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Regionales Gedaechtnis in Kazan

18.04.2008, 10:35

Almaz Ibragimov, Anton Ivanov, Philipp Riethmueller, Barbara Schimmack, Tatiana Terekhova, Katharina Uhl, Alexa von Winning:

?Regionales Gedaechtnis in Kazan?: Christliche und muslimische Erinnerung an die Sowjetzeit?

(Projekt im Foerderprogramm ?Geschichtswerkstatt Europa? finanziert durch den Fonds ?Erinnerung und Zukunft? und die Robert Bosch Stiftung)

Einleitung
Gegenstand des studentischen Kooperationsprojektes zwischen Kazan? und Tuebingen ist die Erinnerung der muslimischen und der russisch-orthodoxen Religionsgruppe in Kazan? an die Repressionen, denen beide Religionsgemeinschaften waehrend der Sowjetzeit ausgesetzt waren. Der Fokus dabei liegt nicht auf den Jahren der physischen Gewalt gegenueber Glaeubigen und Geistlichen waehrend der 1920er und 1930er Jahre, sondern auf der zweiten Welle der antireligioesen Politik in der Chrustschev-Zeit. Fuer eine Untersuchung dieser Fragestellung eignet sich die Hauptstadt der Autonomen Republik Kazan? an der Mittleren Wolga in besonderer Weise, da seine Bevoelkerung zu fast gleichen Teilen aus Muslimen und orthodoxen Christen besteht.
Dieser zweite Hoehepunkt im ?Kampf mit der Religion? richtete sich gegen religioese Braeuche und Feiertage, also gegen die Religion im alltaeglichen Leben (im byt) und spielte sich sowohl auf propagandistischer als auch auf administrativer Ebene ab. In den Jahren zwischen 1958 und 1962 ? der Hochphase der zweiten Welle antireligioeser Politik ? erschienen in der sowjetischen zentralen sowie regionalen Presse zahlreiche Artikel, die satirisch, polemisch oder pseudowissenschaftlich das Uebel der Religion ?entlarvten? und zur aktiven Teilnahme an atheistischer Agitation aufriefen. Ausserdem stieg die Zahl der Vortraege, Diskussionen und Themenabende, die mittels atheistischer Propaganda zur Schaffung eines materialistischen Weltbilds beitragen und die sowjetische Bevoelkerung zur Mithilfe am Aufbau der kommunistischen Gesellschaft motivierten sollten. Mit dem gleichen Ziel wurden auch zahlreiche Broschueren und Themenhefte zu antireligioesen Themen verlegt, die Zeitschrift ?Wissenschaft und Religion? (?Nauka i Religija?) wurde 1958 eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufen. Auf administrativer Ebene weist die Verstaerkung der Kontrolle ueber die registrierten Kirchen und Moscheen auf einen Anstieg in der antireligioesen Politik hin. Seit der Gruendung des Rates fuer Angelegenheiten der religioesen Kulte (Sovet po delam religioznych kul?tov) und des Rates fuer Angelegenheiten der Russisch Orthodoxen Kirche (Sovet po delam russkoj pravoslavnoj cerkvi) in den 1940er Jahren mussten alle religioesen Gemeinschaften bei den oertlichen Organen registriert werden, wobei die Exekutivorgane der religioesen Gemeinden die Gebaeude erst bei den oertlichen Verwaltungsorganen mieten mussten, um sie zum Gebet und Gottesdienst nutzen zu koennen. So war die Registrierung Vorraussetzung dafuer, dass die religioesen Gebaeude weiterhin in dieser Funktion genutzt werden konnten. Gab es in Tatarstan vor der Revolution ueber 800 orthodoxe Kirchen, so waren in den 1960er Jahren nur noch 13 offiziell registriert, von den 19 Moscheen Kazans wurde nur noch eine in ihrer urspruenglichen Funktion als Gotteshaus genutzt (Moschee Mardžani). Die Kirchen und Moscheen der Stadt waren zwar schon in den 20er und 30er Jahren geschlossen und umfunktioniert worden, sie besetzten aber als desakralisierte Orte weiterhin wichtige Plaetze im Stadtzentrum.
Das Projekt fragt nach der Erinnerung der Bevoelkerung Kazans an diese Ereignisse. Das Ziel ist eine Illustrierung des Gedaechtnisses an die antireligioese Politik unter Chrutschev. Dazu naehert es sich auf zwei Wegen dem Gedaechtnis: durch Interviews sowohl mit aelteren als auch mit jungen Bewohnern der Stadt und durch die Untersuchung der Geschichte ausgewaehlter religioeser Gebaeude.
Im Oktober 2007 fuehrten wir 20 Erinnerungsinterviews durch, in denen wir aeltere Bewohner nach ihren Erfahrungen mit der antireligioesen Politik und nach dem religioesen Alltag in den 50er und 60er Jahren befragten. Unsere Interviewpartner haben verschiedene, zum Teil sich wandelnde Einstellungen zur Religion: Einige lebten schon in der Sowjetzeit bewusst ihren Glauben ? den Islam oder die Orthodoxie ?, andere sind ehemalige Atheisten, die erst nach der Perestrojka religioes wurden, wieder andere stehen der Religion gleichgueltig gegenueber oder haben ihre atheistische Weltanschauung auch nach dem Ende der Sowjetunion beibehalten. So deckt das Projekt eine grosse Bandbreite an unterschiedlichen moeglichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ab, um den ersten Schwerpunkt des Projekts zu untersuchen. Ausserdem fuehrten wir etwa 20 Interviews mit jungen Christen und Muslimen durch, die im Moment in Kazaner Medressen (geistlichen muslimischen Hochschulen) und orthodoxen Sonntagsschulen eine religioese Erziehung erhalten.
Fuer den zweiten Strang des Projektes wurden muslimische und orthodoxe Gebaeude ausgewaehlt, bei denen wir davon ausgingen, dass sie als Erinnerungsorte fungieren wuerden und sich an ihnen Erinnerung an die religioesen Verfolgungen kristallisieren wuerde. Deshalb waehlten wir Gotteshaeuser, die eine besondere Rolle waehrend der Sowjetunion innehatten. Entweder boten sie als einzige nicht geschlossene und umfunktionierte Kirchen oder Moscheen den Glaeubigen einen Versammlungsort oder ihnen wurde eine andere Bedeutung zugeschrieben (einige Gotteshaeuser wurden als Fabriken, Archive oder als Planetarium genutzt) bzw. sie wurden komplett aus dem Stadtbild entfernt.
Im Folgenden werden nun einige Tendenzen in der Erinnerung an die antireligioese Politik unter Chrustschev vorgestellt, die sich in den Gespraechen mit unseren Interviewpartnern erkennen lassen. Dazu sollen folgende Themenfelder beleuchtet werden: 1. Theoretischer Rahmen: das Phaenomen des Gedaechtnisses; 2. Antireligioese Politik in der Erinnerung; 3. Religioeses Leben in der Tauwetterzeit; 4. Rolle der religioesen Gebaeude fuer die Erinnerung; 5. Toleranz und Erinnerung; 6. Jugend. Vertiefende Informationen zu unseren Ansaetzen, Methoden und Ergebnissen sind in elektronischer Form auf unserer Homepage zugaenglich unter www.kazan-memory.uni-tuebingen.de.


1. Theoretischer Rahmen: Das Phaenomen des Gedaechtnisses
Fuer das Projekt ist es von groesstem Interesse, wie die subjektive Wahrnehmung der antireligioesen Politik aussieht und wie die religioesen Verfolgungen heute erinnert werden. Die Schwierigkeit dabei besteht darin, dass unsere Interviews uns nur Zugang zur ?erinnerten Wahrnehmung? bieten, was uns nicht die Moeglichkeit gibt herauszufinden, wie unsere Interviewpartner die antireligioese Politik damals wahrgenommen haben. Wir koennen nur untersuchen, wie sie ihre damalige Wahrnehmung heute erinnern. So entsteht ein erinnertes Bild der damaligen individuellen Wahrnehmung.
Bereits in der Situation der Interviews gab es einige Faktoren, die verhinderten, dass sich uns ein Gesamtbild der Wahrnehmung bot. Zunaechst sollten unsere Gespraechspartner fremden jungen Menschen ueber ihr Leben erzaehlen ? und unter den Fragestellern waren sogar Auslaender und Auslaenderinnen. Ausserdem waren viele unserer Gespraechspartner davon ueberzeugt, dass wir besser in Buechern nachlesen sollten, wie es denn ?wirklich? gewesen sei, anstatt sie zur Vergangenheit zu befragen. Die Rahmenbedingungen der Gespraechssituation selbst waren so, dass vermutlich nicht alle der Befragten dazu bereit waren, uns alles zu erzaehlen, woran sie sich erinnerten. Das ?stoerendste? Element aber ist das Phaenomen des Gedaechtnisses selbst. Es handelt sich dabei um einen vielschichtigen und relativ komplizierten Komplex von Prozessen und emotionalen Bindungen, der wie eine ?Wand? zwischen der damaligen Wahrnehmung und dem, was in den Erinnerungsinterviews erzaehlt wird, steht.
Fuer den Umgang mit dem Phaenomen der Erinnerung im Rahmen des Projekts scheint uns die Theorie von Jan Assmann am geeignetsten, der das kommunikative vom kulturellen Gedaechtnis unterscheidet (1). Das kommunikative Gedaechtnis bildet das Alltagsgedaechtnis einer bestimmten Gruppe, das durch Kommunikation mit den Zeitgenossen aus der nahen Umgebung entsteht. Es erlaubt jedem einzelnen Mitglied dieser Erinnerungsgemeinschaft die individuelle und persoenliche Interpretation der Vergangenheit. Wir sind nicht in der Lage zu bestimmen, welche Faktoren eine entscheidende Rolle fuer die Erinnerung jedes einzelnen unserer Interviewpartner spielten, und deshalb werden wir uns auch nicht in Spekulationen ergehen, sondern lediglich im Blick haben, dass es auch subjektive Faktoren gibt, die die Bildung des Gedaechtnisses beeinflussen.
Wesentlich einfacher ist es, einige Tendenzen des kulturellen Gedaechtnisses auszumachen. Dieses Gedaechtnis stellt das offizielle Gedaechtnis einer bestimmten sozialen Gruppe dar, also zum Beispiel einer Klasse, einer Religionsgemeinschaft oder einer Nation. Es wird institutionell vermittelt, also mit Hilfe von Diskursen, Zeremonien, Symbolen, Normen usw. Als wichtige Tendenzen, die das heutige kulturelle Gedaechtnis der Stadt Kazan? bestimmen, lassen sich folgende erkennen: Zunaechst spielt die positive Beurteilung der Rueckkehr der Religion in den oeffentlichen Raum, die waehrend der Perestrojka zu beobachten war, eine wichtige Rolle fuer die Bildung des heutigen Gedaechtnisses. Der orthodoxe Glauben besitzt grosse symbolische Bedeutung fuer die aktuelle russische Politik, waehrend die tatarische nationale Identitaet eng mit dem Islam verbunden ist. Kirchen und Moscheen besetzen heute wichtige Plaetze in der Topographie der Stadt. Zum anderen bleibt die sowjetische Interpretation der Geschichte auch ueber den Zerfall der Sowjetunion hinaus wirksam und bietet weiterhin ein wichtiges Deutungsmuster auch fuer den Umgang des Staates mit der Religion. So kommt es dazu, dass man heute zwar die Meinung vorfindet, die Religion solle keinen wichtigen Platz im oeffentlichen Leben einnehmen, sie aber gleichzeitig eine wichtige Rolle in der politischen Oeffentlichkeit spielt, was offen zur Schau gestellte Kirchenbesuche von hochrangigen Politikern deutlich zeigen. Auch wenn diese grossen Diskurse ueber Religion im heutigen Tatarstan bekannt sind, koennen wir trotzdem nicht mit Sicherheit sagen, inwiefern jeder einzelne unserer Interviewpartner in sie verstrickt ist und sie zu seinen eigenen gemacht hat. Im Prinzip zeigen uns die Interviews lediglich das Resultat dieses komplexen Erinnerungsprozesses. Das Projekt ist auf die Untersuchung des subjektiven Gedaechtnisses gerichtet, das von all diesen Faktoren sowohl des kommunikativen als auch des kulturellen Gedaechtnisses beeinflusst, ja von ihnen erst geschaffen wird.

2. Antireligioese Politik in der Erinnerung
Der Eindruck, der sich uns in der Lektuere der wissenschaftlichen Literatur zur antireligioesen Politik in der Tauwetterzeit aufdraengte, legte nahe, dass es zwischen 1958 und 1964 zu einer zweiten Hochphase in der antireligioesen Politik gekommen sei, die zwar nicht von physischer Gewalt gepraegt war, sondern auf propagandistischer und psychologischer Ebene ablief, aber nicht minder intensiv war als die erste Welle in den 20er und 30er Jahren. (2) Auch die Untersuchung der Situation vor Ort zeigt, dass in Tatarstan wie in der gesamten Sowjetunion in der Tauwetterzeit sowohl die Kontrolle ueber das religioese Leben verstaerkt, als auch die atheistische Propaganda intensiviert wurde. (3)
In der Erinnerung unserer Interviewpartner findet sich jedoch ein ganz anderes Bild der Ereignisse. Waehrend den Verfolgungen der Stalinzeit hier eine grosse Bedeutung zukommt ? selbst wenn sie von den meisten der Befragten nicht persoenlich miterlebt wurden ? wird die Tauwetterzeit nicht als zweiter Hoehepunkt atheistischer Kampagnen erinnert. Die Menschen stehen der antireligioesen Politik in unserem Untersuchungszeitraum im Allgemeinen eher gleichgueltig gegenueber und scheinen die antireligioese Politik dieser Zeit nicht als solche wahrgenommen bzw. sie jemals reflektiert zu haben. Was in Bezug auf die Religion vor allem erinnert wird, sind die Feiertage und die Ausuebung von religioesen Braeuchen wie die Taufe bei den orthodoxen oder der namaz (Gebet) bei den muslimischen Zeitzeugen.
Trotz dieser klar auszumachenden Tendenzen lassen sich in den Erinnerungen verschiedene Abstufungen der Wahrnehmung feststellen. Hier liegt ein ganzes Kontinuum vor, an dessen aeussersten Polen zum einen die Negierung jeglicher antireligioeser Massnahmen, zum anderen die Angst vor den Folgen von Religionsausuebung zu finden sind. Dabei stehen nicht auf der einen Seite die atheistischen Aktivisten als Taeter, die die Spuren ihrer Untaten verwischen wollen, und auf der anderen die Glaeubigen, die ihr Leiden den jungen Historikern anschaulich darstellen wollen, sondern es finden sich sowohl unter den atheistisch als auch unter den religioes eingestellten Befragten Vertreter beider Extreme.
Konkrete Massnahmen werden nur selten erinnert. So erwaehnt nur einer unserer Gespraechspartner die Verhaftung des Erzbischofs von Kazan?, der 1960 wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. (4) Die restlichen Befragten, die uns eine Situation der Angst und der Bedrohung schildern, motivieren dies durch Geruechte von Entlassungen oder sonstigen Nachteilen fuer Glaeubige, aber niemand war selbst direkt von den antireligioesen Massnahmen betroffen. Es scheint eher eine gesellschaftliche Atmosphaere geherrscht zu haben, in der kein Platz fuer Religion war, oder wie unsere Interviewpartnerin Munira es ausdrueckte, ?es war einem damals einfach nicht nach Religion?. Die Verbannung der Religion aus dem oeffentlichen Raum war eine Folge der antireligioesen Politik, die unsere Interviewpartner zwar beschreiben, aber nicht als solche reflektieren. Auf die Frage, ob sie in irgendeiner Weise von antireligioeser Erziehung oder Propaganda betroffen gewesen waeren, antworteten sie fast einstimmig, dass es derlei nicht gegeben habe. Aber dass ?gesagt wurde, dass es Gott nicht gibt?, ist ein Topos, der staendig wiederkehrt.
Die Propaganda wie auch die Politik gegen die Religion wurden nicht bewusst wahrgenommen, sondern erscheinen in der Erinnerung als selbstverstaendliche Tatsache, die lediglich mit der Aussage erklaert wird, dass ?eben so eine Ideologie? geherrscht habe, oder damit dass ?die Politik halt so war?. Die Verwendung der russischen Passivform, die sich im Deutschen auch durch eine aktive Form ohne bestimmtes Subjekt uebersetzen laesst (?Sie haben gesagt, dass es Gott nicht gibt?), laesst die Anderen, also die Nichtglaeubigen, als diffuse, aber daher umso gefaehrlichere Gruppe erscheinen, von der eine gewisse, nicht genau definierte Bedrohung ausgeht. Diese Angst bildet den einen Pol in der Bandbreite der Wahrnehmung, wohingegen die Interviewpartner am anderen Ende des Rezeptionsspektrums davon ueberzeugt sind, saemtliche Massnahmen gegen die Religion seien nichts anderes als ?Maerchen? oder seien zufaellig und ohne boese Absicht passiert.
Als Erklaerung dieser weit gefaecherten Erinnerungsmuster lassen sich sowohl die Situation in der Tauwetterzeit als auch die heutigen Umstaende anfuehren. Fuer die Chrustschev-Zeit ist entscheidend, dass es keine einheitliche Gesetzgebung gab, die das Vorgehen gegen die Religion detailliert geregelt haette. Daher hatten die einzelnen Partei- und Staatsangestellten in der Ausfuehrung der antireligioesen Politik relativ freie Hand. So kam es mit Sicherheit dazu, dass die atheistische Propaganda, die auf parteilicher Ebene gefuehrt wurde, von den einzelnen Akteuren im politischen System verschieden rezipiert und umgesetzt wurde, was wiederum zu unterschiedlich intensiven Massnahmen gegen einzelne religioese Gemeinschaften und Glaeubige fuehrte. Es scheint, dass der Diskurs um die Religion fuer unsere Interviewpartner keine grosse Rolle spielte bzw. dass andere Diskurse im Vordergrund standen und daher auch erinnert werden. Die Religion steht neben oder hinter anderen wichtigen gesellschaftlichen und politischen Feldern und wird von ihnen ueberlagert. Die Diskurse der Tauwetterzeit drehen sich vor allem um die Arbeit und die Produktionssteigerung, die Wohnsituation, den Technikkult und den Kosmos; im Diskurs um den Bau der kommunistischen Gesellschaft war eine religioes gepraegte Moral von der kommunistischen ersetzt und verdraengt worden. Das erklaert, warum weder die antireligioese Politik noch die Religion an sich den erwarteten Stellenwert in der Erinnerung unserer Interviewpartner einnehmen, obwohl ihre Religionszugehoerigkeit doch einen wichtigen Faktor fuer die heutige Identitaet vieler unserer Gespraechspartner darstellt.
Ausserdem erinnern sich unsere Interviewpartner an relativ wenige Beruehrungsfelder mit der antireligioesen Politik. Als wichtiges Begegnungsfeld der Religion mit dem offiziellen Atheismus wird vor allem der Arbeitsplatz erinnert, auf dem man auf keinen Fall seinen Glauben oeffentlich demonstrieren durfte, da sonst entweder die Entlassung oder Tadel und Verwarnung durch die Vorgesetzten drohten. Auch wenn keiner der Befragten jemals von einer solchen Situation persoenlich betroffen war, wird doch die Bedrohung eventueller Folgen auf dem Arbeitsplatz geschildert. Das zweite Kontaktfeld mit der antireligioesen Politik war die atheistische Propaganda. Auch wenn unsere Interviewpartner sich nicht bewusst an propagandistische Massnahmen erinnern, haben doch Einige Elemente der Propagandasprache in ihre eigene Rhetorik integriert oder konstatieren in der Erinnerung eine antireligioese gesellschaftliche Atmosphaere als eines der Resultate der Kampagnen gegen die Religion. Der dritte Beruehrungspunkt betrifft die persoenliche Karriere. Zwar betonen alle unsere Gespraechspartner den Gegensatz zwischen Glaube und Kommunismus, also die Tatsache, dass man entweder glaeubig oder aber Mitglied des Komsomol oder der Partei sein konnte. Trotzdem traten einige dem Komsomol bei, um zum Beispiel einen Schulabschluss machen zu koennen, und die Eltern einiger von uns Befragter haben ihre Kinder nicht am Eintritt in die Pionierorganisation oder den Komsomol gehindert, um sie nicht eventueller Karrierechancen zu berauben. So konnte man also ?ein bisschen Komsomolze? sein, um Aufstiegschancen zu haben, auch wenn ansonsten der Gegensatz ?entweder Gott oder Partei? galt. Da sich aber die antireligioese Politik anscheinend auf keinem der Beruehrungsfelder negativ auf die Biographien unserer Interviewpartner auswirkte, erhaelt sie auch nicht den Stellenwert im Gedaechtnis der Befragten, der noch den religioesen Verfolgungen der Stalinzeit zukommt.
Allgemein stellt sich die Frage, wie sich die Religion vor dem Hintergrund der Bedrohung durch die antireligioese Politik hatte erhalten und in der Perestrojka ihr Comeback hat feiern koennen. Welche Raeume suchte sie sich, um die 70 Jahre atheistische Sowjetmacht zu ueberdauern und wie gestaltete sich dabei das religioese Leben unter Chrustschev?

3. Religioeses Leben in der Tauwetterzeit
Die Religion war in den 1960ern bereits aus der OEffentlichkeit verschwunden, Kirchen und Moscheen waren weitgehend geschlossen. Religioeses Leben fand nun vor allem zu Hause statt. Wichtige Elemente des religioesen Lebens waren religioese Feiertage und Rituale sowie religioese Attribute wie Ikonen oder der Koran.
Alle von uns interviewten Glaeubigen erinnern sich an religioesen Feiertage wie Weihnachten, Ostern, Kurban Bajram oder die Fastenzeit. Die Feiertage wurden meistens im Kreise der Familie oder der engsten Freunde zu Hause begangen. Allerdings hatten sie fuer viele Menschen ihre religioese Bedeutung verloren und wurden oft nur aus Routine gefeiert. Die orthodoxe Christin Galina erzaehlt ueber das Osterfest ?wir haben religioese Feiertage wie ganz gewoehnliche gefeiert. Mama hat uns nicht erzaehlt, dass das ein religioeses Fest war?. Ebenso berichten viele Christen, dass an Ostern Eier gefaerbt wurden oder an Pfingsten die Wohnung aufgeraeumt wurde, ohne dass der religioese Inhalt des Festtages thematisiert wurde. Auch die Muslimin Raschida erinnert sich aehnlich: ?Feiertage haben wir immer zu Hause gefeiert. [?] Wir haben sehr gut gegessen und gelacht!?. Vermutlich wurden die Feste vor allem aus Tradition gefeiert. Ein weiteres Indiz fuer die Desakralisierung der religioesen Feiertage ist, dass sowjetische Feiertage wie der 1. Mai oder saekulare wie Neujahr oft mit religioesen Feiertage in einer Reihe genannt werden. Galjabanu stellt lakonisch fest: ?wir feierten den ersten Mai, hielten die Fastenzeit, Uraza-bajram, ein?. Die sowjetischen Feiertage, die als Ersatzfeiertage fuer die religioesen Feste konstruiert worden waren, wurden von den Menschen angenommen, verdraengten die religioesen Feiertage jedoch nicht vollkommen aus dem Festkalender (5). Auch die sowjetischen Feiertage wurden im Privaten gefeiert. Religioese und sowjetische Feiertage unterschieden sich in der Praxis des Feierns also kaum von einander.
Ein wichtiger Brauch fuer orthodoxe Christen war die Taufe. Viele unserer Interviewpartner erzaehlen von der eigenen Taufe bzw. der Taufe ihrer Kinder. Typisch ist, dass nicht die Eltern die Taufe initiierten und organisierten, sondern die Grossmuetter. Oft wurde die Taufe sogar ohne das Wissen der Eltern durchgefuehrt. Tamara erzaehlt beispielsweise, wie ihre Schwiegermutter ohne Wissen ihres Gatten, der ueberzeugter Kommunist war, Tamaras Sohn taufen liess. Die Taufe ist das einzige Ereignis im religioesen Leben in der Tauwetterzeit, das untrennbar mit dem Besuch der Kirche verbunden ist. Waehrend Feiertage zu Hause begangen wurden und man auf Sakramente wie Eheschliessung und Beichte anscheinend ohne grosses Bedauern verzichtete, fanden Taufen nur in Kirchen statt und stellten fuer viele unserer Interviewpartner ein wichtiges Ereignis dar.
Die meisten der orthodoxen Interviewpartner erinnern sich daran, dass sie Ikonen hatten, die in der sog. ?krasnyj ugolok?, einer heiligen Ecke im Wohnzimmer, aufbewahrt wurden. Viele Muslime berichten, dass sie religioese Schriften besassen. Ikonen, so unsere Interviewpartner, konnte man jedoch nicht kaufen. Natalja erzaehlt sogar, dass Ikonen selbst gezeichnet wurden. Allerdings wurden allein fuer die Kathedrale in Kazan? im Jahre 1962 ueber 11000 Ikonen vom Moskauer Patriarchat geliefert (6). Auch erinnern sich unsere Gespraechspartner daran, dass man weder religioese Literatur noch heilige Schriften erwerben konnte. Bei Muslimen ergab sich dadurch das Problem, dass der Koran nur noch auf Arabisch erhaeltlich war. Die arabische Schrift wurde nicht mehr gelehrt, und so entstand das Problem, dass es zwar Korane aus der vorsowjetischen Zeit in Arabisch gab, sie aber kaum jemand lesen konnte. Interessant ist, dass die Attribute im Gegensatz zu den religioesen Gebaeuden nicht desakralisiert wurden, obwohl sich die antireligioese Politik der Chrustschev-Zeit explizit gegen die Religion im byt wandte, also gegen saemtliche religioesen Gegenstaende und Materialisierungen der Religion. Materielle Attribute wie Ikonen oder Buecher waren wichtige Bestandteile des religioesen byt.
Durch die Schliessung der Moscheen und Kirchen hatte sich die Rolle von Gebaeuden im religioesen Leben grundlegend geaendert. Sehr selten wurden in den Interviews alternative Versammlungsorte genannt. Die Leute trafen sich zu Hause und feierten Festtage im Kreise ihrer Familie. Nur eine Interviewpartnerin, Bibisara, erzaehlte uns, dass ihre Familie haeufig einen Mullah einlud, eine Tradition, die ihre Wurzeln schon in vorrevolutionaerer Zeit hat.
Wichtiger als Feiertage und Attribute ist fuer unsere Interviewpartner jedoch der persoenliche Glaube, der sich ?in der Seele? erhalten hat, also ?religija v dushe?, wie es vieler der Befragten nennen. Dieser Glaube wurde durch verschiedene Faktoren weitergegeben. Viele unserer Gespraechspartnerinnen verbinden Religion und Glaube mit ihrer Kindheit. Hier spielen oft die Grossmuetter eine zentrale Rolle. Die Grossmuetter unserer Interviewpartner, die Ende des 19. Jahrhundert geboren wurden, erzaehlten ihren Enkeln oft religioese Geschichten oder Maerchen (?skazki?). Bei den Muslimen kam der religioesen Literatur eine zentrale Bedeutung fuer die Weitergabe der Literatur zu. Ausserdem spielte sicher auch das regelmaessige gemeinsame Feiern der religioesen Festtage eine Rolle im Erhalten der Religion. Waehrend der Chrustschev-Zeit wurde der religioese Inhalt der Feiertage meistens ausgeblendet. Im Zuge des Wiedererstarkens der Religion waehrend der Perestrojka konnte jedoch auf die Tradition der religioesen Feiertage zurueckgegriffen werden, die so als bestehende Anknuepfungspunkte fuer religioese Tradition dienten. Die Feste koennen demnach als Huellen betrachtet werden, die sich zwar ihres Inhalts entleerten, aber beliebig bzw. je nach aeusseren Umstaenden und Moeglichkeiten wieder mit Religiositaet aufgeladen werden konnten.

4. Rolle der religioesen Gebaeude fuer die Erinnerung
Das religioese Leben hatte sich weitgehend in die haeusliche Sphaere zurueckgezogen. Dieses Phaenomen kann sowohl als Folge der Propagierung von antireligioeser Politik in der oeffentlichen Sphaere, als auch durch die Tatsache erklaert werden, dass es keine Orte mehr gab, an denen die Glaeubigen die Religion haetten ausleben koennen. In der Tauwetterperiode waren die meisten Kirchen und Moscheen Kazans geschlossen und umfunktioniert worden ? dieser Prozess war schon bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges beendet worden. Die drei Kirchen und die Moschee, die den religioesen Gemeinschaften Kazans als Versammlungsort zur Verfuegung standen, befanden sich unter strenger Kontrolle staatlicher und parteilicher Organe, wie beispielsweise der Assistenzgruppen zur Kontrolle ueber die Einhaltung der Kultgesetzgebung.
Fuer die genauere Untersuchung waehlten wir zwoelf Gotteshaeuser in Kazan?, die eine besondere Rolle waehrend der Sowjetunion innehatten. Entweder boten sie als einzige nicht geschlossene und umfunktionierte Kirchen oder Moscheen den Glaeubigen einen Versammlungsort (Kirche Jaroslavskich Tschudotvorcev, Kirche Kazan'skoj Ikony Bogjej Materi, Nikolo-Nisskaja Kathedrale und als einziges muslimisches Gebaeude die Moschee ?Mardgani?), oder ihnen wurde eine andere Bedeutung zugeschrieben (z.B. wurden die Apanaevskaja und die Usamanovskaja Moschee als Fabriken genutzt und die Petropavloskij Kirche beherbergte ein Planetarium) bzw. sie wurden komplett aus dem Stadtbild entfernt (wie die Kazakovskaja Moschee und die Moschee auf dem alten tatarischen Friedhof). Aber es scheint sich kaum Erinnerung mit den Gebaeuden zu verbinden, weshalb wir von der urspruenglichen Idee, die religioesen Orte als Erinnerungsorte zu untersuchen, abgekommen sind.
Der Verlust der Moscheen und Kirchen als Zentrum des religioesen Lebens spielt keine bedeutende Rolle in der Erinnerung. Die Tatarin Gul?dina beschreibt als einzige eine Moscheenschliessung in den 30er Jahren als ?echte Tragoedie?, als ?Gefuehl, als ob ein naher Verwandter beerdigt werden wuerde?. Die meisten der von uns Interviewten sind zwar schon in eine kirchen- bzw. moscheenlose Zeit hineingeboren, allerdings koennte man davon ausgehen, dass sie als Teil des kommunikativen Gedaechtnisses emotional an den Verlust der Gebaeude gebunden sind ? was sich in den Erinnerungsinterviews aber nicht finden laesst. Unsere Interviewpartner suchten nur in seltenen Faellen die Gotteshaeuser auf. Dem Besuch von Gottesdienst und Gebet wird in der Erinnerung keine grosse Bedeutung zugeschrieben. Stattdessen erinnert sich ein kleiner Teil unserer Gespraechspartner an die Gefahren, die mit einem Kirchgang oder Moscheenbesuch verbunden waren ? allerdings wiederum ohne von konkreten Situationen zu berichten, sondern auf Basis von Geschichten, die sie vom Hoerensagen kennen. Es scheint, als waere das religioese Leben in der Tauwetterzeit im haeuslichen Bereich schon so zur Routine geworden, dass die religioesen Gebaeude nicht vermisst wurden. Erst auf Nachfrage sind sich alle einig, dass es schlecht war, dass die Kirchen und Moscheen geschlossen worden waren ? die einzige Ausnahme bildet die glaeubige Muslimin Raschida, die befuerchtet, dass man sonst zu viel Zeit mit Beten anstatt mit Arbeiten verbracht haette.
Interessanterweise wird auch die Desakralisierung der religioesen Orte nicht als solche erinnert oder wahrgenommen. Am Ausgangspunkt des Projektes stand unter anderem die Frage, welche symbolische Bedeutung die Umfunktionierungen im Gedaechtnis spielen. Dabei hatten wir vor allem die Petropavlovskijj Kirche im Fokus, die vom Gotteshaus zum Tempel der Naturwissenschaft und Technik verwandelt wurde, als in ihr das staedtische Planetarium eingerichtet wurde. Unsere glaeubigen Interviewpartner besuchten es zwar aus Interesse, aber sie betrachteten es nicht mehr als Kirche, und sie erinnern sich an keinerlei Gefuehle gegenueber der neuen Bestimmung des Gebaeudes.
Die religioesen Gebaeude fungieren also eindeutig nicht als Kristallisationspunkt des Gedaechtnisses an die antireligioesen Massnahmen der Chrustschev-Zeit ? sie stellen daher in unserem Kontext keine Erinnerungsorte im Sinne Pierre Noras dar (7). Sie nehmen weder in der Erinnerung an die Sowjetzeit noch in der eigenen Geschichte den bedeutenden Platz ein, den wir ihnen zu Beginn des Projekts nach Lektuere der Literatur sowohl zur antireligioesen Politik als auch zur Theorie des Gedaechtnisses zugeschrieben hatten. Die meisten unserer Interviewpartner wissen zwar, welche Kirchen und Moscheen in der Tauwetterperiode geoeffnet waren, aber konkrete persoenliche Erinnerungen werden nicht mit ihnen verbunden. Die einzige Schnittstelle zwischen Gebaeuden und biographischer Erinnerung bildet bei den Orthodoxen die Taufe der Kinder, die immer in der Kirche durchgefuehrt wurde, meistens von der Grossmutter der Kinder, in manchen Faellen ohne das Wissen der Eltern oder eines Elternteils. Erinnerung kristallisiert sich also nur selten an den Gebaeuden, sondern in viel groesserem Masse an kirchlichen oder islamischen Feiertagen, den religioesen Braeuchen und Attributen.
Zu erwarten war, dass in einer Erinnerungsgemeinschaft, wie sie die orthodoxen und muslimischen Glaeubigen in Kazan? unserer urspruenglichen Meinung nach darstellen, den Orten, die ihrer Funktion beraubt wurden, desakralisiert und aus dem oeffentlichen Bewusstsein verdraengt wurden, im Nachhinein grosse Bedeutung beigemessen wird. Wir rechneten mit einem Narrativ der Opfergruppen des Sowjetregimes, in dem neben den Geistlichen und Glaeubigen auch die Gebaeude ihre Leidensrolle zugesprochen bekommen. Wir fanden jedoch Gleichgueltigkeit dem gegenueber vor, keine Reflexion, geschweige denn Konstruktion der Geschichte der eigenen Religionsgruppe in Bezug auf die zweite Welle der antireligioesen Politik. Die Gebaeude verlieren in der Erinnerung ihre symbolische Kraft als Zentrum des Glaubens und des religioesen Lebens der Gemeinschaften. Wir erklaeren uns das mit der Tatsache, dass die Religion ja erfolgreich aus dem oeffentlichen Raum verdraengt worden war und die antireligioese Atmosphaere als Normalitaet betrachtet wurde. So erschien auch die Abwesenheit der Gebaeude vermutlich als Normalitaet, als etwas, worueber es nicht noetig ist nachzudenken, und deshalb spielt sie auch keine Rolle in der Erinnerung unserer Interviewpartner.

5. Toleranz und Erinnerung
Die antireligioese Politik wandte sich weitgehend in gleicher Weise gegen die beiden Religionsgemeinschaften. Bei beiden Gruppen erfolgte ein Rueckzug der Religion ins Private. Diese gemeinsame Geschichte wird jedoch nur selten als solche wahrgenommen. Die Formen der Erinnerungen sind bei beiden Religionsgruppen zwar sehr aehnlich (Bedeutung der Feste und Attribute, Bedeutungslosigkeit der Gebaeude u.a.), die jeweils andere Gemeinschaft taucht in den Erinnerungen jedoch aeusserst selten auf. Trotzdem zeigen unsere Gespraechspartner grossen Respekt vor und Verstaendnis fuer die jeweils andere Religionsgruppe. Auf Nachfragen in Bezug auf ihre Einstellung zu Andersglaeubigen antworten die Interviewten jedoch ausnahmslos tolerant: ?Es gibt nur einen Gott?. ?Wichtig ist vor allem, dass der Mensch glaubt?. Raschida meint: ?Ich werde nicht sagen, dass unsere Religion die beste ist. Jeder hat seinen eigenen Glauben.? Aehnlich aeussert sich Bibisara: ?Jeder soll glauben, was er moechte. Das wichtigste ist, dass man niemanden erniedrigt.?
Teilweise laesst sich nicht nur Toleranz, sondern auch echtes Interesse an der anderen Religionsgruppe beobachten. Die Russin Liubov? betonte im Interview, dass sie schon immer die Moschee Mardgani bewundert habe: ?Ich war schon immer entzueckt von der Moschee Mardgani?. Bei den Aussagen zu Andersglaeubigen ist eine interessante Verbindung von Religion und Ethnizitaet, also eine enge Verschmelzung von tatarisch und muslimisch bzw. russisch und orthodox, festzustellen. Hier ist zu beobachten, dass die Verbindung bzw. Gleichsetzung beider Elemente bei der jeweils anderen Gruppe als sehr eng bewertet wird, in der Eigenwahrnehmung jedoch eine weit weniger bedeutende Rolle spielt. Raschida meint beispielsweise: ?Wir Tataren unterscheiden russische und orthodoxe Feiertage nicht voneinander. Uns ist das nicht wichtig.?
Wir haben den Begriff ?Toleranz? nicht nur auf die Einstellung zu Andersglaeubigen bezogen, sondern ihn weiter gefasst und so auch die Einstellung gegenueber Atheisten unter diesem Schlagwort untersucht. Toleranz zwischen Glaeubigen und Nichtglaeubigen spielte in den 60er Jahren vor allem innerhalb der Familie eine grosse Rolle. In vielen Familien lebten religioese und atheistische Familienmitglieder ohne Konflikte oder Zusammenstoesse miteinander. Unterschiedliche Ueberzeugungen gab es dabei sowohl innerhalb einer Generation - die Ehegatten einiger unserer weiblichen Interviewpartner waren ueberzeugte Kommunisten, waehrend die Frauen glaeubig waren - als auch zwischen den Generationen ? meistens waren die Grossmuetter glaeubig, die Elterngeneration aber atheistisch gepraegt. Im oeffentlichen Leben wurden Atheisten und Glaeubige oft nicht explizit als solche wahrgenommen. Wie oben bereits festgestellt wurde, wird als Ausgangspunkt der Angst von den meisten glaeubigen Kazanern eine unbestimmte, diffuse Gruppe erinnert. Glaeubige und Nichtglaeubige hatten zwar im Alltag staendig miteinander zu tun, allerdings war Religion kein Thema im oeffentlichen Raum, wo der Glaube anscheinend versteckt wurde. Die von uns befragten Atheisten aeusserten sich alle sehr respektvoll gegenueber Glaeubigen. Niemand erzaehlte von aktiver Beteiligung an Massnahmen gegen Glaeubige. Hier draengt sich die These auf, dass der heutige Diskurs, der die Religion wieder positiv bewertet und sie fest im oeffentlichen Raum verankert, unsere Gespraechspartner in ihrer Erinnerung an die Tauwetterzeit beeinflusst. Wir koennen zwar keine Angaben darueber machen, wie die Einstellung und das Verhalten in den 60er Jahren war, aber die Erinnerung daran stellt sich als aeusserst tolerant dar.
Die als selbstverstaendlich empfundene Toleranz zwischen Muslimen und Christen sowie zwischen Glaeubigen und Nichtglaeubigen ist mit Sicherheit ein Spezifikum Kazans. Die Stadt kann immerhin auf eine ueber vierhundert Jahre lange gemeinsame und friedliche Geschichte von Tataren und Russen zurueckschauen; und dieser Umstand ist in der Konstruktion des offiziellen Selbstbildes Kazans ein zentraler, oft wiederholter Topos. In den Interviews wird deutlich, wie stolz die Kazaner auf ihre Toleranz sind, da sie als Leitmotiv in fast allen der Interviews auftaucht und anscheinend als wichtiger Bestandteil auch der individuellen Identitaet fungiert.

6. Jugend
Auch die Interviews mit den jungen Glaeubigen zeigen die Toleranz und Offenheit gegenueber der anderen Glaubensgruppe, die das Spezifikum der Stadt Kazan? zu sein scheinen. Die von uns interviewten Jugendlichen aeussern sich wie auch ihre Grosselterngeneration sehr tolerant gegenueber ihren andersglaeubigen Mitbuergern. Evgenij, der die Sonntagsschule der Nikolo-Nisskaja Kathedrale besucht, aeussert sich folgendermassen zu diesem Thema: ?Meine Einstellung gegenueber Muslimen ist gut, das heisst, sie sollen ruhig so glauben, das ist nichts Besonderes, ein anderer Glauben halt?. Aehnlich offen aeussert sich Diljus?, der am islamischen Kazanskij College studiert: ?Jeder hat seinen eignen Glauben?. Allerdings haben die Jugendliche vor allem Freunde, die der eigenen Religion zugehoeren. In vielen Faellen bilden sich die Freundschaften aber erst nachdem sich die jungen Leute aktiv dem Glauben zugewendet haben. Hier wird deutlich, dass Sonntagsschulen und Medressen Orte sind, wo die Jugendliche gleich gesinnte Freunde kennen lernen und treffen. Nicht nur dadurch haben die Gebaeude wieder eine grosse Bedeutung im religioesen Leben Kazans gewonnen. Viele der muslimische Jugendlichen, die an der Medresse der Mardgani Moschee studieren, sind aus anderen Staedten und Regionen Russlands speziell nach Kazan? und zum Teil speziell zu der einen oder anderen Moschee gekommen. Moscheen und die zu ihnen gehoerenden Medressen sowie auch Kirchen und Sonntagsschulen sind wichtig als Orte, an denen ihnen eine gute religioese Ausbildung zur Verfuegung steht und an denen sich die Religiositaet der jungen Menschen erst bildet und formiert.
Die Geschichte der Gebaeude bzw. der Religion waehrend der Sowjetzeit spielt fuer die interviewten Jugendlichen keine Rolle. Sie kennen sich in der Geschichte der Religion im Russischen Reich oft sehr gut aus, teilweise wissen sie z.B. genaueres ueber die Umstaende der Erbauung des Gebaeude oder sie kennen herausragende Persoenlichkeiten des religioesen Lebens des 19. Jahrhunderts. Die Jugendlichen wissen, dass die Gebaeude waehrend der Sowjetzeit geschlossen waren, speziell ueber die Chrustschev-Zeit ist ihnen jedoch nichts bekannt und sie zeigen auch kein grosses Interesse dafuer. Die Jugendlichen kennen in der Regel nur die Geschichte der Moschee bzw. Kirche, die sie selbst besuchen. Die Informationen ueber die historische Seite der Religionen haben die meisten Jugendlichen von Eltern oder Grosseltern erhalten. In den Sonntagsschulen bzw. Medressen wird die sowjetische Vergangenheit anscheinend nicht thematisiert. Als Fazit kann gesagt werden, dass die sowjetische Vergangenheit fuer die Jugendlichen keine Rolle spielt, fuer sie ist nur das aktuelle religioese Leben von Bedeutung. Auf die Frage hin, wie ihrer Meinung die Religion die 70 Jahre Atheismus ueberlebt hat, nennen die Jugendlichen ? wie auch unsere aelteren Interviewpartnerinnen ? den Glauben in der Seele (?vera v dusche?), den vor allem die Grossmuetter trugen. Ausserdem sind viele Jugendliche der Ansicht, der Mensch habe das Beduerfnis zu glauben. Viele erzaehlten, dass Freunde oder Geistliche sie zum Glauben brachten, nur wenige wurden von den Eltern religioes erzogen. Einige Jugendliche kamen durch schwere Krankheiten o.ae. zum Glauben. Die heutige Religiositaet wird vor allem durch die religioese Erziehung in Medressen und Sonntagsschulen sowie den Besuch von Gottesdiensten in Moscheen und Kirchen gepraegt. Als Indikator von Religiositaet dient besonders bei muslimischen Jugendlichen das Wissen ueber die Religion, ueber ihren Glaubensinhalt und ihre Lehrsaetze. Hier laesst sich eine Kontinuitaet von der Grosselterngeneration, die die Rolle der religioesen Literatur fuer den Glauben in der Sowjetzeit betonten, zu den Enkeln, die Wert auf die religioese Bildung legen, feststellen.

Schluss
Vieles von dem, was wir zu Beginn von den Ergebnissen der Interviews erwarteten, fanden wir nicht vor. Der Punkt, an dem wir etwas skeptisch waren ? kann eine Stadt wirklich so tolerant sein? ? wurde allerdings durch die Interviews sowohl mit den jungen Glaeubigen als auch mit Vertretern der aelteren Generation bestaetigt. Unser Projekt, ein Oral-History-Projekt auf lokaler Ebene mit einer relativ kleinen Zahl von Interviewpartnern, kann als Korrektiv bzw. als Relativierung der schon bekannten historischen Kenntnisse ueber die antireligioese Politik unter Chruščev funktionieren. Durch die Einnahme der subjektiven, individuellen Perspektive koennen so Eindruecke aus konventionellen Quellen ergaenzt und bereichert, in einigen Faellen sogar korrigiert werden. Diese Bereicherung liegt in unserem Falle bei der antireligioesen Politik und ihrer Bedeutung fuer das Individuum vor. So koennen wir in allen untersuchten Bereichen Unterschiede zwischen der erinnerten individuellen Wahrnehmung und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft feststellen: Die von uns befragten Menschen erlebten die Tauwetterperiode nicht als zweiten Hoehepunkt der antireligioesen Politik in der Sowjetunion, auch im Nachhinein wird sie nicht als Intensivierung des Kampfes gegen die Religion erinnert. Das religioese Leben zog sich ins Private zurueck, diese Situation wurde aber als Normalitaet empfunden und wird weder reflektiert noch kritisch beurteilt. Auch der Wegfall der religioesen Gebaeude wird als Normalzustand hingenommen, ihre Abwesenheit im religioesen Alltag wird nicht als Fehlen empfunden und hinterlaesst kaum Spuren in der Erinnerung.
Die Kirchen und Moscheen fungieren also nicht als Erinnerungsorte, wie es zu erwarten war; zudem wird, wie oben konstatiert, die antireligioese Politik der 60er Jahre entgegen unserer frueheren Annahmen nicht explizit erinnert. Wie laesst sich dieses ?Erinnerungsloch? erklaeren? An dieser Stelle koennen nur erste Ideen geaeussert werden. Zum Teil ist die spezifische Erinnerung, wie sie sich uns durch die Interviews dargestellt hat, wohl historisch zu begruenden: zu nennen sind Faktoren wie die Ueberlagerung der Tauwetterperiode durch die Ereignisse der 30er Jahre, die von unseren Interviewpartnern besonders hervorgehoben wurden; die Existenz anderer Diskurse, die in der Chrustschev-Zeit im Vordergrund standen und Fragen der Religion aus dem oeffentlichen Diskurs draengten (so waren etwa Technik, Wissenschaft und Fortschritt dominierende Leitmotive); oder auch die konkreten Biographien unserer Interviewpartner, die in den meisten Faellen in den 60er Jahren andere Prioritaeten im Leben besassen (Beendigung der Ausbildung, Uebertritt ins Berufsleben, Familiengruendung und Kindererziehung, Wohnverhaeltnisse) und so Fragen der religioesen oder atheistischen Weltanschauung wenig Bedeutung einraeumten. Zum anderen kann diese spezifische Form des Gedaechtnisses auch in den Mechanismen der Erinnerung begruendet sein. Eine Erklaerung in diesem Kontext ist die Tatsache, dass antireligioese Politik vornehmlich im oeffentlichen Raum stattfand. Ereignisse der oeffentlichen Sphaere werden jedoch in erster Linie erinnert, wenn sie sich mit persoenlichen Erlebnissen verbinden. Dies geschah selten, da die Religion schon lange und gruendlich aus dem oeffentlichen Raum verdraengt worden war und sich in unserem Untersuchungszeitraum in der haeuslichen Sphaere abspielte. Wegen der mangelnden Begegnungsfelder zwischen antireligioeser Politik und persoenlicher Biographie spielt erstere vermutlich eine geringe Rolle in Erinnerung. Eine entscheidende Ausnahme bildet dabei nur die Taufe, die einen wichtigen Meilenstein in der persoenlichen Biographie der einzelnen orthodoxen Glaeubigen darstellt: Taufen fanden in den meisten Faellen in Kirchen statt, sie konnten nicht im privaten Raum vollzogen werden und kollidierten so zwangslaeufig mit der antireligioesen Politik. So verbanden sich in ihnen oeffentliche und private Sphaere, was ihre zentrale Rolle in der Erinnerung vieler Interviewpartner erklaert.
Nicht nur fuer die Geschichte der antireligioesen Politik in der Sowjetunion kann unser Projekt als Bereicherung funktionieren, wir haben auch einige erste Erkenntnisse ueber das Phaenomen des Gedaechtnisses gewonnen. Die Theorie des Gedaechtnisses geht davon aus, dass das Gedaechtnis relativ beliebig formbar ist, dass die Vergangenheit also je nach aktueller Diskurslage konstruiert und die persoenliche Biographie oder die Geschichte der eigenen sozialen Gruppe den heutigen Beduerfnissen angepasst wird. Dieses Phaenomen konnten wir bei unserer Befragung in dieser Deutlichkeit nicht bestaetigen. Weder ein Opfernarrativ noch eine Heldengeschichte fanden wir vor. Zumindest auf der individuellen Ebene scheinen die aktuellen Diskurse kaum Einfluss auf die Erinnerung zu haben. So kann also eine Untersuchung der lokalen Ebene eine interessante Bereicherung fuer die ?grosse? Geschichte sein und einiges in ein anderes, persoenlicheres und weniger schematisches Licht ruecken.

Anmerkungen

1. Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedaechtnis. Zehn Studien, Muenchen 2000.
2. Zum Beispiel John Anderson, Religion, State and Politics in the Soviet Union and Successor States, Cambridge1994; Michael Bourdeaux, Patriarch and Prophets: Persecution of the Russian Orthodox Church, London/Oxford 1970; T.A. Tschumatschenko, Gosudarstvo, pravoslavnaja cerkov?, verujustschie 1941-1961, Moskva 1999; Powell, David E., Antireligious propaganda in the Soviet Union. A study of mass persuasion Cambridge (Mass) 1975; M. V. Schkarovskij, Russkaja Pravoslavnaja Cerkov? pri Staline i Chrustscheve, Moskva 1999. 3. Ruslan Rustamovitsch Ibragimov, Gosudarstvenno-konfessional?nye otnoschenija v Tatarstane v 1940-1980-e gg., Diss., Kazan? 2004; Marina Nijazovna Fasichova, Politika sovetskogo gosudarstvo po otnoscheniju k religioznym ob??edinenijam v Tatarstane (60-80-e gody XX veka). Istoriko-polititscheskij analiz, Diss., Kazan? 2002.
4.Siehe dazu den polemischen Artikel ?Kazanskie otcy duchovnye i ich dela grechovnye?, in: Sovetskaja Tatarija vom 6.4.1960, S.4.
5. Malte Rolf: Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006.
6. NA RT, Fond 873 opis 1 delo 14, S. 25.
7. Zu dem Begriff der Erinnerungsorte siehe Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedaechtnis, Berlin 1984.

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