Search | Write us | FAQ
RU | no-pyccku International internet-seminar about russian and east-european history
Welcome! About the project Coordinators of the project Current project Publications Links Archive Feedback
SUSU South Ural State University
UNI BASELUNI
BASEL
Chelyabinsk State University Chelyabinsk State University

Archive - Agitation zu Taenzen - Comments

Cheljabinsk - 23.09.2010 23:42
Liebe Basler,

Ich freue mich ueber Ihr Kommentar und hoffe, auf der russischer Seite die meisten Fragen beantwortet zu haben. Ganz kurz versuche ich deshalb einiges zusammenzufassen, was in unserer Diskussion in Basel im Zentrum der Diskussion stand.
Erstens: Wenn man im sowjetischen Fall ueberhaupt um Subversion gehen kann, sehe ich sie im Versuch der Taenzer, die kuenstlerische Selbsttaetigkeit als staatliche Veranstaltung zu privatisieren und zum eigenen Lebensgenuss umzugestalten.
Zweitens: die Frage ueber die Russifizierung der nationalen Choreographie ist enorm kompliziert und ambivalent. Die russische Choreographie wurde in die nationale reingegangen, das stimmt, aber auf diese weise wurde auch die nationale Identitaet teilweise gestaerkt und neu erfunden.
Drittens: der Vergleich im internationalen Rahmen zeigt bis jetzt eine erstauntliche Tatsache. Die Sowjetunion war in der (volks)choreographischer Sphaere bis zu 1960er Objekt des internationalen (darunter

Cheljabinsk - 13.05.2010 14:07
Protokoll, ?eljabinsk-Sitzung, Basel, 28. April 2010

Text und einf?hrendes Referat von Prof. Dr. Igor Narskij (?eljabinsk)

?Agitation zu T?nzen, Agitation durch T?nze?
Der Kalte Krieg und die sowjetische choreographische Laienkunst

Eingangs wurde festgestellt, dass es sich diesmal um das erste nicht virtuelle Seminar in Basel im Rahmen des virtuellen Seminars zwischen Basel und ?eljabinsk handelte: Igor Narskij konnte seinen Text pers?nlich vorstellen und leitete auch die Diskussion. Dar?ber waren die Basler Teilnehmer selbstverst?ndlich hocherfreut.

?Das 20. Jahrhundert kann man das Jahrhundert des Tanzes nennen?, bilanzierte Narskij nach der 90-min?tigen Diskussion. In der Tat verspricht Narskijs neues Projekt vertiefte Einblicke in das Alltagsleben der Menschen in der Sowjetunion w?hrend des Kalten Kriegs.

Sein neues Forschungsprojekt war anfangs in einem Forschungsverbund mit T?bingen angesiedelt und sollte den Kalten Krieg aus verschiedenen Perspektiven behandeln. Davon etwas losgel?st untersucht Narskij nun die choreographische Laienkunst von den 1930er Jahren bis in das Jahr 1980. Ihn interessieren 1) Laienkunst als staatliche Veranstaltung; 2) Laienkunst und der Kalte Krieg; 3) der Diskurs ?ber die echte Choreographie; 4) die Selbst- und Fremdinszenierungen; 5) die Rezeptionsgeschichte der sowjetischen Laien-Choreographie.

Das Basler Kolloquium ma? dem Projekt gro?e Aufmerksamkeit zu und ermunterte Igor, es zu einer Publikation auszubauen. Besonders interessant erscheinen uns die Gegens?tze zwischen Zentrum und Peripherie. Was kann dar?ber hinaus ?ber die Tanzordnungen selbst gesagt werden? Was ?ber den Kalten Krieg? Auch wenn die nicht-professionellen Laiengruppen in das Ausland reisen durften, haben sie dort wohl nicht nur den Stolz auf ihre Sowjetunion vermittelt. Was ist hier zu sagen?

Eine weiterer Fragenkomplex drehte sich um die T?nze im Vielv?lkerreich Sowjetunion und um ihre Funktionen im Rahmen der Nationalit?tenpolitik. Der Tanz und die Choreographie f?hrten hier offensichtlich zu einer Russifizierung durch die Laienkunst, was als ein wichtiges Forschungsergebnis festgehalten werden kann, denn dies wirkte unmittelbar auf die ?sowjetische Identit?t? zur?ck.

Im individuellen Erleben des Menschen spielte der Tanz eine sehr gro?e Rolle. Er war im Leben der Arbeiter und Angestellten eine Art Vereinsleben und hier fand man nicht nur Freunde, sondern auch eine Gemeinschaft, die den Urlaub und die Freizeit miteinander verbrachte. Auch Formen des Widerstands gegen die staatliche Kontrolle k?nnen f?r die Teilnahme beim Laientanz eine Rolle gespielt haben.
Durch ihren Zusammenhalt grenzten sich die Gruppen nach Au?en hin ab, was aber auch Widerstand erzeugte, weil andere Arbeiter und Angestellte die T?nzer als faul ansahen o.?. Frauen rannten hier ihrem schrecklichen Alltag davon; andere wollten einen Partner suchen, kurz: Die Laienkunst diente dem Genie?en des Lebens.

Wenn zu Beginn der Untersuchungszeit Narskijs der Neue Mensch auch im Tanz erschaffen werden sollte, bei dem auch Geschlechterrollen der Vergangenheit angeh?rten, waren Frauen sp?ter wieder im Tanz bescheiden, w?hrend die M?nner keck auftraten. Die Choreographie des Tanzes spiegelt somit die Geschlechter- und Neue-Mensch-Politik in der Sowjetunion wieder.

Zwei weitere Elemente der F?rderung der Laienkunst sind festzustellen, von denen ausgehend sich sehr viel ?ber die Sowjetpolitik sagen l?sst: Zum einen sollten die T?nze die Jugendlichen von der Stra?e holen. Zum anderen dienten sie zumindest in den 1970er Jahren auch Ethnologen, um Aussagen ?ber die althergebrachte Kultur zu treffen; vielmehr wurde hier im Tanz die ethnografische Herkunft inszeniert. So wurden auch die sp?teren Nationalt?nze einiger nicht-russischer Nationalit?ten im Grunde von russischen und sowjetischen Ethnografen ?erfunden?.

Ein Wechsel findet in den 1970er Jahren statt. Innerhalb Russlands nehmen die Tanzgruppen ab, w?hrend sie in den Sowjetrepubliken zunehmen. Auch dies ist ein wichtiges Indiz f?r die Ver?nderung der Nationalit?tenpolitik in der Sowjetunion.

Im Kalten Krieg waren auch die Choreographen der Laiengruppen auf der H?he der Zeit: Es gab Tanzformen aus Kuba, die ?bernommen wurden oder in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg oder Revolutionst?nze in Erinnerung der Macht?bernahme der Bolschewiki im Jahre 1917.

Offene Fragen scheinen uns Baslern vor allem im Vergleich zum internationalen Rahmen zu liegen. Folklore war im Allgemeinen im Westen wie im Osten w?hrend des Kalten Kriegs sehr gefragt. Hier k?nnte man noch mehr ?ber die Rolle der Laient?nzer in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost erfahren. Auch die Frage, ob sich die Laienkunst als gesunkenes Kulturgut klassifizieren l?sst, scheint ?ber den heutigen Stellenwert solcher Tanzformationen Antworten zu geben. Auch hier w?re ein Vergleich zur internationalen Situation eventuell weiterf?hrend.


Basel, im Mai 2010, f?r das Basler Kolloquium, J?rn Happel.

URC FREEnet

coordinators of the project: kulthist@chelcom.ru, webmaster: