nachfragen haben oder einen Kommentar zum Kommentar verfassen wollen, wuerde ich mich auf Rueckmeldungen von Ihrer Seite natuerlich sehr freuen.


1. ?historisches Gedaechtnis?

Ich stimme den Kommentaren, die auf die historischen Tiefenschichten von Stereotypen und Vorstellungen ueber das russisch-polnische Verhaeltnis verweisen, voellig zu. Es ist in der Tat wichtig, den kulturellen Kontext, in dem Erfahrungen gemacht und artikuliert werden, zu beruecksichtigen und dabei auch auf die UEberlieferung historischer Erinnerung zu achten. Die russischen Beamten gingen nicht als tabula rasa nach Warschau, sondern hatten gewisse Vorstellungen vom Polnischen im Reisegepaeck. Aber solche Vorstellungen sind nicht erfahrungsresistent. Insofern ist das Wechselspiel aus mitgebrachten Stereotypen und gemachten Erfahrungen zu untersuchen (und damit ist nicht gemeint, dass Erfahrungen unbedingt zu einer Relativierung falscher Stereotype fuehren. Ganz im Gegenteil verfestigen sie diese oft eher; aber auch das ist ein Wandel, der der Erfahrung vor Ort geschuldet ist).
Auch ist zu bedenken, dass ein historisches Gedaechtnis nicht einfach ?da ist?, sondern nur in der Kommunikation existiert und im Verlauf der Geschichte weitergegeben wird. Nicht die Erfahrungen russisch-polnischer Begegnungen waehrend der smuta selber, sondern das Bild eben dieser im 19. Jahrhundert ist also zu untersuchen. Das jedoch ist zweifellos ein wichtiger Aspekt.
Im uebrigen kann an der entscheidenden Rolle, die die ?polnische Frage? fuer die Entwicklung einer russischen OEffentlichkeit gespielt hat, gar kein Zweifel bestehen. Das hat Andreas Renner in seiner Studie ueberzeugend nachgezeichnet.


2. Selbstverstaendnis der russischen Beamten

Das Selbstverstaendnis der russischen Beamten steht im Mittelpunkt meiner Arbeit. Insofern ist von wesentlicher Bedeutung, welche Vorstellung sie von ihrer eigenen Rolle und Bedeutung hatten, ob sie sich in der der Traditionslinie imperialer Expansion sahen, sich als ?Okkupanten?, an der ?Peripherie? oder doch eher als ?Vorposten im Westen? empfanden.
Meine Quellenlektuere zeugt davon, wie sehr diese Beamten sich selber als Reichsrepraesentanten und Russen in einem ?fremden Land? (иu?oj kraj) empfanden. Anders als bei den Verwaltungstraegern in den ?westlichen Gouvernement?, bei denen das Empfinden vorherrschte, ?heimgeholte? russische Erde zu verwalten, war das Gefuehl von Fremdherrschaft im Koenigreich Polen sehr ausgepraegt. Dies bedeutete natuerlich nicht, dass die Beamten in irgendeiner Form an der Legitimitaet ihrer Anwesenheit zweifelten. Es deutet aber auf ihre Selbstwahrnehmung, sich an der okraina des Imperiums zu befinden. Insofern wuerde ich den Begriff Peripherie aufrecht erhalten, die Kritik an dem Begriff ?Okkupation? leuchtet mir andererseits ein.
Der Aspekt der ?Sprache? ist in diesem Zusammenhang natuerlich ein ganz zentraler, ebenso wie die Visualisierung solcher Selbst- und Herrschaftsverstaendnisse.


3. externe Bedrohung, aber auch externe oeffentliche Meinung

Ich kann nur zustimmen, dass diese Faktoren gewichtigen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung der Beamten, die Kommunikation zwischen Russen und Polen in Warschau, aber auch auf die Politikformulierung in Petersburg hatten. Vor allem die Wahrnehmung der anderen Teilungsgebieten Polens war eine sehr aufmerksame (ob als Bedrohung, Vor- oder Schreckbild) und die Generalgouverneure in Warschau waren gut ueber die Situation in Galizien oder Posen informiert.





4. Russifizierung, master plan und Sonderfall Koenigreich Polen

Natuerlich gibt es keinen master plan in der Geschichte, aber sehr wohl eine relativ stringente, mehr oder weniger ausformulierte politische Konzeption z.B. in Sachen Nationalitaetenpolitik. Die Bolschewiki verfuegten zum Beispiel ueber eine derartige Konzeption (korenizacija, die sie relativ einheitlich in den Weiten ihres Reiches implementierten) - die zarische Regierung und ihre buerokratischen Apparate nicht. Selbst die ?Russifizierung? als scheinbare Leitlinie der Politik Alexanders III. erfolgte in verschiedenen Gebieten in sehr unterschiedlichem MaЯe. Insofern stellten alle Peripherien einen einzigartigen Sonderfall dar ? das Koenigreich Polen unterschied sich hierin nicht von den Ostseegebieten, Finnland oder Zentralasien. Es waren in diesem Sinne allesamt unvergleichliche Einzelfaelle.
Und dennoch gibt es einen Kommunikationszusammenhang, der erlaubt die Peripherien des Reiches zusammenzudenken. Die Quellen (v.a. die Berichte der Gouverneure) verweisen selber auf diesen Zusammenhang: Die Referenz auf andere Randgebiete des Zarenreiches sind hier zahlreich, der Generalgouverneur in Warschau verglich seine Position bestaendig mit seinen administrativen AEquivalenten in den Ostseeprovinzen, in Finnland, im Kaukasus, auch in Zentralasien ? nicht jedoch mit den Gouverneuren in Voronez oder Saratov. Offensichtlich existierte in der Vorstellungswelt russischer Administratoren so etwas wie eine Idee des einheitlich-uneinheitlichen Reichsrandes (eben: okraina), als dessen Teil man sich sah und auf den man verwies. Mit Blick auf diese sehr heterogene Gebiete wurden auch im Koenigreich Polen gewisse Praktiken erprobt, die dann in anderen Provinzen (modifiziert) zum Einsatz kamen. Insofern laesst sich von einem Laboratorium sprechen, wenngleich nicht von einem stringenten master plan in Sachen Nationalitaetenpolitik.
Mit Blick auf die ?Russifizierung? ist noch einmal festzuhalten, dass es im Koenigreich NIE darum ging, aus Polen Russen oder aus Katholiken Orthodoxe zu machen. Von Russifizierung kann man hier nur im Sinne einer administrativen, rechtlichen und zu einem gewissen Grad auch bildungskulturellen Vereinheitlichung sprechen.


5. Zentrum-Peripherie (im Koenigreich) und Raum

Diesen Aspekt finde ich ganz zentral und ich plane, meine Untersuchung zu Warschau durch eine Lokalstudie zu ergaenzen. Aus quellentechnischen Gruenden und methodischen UEberlegungen bietet sich die Provinz Plock, aber auch die westliche Provinz Kalisch an. Die oestlichen ?Problemprovinzen? Cholm und Suwalki sind zum Teil schon erforscht (wenn auch meist unter einer anderen Fragestellung).
Die Frage nach dem topographischen Zusammenhang einer russischen Lebenswelt in Warschau, aber auch den kleineren Gouvernementshauptstaedten (wie Plock oder Kalisch) halte ich fuer ganz wesentlich. Ihre Untersuchung steht auf jeden Fall ganz oben auf der Forschungsagenda.


6. Grenzgaenger

Grenzgaenger gab es natuerlich auch in den Kreisen der Eliten (dazu unten mehr) und sowohl auf der russischen wie auch auf der polnischen Seite. Die polnischen Beamten (die auch nach 1863 immerhin fast 60% der imperialen Verwaltung im Koenigreich stellten) sind eine wichtige Untersuchungskohorte. Aber auch die polnischen Offiziere und die reichsloyalen Polen, wie Czartoryski oder die ugoda-Vertreter um Pil?c und Spasowicz, hatten groЯen Einfluss. Auf der anderen Seite gab es auch ?polonisierte? Russen, die wie GroЯfuerst Konstantin oder der im Expose genannte Warschauer Stadtpraesidenten Starynkeviи immer wieder die Sache der Polen (zumindest das, was sie darunter verstanden) zu verteidigen suchten. Im uebrigen gehoerte zu der kommunikativen Strategie der Generalgouverneure, sich Petersburg gegenueber als Repraesentant ?seiner Provinz? zu repraesentieren. Oft genug betonen die GG in ihren Berichten ihre guten Kontakte zu den loyalen Kreisen der einheimischen Bevoelkerung. Das Grenzgaengerphaenomen ist also vielschichtig.


7. das religioese Paradigma und der Gegensatz zwischen Katholiken und Juden

Es ist auffaellig, wie lange das religioese Paradigma bei der Wirklichkeitskonstruktion russischer Beamter vorherrschte oder zumindest eine zentrale Rolle spielte. Dies im uebrigen auch im Konflikt zu anderen Milieus der russischen Diaspora in Warschau (vor allem der Akademiker der Russischen Universitaet, die viel frueher und radikaler ?Herdersche? Kriterien der Bestimmung von Ethnizitaet anwandten). Nacional?nost und Konfession wurden aus de Perspektive der Administratoren auch um 1900 noch weitgehend als deckungsgleich betrachte (was u.a. hieЯ, dass man die Unierten zum ?russischen Element? dazurechnete, nachdem sie 1875 per Dekret in die orthodoxe Kirche eingegliedert worden waren).
Auch angesichts der langen Dominanz des konfessionellen Paradigmas bei der Bestimmung von Nationalitaet war die Differenzierung zwischen Juden und Katholiken/Polen in der Weltwahrnehmung der russischen Beamten einen ganz entscheidende. Das ?polnisch-juedische Gegenueber?, von dem im Expose die Rede war, sollte nicht suggerieren, dass Polen und Juden als das Gleiche wahrgenommen, aber sehr wohl beide als abgrenzendes Gegenueber betrachtet wurden. Die Unterschiede in der Wahrnehmung, aber auch im Umgang mit den beiden Konfessionen sollten in meiner Untersuchung sicherlich noch eine groeЯere Rolle spielen, als es bisher im Vorhaben angekuendigt worden ist.

8. Karrieren russischer Beamter

Meine Hoffnung ist, mit Hilfe meiner Untersuchung auch eine Studie zu den Karrierewegen imperialer Beamter vorzulegen. Ich plane, anhand einzelner Biographien (wie am Beispiel des angesprochenen Budiloviи) den moeglichen Verlauf einer solchen Karriere nachzuzeichnen und natuerlich auch nach dem Stellenwert der ?Warschauer Erfahrung? in dieser Karriere zu fragen. Ich hoffe, dabei gleichfalls mehr ueber die Auswahlkriterien fuer einen Dienst in Warschau herauszufinden.


9. Homogenitaet der russischen Gemeinde in Warschau

Ich hatte gehofft, in meinem Expose auf die fehlende Homogenitaet der russischen Gemeinde in Warschau deutlich genug hingewiesen zu haben. Offensichtlich ist hier aber noch Klaerungsbedarf. In der Tat unterschieden sich verschiedene Milieus der russischen Gemeinde deutlich. Ich habe nicht vor, alle Milieus gleich ausfuehrlich zu behandeln. Eine gewisse Schwerpunktsetzung erfordert schon der Forschungspragmatismus. Der Schwerpunkt meiner Studie liegt eindeutig auf den Eliten (administrativern und akademischen). Einerseits sehe ich daran nichts Verwerfliches: Ich denke nicht, dass ?die Vielen? unbedingt eher zum historischen Untersuchungsgegenstand erklaert werden muessen als die Eliten. Zum anderen sind die Eliten mit Blick auf die mich interessierenden Fragen - der Auspraegung eines Bildes vom Selbst, der Vorstellung einer imperialen oder nationalen Mission und der Versuch, diese Vorstellungen nach Moskau und St. Petersburg zu kommunizieren - aber auch das relevantere Milieu. Phaenomene des Grenzgaengertums lassen sich in diesen Kreisen im uebrigen genauso gut untersuchen.


10. zeitlicher Untersuchungsrahmen

Zunaechst einmal ist natuerlich festzuhalten, dass jede chronologische Setzung eines Untersuchungszeitraumes ?beliebig? ist, da sie aus der Konstruktionsarbeit des Historikers erwaechst. Es gibt immer gute Gruende, den Untersuchungszeitrahmen auszudehnen. Es gibt aber auch solche, ihn noch radikaler einzuschraenken. Ich beabsichtige, zweiteres zu tun. Aus methodischen und forschungspragmatischen UEberlegungen tendiere ich derzeit dazu, die Untersuchung auf die Jahre 1863 bis 1915 zu beschraenken. Mir erscheint ? angesichts begrenzter Forschungskapazitaeten ? die Konzentration auf den Zeitraum nach der Niederschlagung des Januaraufstandes von 1863 als ratsam. Der grundsaetzliche Unterschied der russischen Herrschaft im Koenigreich in den Jahren 1815-1830 und der Phase zwischen November- und Januaraufstand zu der Periode nach 1863 scheint mir die Studie ueberzustrapazieren. Es gibt auch einen Grad an Komplexitaet, der einer historischen Studie schadet, da die vielen Ebenen in der Erzaehlung nicht mehr zusammengefuehrt werden koennen.
Mir erscheint daher eine Konzentration auf die Phase nach dem Januaraufstand als Gewinn, da sich diese Phase durch eine relative Einheitlichkeit der Problematik der ?polnischen Frage? im Zeitalter des Nationalismus auszeichnete. So unterschiedlich die Reaktionen der einzelnen Beamten oder auch der verschiedenen Milieus auch waren, sie bezogen sich doch alle auf die gleiche Grundproblematik (und hier sehe ich kein Problem der ?Vermischung?, wenn Phasen und Momente der Konfrontation mit denen der Verstaendigung und Zusammenarbeit kontrastiert werden - Konfrontation und Verstaendigung fanden oftmals parallel und zeitgleich statt). Das ist etwas, was sich zur Zeit vor 1863 nicht sagen laesst. Eine derartige gleiche Grundproblematik bestand in der langen ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts nicht. Insofern denke ich, dass eine staerkere zeitliche Konzentration der Studie groeЯere Stringenz verleiht und andererseits die Moeglichkeit gibt, die unterschiedlichen Antworten auf die gleiche Frage detaillierter und dichter zu untersuchen (denn keinesfalls ist eine Untersuchung angedacht, die nur auf der Markoebene verharrt). Ein solcher zeitlicher Fokus bedeutet natuerlich nicht, dass man die historischen Tiefenschichten gaenzlich aus dem Blick verliert (siehe Punkt 1). Vielmehr geht es darum, die Arbeit an den Quellen sinnvoll zu konzentrieren und damit handhabbar zu machen.


Womit wir beim letzten Punk angelangt waeren:

11. Quellen

Den Bolschewiki ist zu verdanken, dass die SchlieЯung des RGIA keinen so groЯen Verlust darstellt, wie es zunaechst erscheinen mag. Da die Archivbestaende, die in den Augen der bolschewistischen Archivare etwas mit der ?revolutionaeren Bewegung? zu tun hatten, an das GARF uebergeben wurde und sich diese ?revolutionaere Bewegung? im Koenigreich Polen besonders aktiv zeigte, finden sich ein GroЯteil der Aktenbestaende des Warschauer Generalsgouverneurs (bzw. der Kanzlei), aber auch des Komitees fuer die Angelegenheiten des Koenigreichs Polen, sowie Dokumente der Oberpolizeimeister im GARF. Bei einem kuerzlichen Besuch in Warschau konnte ich mich darueber hinaus vergewissern, dass auch in Warschau, vor allem aber in den Provinzarchiven (Plock, Kalisch) umfangreiches Archivmaterial die Kriegszerstoerungen ueberstanden hat.
Zudem sind fuer mein Thema die publizierten Denkschriften der Warschauer Administratoren und Akademiker, die sich mit der ?polnischen Frage? befassten, ebenso wichtig wie die Archivbestaende. Ein groЯer Korpus solcher Publikationen wird in der Leninka aufbewahrt. Fuer die lebensweltliche Dimension der russischen Gemeinde in Warschau ist darueber hinaus deren Presseorgan ?Varshavskij Dnevnik? eine zentrale Quelle. Das Problem ist also weniger das Fehlen von Quellen als das Fehlen von Lebenszeit, erstere zu lesen. Aber das Problem ist ja ein altbekanntes.

Soweit meine Reaktion auf Ihre Kommentare. Ich moechte mich abschlieЯend noch einmal fuer die Anregungen, die Kritik und Nachfragen bedanken. Wie schon gesagt, habe ich die Diskussion meines Projektes als groЯer Bereicherung empfunden. In diesem Sinne habe ich Werbung fuer das Virtuelle Seminar bei uns am Berliner Lehrstuhl gemacht. Ich hoffe, das Seminar wird auch in Zukunft einen derart regen wie anregenden Diskussionsaustausch pflegen.

Mit bestem Dank an alle Beteiligten und besten GrueЯen aus Berlin

Malte Rolf


Oxana Nagornaja - 03.06.2006 17:14
Lieber Malte,
vielen Dank fuer den Text. Das Projekt ist im positiven Sinn anspruchsvoll, und ich bin auf das Ergebnis sehr gespannt.
Jetzt ein paar Kommentaren:
1. Mir scheint, dass die russische Diskussion ueber Polen, sowie die Politik in dieser komplizierten Region muss auch durch den aeuЯeren Faktor ? die ?oeffentliche? Meinung der westeuropaeischen Laender ? beeinflusst worden sein.
2. Dein Projekt ist zwar ausfuehrlich und vielschichtig strukturiert, aber mir fehlt im zweiten Teil der Untersuchung ein militaerischer Aspekt, naemlich die Frage ueber die Mobilisierung von Polen in die russische Armee. Aufgrund meiner Quellen zur (Vor)Geschichte des Ersten Weltkrieges, kann ich eine lebhafte Diskussion der russischen Militaerbehoerden zum Thema feststellen. Sie war sehr stark von Stereotypen und Fremdbildern gepraegt. Da die Polen als potentielle Verraeter bestimmt worden waren, hatten die russischen ?Genstabisten? ihre Versetzung an die Kaukasusfront oder Verteilung innerhalb der russischen AK geplant.
3. Mich wuerde auch interessieren, welche professionelle und persoenliche Beschaffenheiten fuer die Wahl der russischen Beamten in Polen eine entscheidende Rolle spielten (Sprachkenntnisse, politische Zuverlaessigkeit)?
Mit freundlichen Gruessen,
Oxana

Olga Nikonova - 29.05.2006 14:12
Lieber Malte,

vielen Dank fuer Deinen interessanten Text. Die Problemstellung und die Zugaenge zum Thema interessieren mich insofern, dass ich mich in meiner eigenen Forschung auch mit Fragen der Herrschaft, Nationalitaetenpolitik etc. beschaeftige, obwohl es um das ?Rote Imperium? geht.

Fragen und Kritik:

1. In Solidaritaet mit Basler Kollegen: Die sozialhistorischen Aspekte der Forschung scheinen mir weniger durchdacht als alle andere. Die russische Gemeinschaft in Warschau war nicht homogen und schloss die Vertreter aus unterschiedlichen sozialen Gruppen ein. Es kann angenommen werden, dass ihre Vorstellungen ueber Herrschaft, ?Russisches? und ?Polnisches? auch unterschiedlich waren. Wie rekonstruierst Du die Vorstellungen aus den ?unteren Schichten?? Sie scheinen nicht zu unwichtig sein, weil die im Text erwaehnten ?schweigenden Kosakenpatrouillen? die unmittelbaren Repraesentanten der russischen Herrschaft waren. Die Quellen, die Du benutzt, geben keine Antwort auf diese Fragen.
2. Ich habe Probleme, wenn Warschau als russische Periferie thematisiert wird. Aus administrativer und geographischer Sicht ? ja. Aus kulturhistorischer Sicht muss der Begriff ?Peripherie? im Fall Polen, Finnland, Baltikum wahrscheinlich vorsichtiger angewendet werden. Im russischen imperialen Kontext bedeutete Peripherie ein Territorium mit unterentwickelten Wirtschaft, fremdsprachigen und barbarischen Bevaelkerung etc. Diese Charakteristik betraf nicht immer die staedtische Zentren der Peripherie, die sehr russifiziert waren. Koennte dabei das Konzept der ?lokalen Gesellschaft? behilflich sein?
3. Das Problem der Visualisierung der Herrschaft, die im Text nur angedeutet ist, scheint sehr interessant zu sein. Wahrscheinlich koennen auch Mauer, Stadtteilung und Orte mit kompakt lebenden Russen auch etwas ueber die russische Herrschaft und die Kommunikation zwischen zwei (oder mehreren) Kulturen nicht nur auf der Ebene der Eliten sagen.
4. Post-colonial Studies gehen davon aus, dass die Sprache eine sehr wichtige Rolle im Praktizieren der Herrschaft und Unterdrueckung spielt. Im Text wird die Sprache nur im Teil mit Quellen thematisiert. Ist die ausfuerlichere Untersuchung zu diesem Problem vorgesehen?


Ich wuensche Dir viel,viel Erfolg mit Deinem Projekt,

Olga



Uni Basel - 25.05.2006 14:02
Die Arbeitsgemeinschaft zur j?dischen und osteurop?ischen Geschichte und
Kultur hat in ihrer Sitzung ausf?hrlich ?ber Malte Rolfs Exposee seines
neuen Forschungsprojektes debattiert. Das folgende Protokoll h?lt einige
Kritikpunkte sowie Nachfragen fest.
Kommen wir zuerst zur Kritik: es f?llt auf, dass Rolfs Zeitansatz
1815-1915 beliebig scheint. Er verdeutlicht nicht, warum ausgerechnet
mit der Zeit Kongresspolens seine Untersuchung ansetzen sollte. Gerade
die tiefen Einschnitte in die polnische Gesellschaft in der Zeit der
Aufteilung Polens sind doch zu ber?cksichtigen. Durch Ausklammerung
dieser Zeit werden einige wichtige Prozesse unber?cksichtigt gelassen,
die wir f?r entscheidend halten.
Weiterhin halten wir es f?r schwierig, die polnische Perspektive
weitgehend unber?cksichtigt zu lassen. Zugegeben, es handelt sich bei
Rolfs Untersuchung um Russen in Polen, speziell in Warschau, doch betont
er gerade auch die ?transnationalen? Beziehungen zwischen Polen und
Russen; in den Quellenangaben fehlen jedoch weitestgehend die polnischen.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Untersuchungsrichtung: Will Rolf
nur Eliten (in Form der B?lle) untersuchen? Will er die Zugeh?rigkeit zu
Klassen oder zur Nation ber?cksichtigen? Wird es denn bei seinem
Forschungsaufriss nur um die oberen Gesellschaftskreise gehen? Dabei
ergibt sich f?r uns das Problem, ob die Elite tats?chlich der richtige
Ort ist, um die Grenz?berschreitung von Kultur(en) zu untersuchen. Wenn
ja, dann m?sste Rolf unserer Ansicht nach noch den Ideenaustausch besser
ber?cksichtigen, so vor allem auch den Einfluss franz?sischen
Gedankenguts infolge der Franz?sischen Revolution. Auch ist zu bedenken,
ob die Eliten nicht bewusst ein anderes Bild vom gegenseitigen
Kulturkontakt wiedergegeben haben.
Unklar bleibt uns Rolfs Betonung des Fehlens eines ?master plans?. Wir
gehen ohnehin davon aus, dass es in der Geschichte von Kulturkontakt und
Austausch von Ideen zwischen Menschen keinen master plan geben kann,
sondern sich vielmehr Menschen und deren Lebenswelten und ?einstellungen
treffen, die dann in ihrem Umfeld zu untersuchen sind.
H?chst aufschlussreich halten wir seinen innovativ klingenden Ansatz zur
Kommunikationsuntersuchung. Massenanl?sse als verdichtete Kommunikation
scheinen uns viel ?ber das Miteinander von Polen und Russen in Warschau
aussagen zu k?nnen. Doch wird Rolf eine makrohistorische Perspektive
w?hlen? Sind ihm Grossanl?sse wichtiger als kleinere Kommunikationsorte?
Oder ist das vielmehr der Quellenlage geschuldet?
Unber?cksichtigt bleibt ferner das multinationale und
multikonfessionelle Polen. Kann denn ernsthaft von einem
?polnisch-j?dischen Gegen?ber? (S. 3) gesprochen werden? In seinem
Exposee nennt der Autor schliesslich auch nicht die wirtschaftlichen
Verflechtungen, sprich das B?rger- und Grossb?rgertum.
Unklar bleibt uns, wie Rolf die Beeinflussung russischer Politik durch
den Dienst Einzelner in Polen beweisen will. Dazu k?nnte sich aber eine
lebensweltliche Untersuchung anbieten. Weiterhin fragen wir uns, ob in
den Phasen Entspannung versus Konfrontation nicht zwei unterschiedliche
Pakete zusammengeschn?rt werden: Entsteht dadurch die Gefahr einer
Vermischung?
Bei seiner Quellenauswahl finden wir die erste Liste zu strukturell und
bei seinem Vorhaben als Kommunikationsgeschichte weniger brauchbar.
Besonders interessant finden wir deshalb die zweite Liste und w?rden sie
wichtiger einsch?tzen wollen.
Abschliessend wollen wir Malte Rolf daf?r danken, dass er den Mut hatte,
ein Arbeitskonzept zur Diskussion zu stellen. Wir haben so auch gerne
dies aufgenommen und eine Reihe von Kritikpunkten und Fragen formuliert.
Bewusst haben wir deshalb sein Exposee sehr kritisch gelesen und an
einzelnen Stellen lange nachgehakt, damit Malte Rolf f?r seine
pers?nliche Ideenfindung m?glichst grossen Nutzen ziehen kann. Wir
w?nschen ihm f?r sein Projekt viel Erfolg und stehen gerne zur weiteren
Diskussion zur Verf?gung.
Protokollanten der Diskussion: Anna Liesch, Adrian Hofer, J?rn Happel.

Igor Narskij - 22.05.2006 13:11
Lieber Malte,

ich danke Dir fuer die Bereitschaft, Dein Projekt in unserem Seminar zur Diskussion zu stellen. Ich habe Deine Expose mit Interesse gelesen. Dein Versuch, die zentralen interehtnischen Kontakt-, Konflikt- und Kulturtransferlinien in Warschau und zwischen Warschau und Petersburg auszuarbeiten, die die imperiale und nationale Identitaetsbildung praegten, kann, m.E., wichtigen Ergebnisse erzielen. Drei Momente erzeugen jedoch bei mir vorsichtige Zurueckhaltung. Erstens bin ich nicht sicher, dass Weichselland als ein Laboratorium von Nationalitaetenpolitik des Vielvoelkerreiches betrachtet sein darf. Polnisch-russlaendische gegenseitige Wahrnehnungen und Erfahrungen unterschieden sich dermassen von den anderen politischen und kulturellen interethnischen Beziehungen in Russland, dass die Frage von dem Verallgemeinerungsgrad der polnisch-russischen Erfahrungen fuer die Ausbildung der Nationalitaetenpolitik explizit gestellt sein soll. Zweitens wundert mich das Fehlen unter den von Dir vorgeschlagenen Untersuchungsebenen des juedischen Themas. War sie nicht in mehreren Hinsichten massgebend fuer die russisch-polnischen Ausarbeitungen der Vorstellungen von Selbst und Fremd? (Ich glaube, wir haben darueber vor einem Jahr schon mal diskutiert.) Inzwischen sieht in Deinem Projekt das ?polnisch-juedische Gegenueber? der Russen verdaechtig homogen aus. Drittens wuerde mich interessieren, wie Du die Unzugaenglichkeit der Petersburger Archivbestaenden zu Deinem Thema kompensieren denkst.
Ich wuensche Dir viel Erfolg mit Deinem Projekt.

URC FREEnet

coordinators of the project: kulthist@chelcom.ru, webmaster: