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Der ethnographisch-anthropologische Blick

14.12.2014, 00:19

Fotografie und visuelle Wissensproduktion im spaten Zarenreich

Laura Elias (Basel)

Fotografien als historische Quellen

Im Jahr 1887 unternahm der 23-jahrige Student der Moskauer Universitaet, Aleksej Nikolaevic Charuzin (1) im Auftrag der Moskauer Gesellschaft der Freunde von Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie (OLEAE) (2) eine Reise zu den Kasachen (3) der Inneren Horde in das Gebiet zwischen Ural, Wolga und Kaspischem Meer. Mit im Gepaeck hatte er eine Fotokamera.
Auf dieser Reise entstanden u.a. folgende Aufnahmen, die 1889 in Charuzins wissenschaftlicher Studie „Die Kirgisen der Inneren Horde. Anthropologisch-ethnologische Aufzeichnungen“ veroeffentlicht wurden (Abb. 1 und 2) (4)

Die beiden Bilder zeigen einen Mann in Frontalaufnahme sowie im Halbprofil in jeweils ovalem Bildausschnitt. In Abb. 1 blickt er mit leicht nach rechts gedrehtem Kopf und ausdruckslosem Gesichtsausdruck in Richtung Kamera, die in etwa gleicher Hohe zu seinen Augen positioniert ist. Seine leicht schrage Lidachse lasst ihn fuer europaeische Augen asiatisch erscheinen, und sein schuetterer ergrauter Bart weist auf ein bereits fortgeschrittenes Alter hin. Sein Kopf ist rasiert, und er traegt einen hellen Kaftan, der sauber und ordentlich angelegt wirkt. Der dunkle Hintergrund ist einfarbig und neutral, sodass sich der Portraetierte in seinem hellen Mantel deutlich davon abhebt. Beide Fotografien wurden unter kuenstlicher Beleuchtung aufgenommen und konzentrieren sich in der Darstellung vor allem auf das Gesicht des Mannes.
Auch Abb. 3 entstand auf jener Expedition, wurde allerdings nicht in Charuzins wissenschaftlicher Studie, sondern in seinem 1888 erschienenen Reisebericht „Aufzeichnungen aus der Steppe“ veroeffentlicht (5)

Das Foto zeigt den Oberkoerper eines in aufrechter Koerperhaltung stehenden Mannes, der seine Hande in die Huften stemmt und direkt in die Kamera blickt, die sich leicht unterhalb seiner Augenhohe befindet. Er tragt ein dunkles Hemd, aus dem ein weisser Kragen ragt, der sich deutlich von der dunklen Kleidung abhebt. Darueber traegt er einen offenen Kaftan mit langen, weiten AErmeln und auf dem Kopf eine schwarze Kappe. Der Bildhintergrund weist eine Struktur auf, die auf ein Zelt – eine Kibitka – hindeuten konnte. Fest steht, dass die Fotografie im Freien unter natuerlicher Beleuchtung aufgenommen wurde. Auch von diesem Bild wurde nur ein ovaler Ausschnitt abgedruckt, und die Bildunterschrift tragt den Titel „AElterer Kirgise“. Durch die Positionierung der Kamera leicht unter der Augenhohe des Portraetierten ist der Betrachter gezwungen, zu diesem aufzublicken, was der abgebildeten Person eine stolze und beinahe herausfordernde Wirkung verleiht. Der gute Zustand der Kleidung und die Kameraperspektive konnten als Hinweis gedeutet werden, dass es sich beim Portraetierten um eine wohlhabende und angesehene Persoenlichkeit handelt. Dass die Bildunterschrift nicht ueber den Namen des Mannes Auskunft gibt, sondern ihn stattdessen verallgemeinernd als „aelteren Kirgisen“ bezeichnet, weist darauf hin, dass dieses Bild keine individuelle Persoenlichkeit darstellen soll, sondern generalisierende Charakteristika eines Typus.
So viel in etwa Vermoegen diese drei Aufnahmen dem nachgeborenen Betrachter zu erzaehlen, der ohne Kenntnisse ueber Fotografen und Bildgenese Charuzins Werke aufschlagt. Bei dieser ersten Bildbetrachtung wird sogleich deutlich, wie schwierig – wenn nicht gar unmoeglich – sich eine bildimmanente Interpretation ohne naehere Informationen ueber den Entstehungs-und Publikationskontext darstellt. Denn Fotografien sind widerspenstige Quellen. Herausgeloest aus ihren zeitgenoessischen Kontexten, ist es ihre Interpretationsoffenheit, die den Historiker vor eine Herausforderung stellt. Wie ein „Gespenst“ (6) geistere die Fotografie mit den Worten Siegfried Kracauers durch die Gegenwart, sobald sich der Bezug zwischen Objekt und Betrachter verloere.
Koenne der gegenwaertige Betrachter das abgelichtete Objekt nicht mit seinem „Gedachtnisbild“ (7) abgleichen, so zerfalle das Bild in bedeutungslose Einzelteile, deren Sinn dem Rezipienten verborgen bleibe. AEhnlich beschreibt Susan Sontag die Besonderheit des Mediums, das sie als „Fragment“ bezeichnet, dessen „Vertaeuung mit der Realitaet“ sich im Verlauf der Zeit lose. Das fotografische Bild tendiere dazu, in eine „gedampft abstrakte Vergangenheit“ abzudriften und dadurch verschiedenste Interpretationen zu ermoeglichen. (8)

Diese Hurden, die sich dem Betrachter bei der Deutung von Fotografien entgegenstellen, resultieren aus einer dem Medium inne wohnenden Ambivalenz: dem Oszillieren zwischen Mimesis und Konstruktion. Die Frage, wie viel Realitaet in einer fotografischen Aufnahme steckt, hat bereits viele Autoren beschaftigt.9 Zwar lasst sich nicht bestreiten, dass einer Fotografie im Gegensatz zu einem Gemaelde stets ein realer Referent zugrunde gelegen haben muss, denn dies beweist die Existenz der Fotografie. (10) Doch diese Zeugenschaft enthaelt keine Aussage ueber den semantischen Inhalt eines fotografischen Bildes. Was dessen Fotograf oder Auftraggeber mit der Fotografie zeigen wollte, wer oder was die abgebildeten Objekte ueberhaupt waren und
in welchem Kontext ihr welcher Sinn zugeschrieben wurde, daruber schweigt die fotografische Aufnahme. Denn Fotografien sind kulturell codierte Bilder, die der Dechiffrierung beduerfen.
Bereits im Augenblick der Aufnahme schreiben sich nicht nur gesellschaftliche Konventionen sondern auch die Intentionen des Fotografen und Portraetierten in das entstehende Bild hinein. Perzeption und Interpretation korrespondieren ebenfalls stark mit kulturellen Determinanten. Darueber hinaus wirken sich hoechst subjektive Faktoren wie Bildungsgrad, politische Verortung oder biographische Erfahrungen des Betrachters auf die Wahrnehmung und Deutung von Fotografien aus.
Aus diesen Reflexionen wird deutlich, dass die Fotografie eine ueberaus unzuverlaessige Quelle ist, der ein Historiker kein vorbehaltloses Vertrauen entgegen bringen sollte. Wie kann der nachgeborene Betrachter ein fotografisches Bild aber dann zum Sprechen bringen und auf welche Fragen vermag eine Fotografie ueberhaupt Antworten zu liefern?
Diesbezueglich hilfreiche Anregungen liefert Allan Sekula, der das fotografische Bild als „, unvollstaendige’ Aussage“ (11) begreift, die „lediglich die Moeglichkeit einer Bedeutung“ (12) in sich trage. Ihre Botschaft koenne laut Sekula nur mithilfe einer Einordnung in die zeitgenoessischen Diskurse sowie anhand von Kontextwissen dechiffriert werden. (13) Diese Kontexte offen zu legen und die Semantiken zu decodieren, die eine Fotografie fuer ihre Zeitgenossen in sich trug – das ist die Aufgabe des Historikers. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Fotografien in keiner Weise von schriftlichen Quellen, deren Sinn sich ohne Kontextualisierung ebenso wenig zu erschliessen vermag wie jener von Bildquellen. Nur durch Kontextualisierung kann der nachgeborene Betrachter der Gefahr entgegenwirken, in der Fotografie lediglich das zu sehen, was er darin vorzufinden sucht. Zwar waere es illusorisch zu glauben, die Bilder tatsachlich mit den Augen ihrer Zeitgenossen betrachten zu koennen, dennoch sollte sich eine historische Bildanalyse die
Annaeherung an die zeitgenoessischen Interpretationen, Verwendungen und Diskurse zum Ziel setzen, wenn sie Erkenntnisse ueber die Vergangenheit gewinnen will. Gelingt es, eine Fotografie mithilfe von Kontextwissen zum Sprechen zu bringen, so bietet sie eine aussagekraeftige Quelle, wie ihre Zeitgenossen die sie umgebende Welt wahrgenommen, geordnet und bewertet haben. Die Hybriditaet des Mediums zwischen Indexikalitat und Codierung, zwischen Dokumentation und AEsthetisierung wird den Fotohistoriker dabei stets vor neue Herausforderungen stellen.
Um den oben beschriebenen Bildern und dazugehoerigen Bildkorpora eine Geschichte zu entlocken, werde ich zunaechst deren Bildgenese und Publikationszusammenhang rekonstruieren, anschlie.end das Text-Bild-Verhaeltnis analysieren und dabei der Frage nachgehen, wie mithilfe dieser Bildauswahl Ethnizitaet konstruiert und ethnographisch anthropologisches Wissen produziert und vermittelt wurde. Wissen verstehe ich dabei als
„historisches Phaenomen“ (14) und „wandelbares Konstrukt“ (15), das mithilfe von Wissenspraktiken ausgehandelt und sozial hergestellt wird. (16) Welche Rolle die Fotografie als Wissenspraktik und fotografische Bilder als Reproduktionsformen von Wissen in den Wissensfeldern der Ethnographie und physischen Anthropologie spielten, wird im Folgenden anhand eines Beispiels analysiert. (17)

Die Fotografien A.N. Charuzins: ereignis-und geistesgeschichtlicher Kontext

Charuzins Reise zu den Kasachen der Inneren Horde lasst sich sehr anschaulich anhand der beiden bereits genannten Werke rekonstruieren, dem umfangreichen Reisebericht „Aufzeichnungen aus der Steppe“ und der im folgenden Jahr veroeffentlichten anthropologisch ethnologischen Studie. Charuzin traf im Juni 1887 in der kleinen Stadt Chanskaja Stavka ein, von wo aus er seine ethnographischen, anthropologischen und zoologischen Untersuchungen in den naechsten vier Monaten koordinierte. Die Innere Horde war erst 1801 vom Ural in die ehemals von Kalmuecken besiedelte Steppe eingewandert und Chan Bukej zum Vasallen des Zaren gemacht worden. Bereits 1845 wurde das Chanat bereits wieder aufgeloest und das Gebiet und dessen Bewohner der direkten russischen Herrschaft unterstellt.18 In den 1880er-Jahren war die Innere Horde eine Gemeinschaft, die ihr Nomadenleben ueberwiegend aufgegeben hatte und in der traditionelle Herrschaftsformen und Autoritaeten lediglich eine marginale Rolle spielten. Den jungen Moskauer Studenten interessierte vor allem, so schreibt er, wie sich die Veraenderungen der Lebensbedingungen auf die Physiognomie der Kasachen ausgewirkt haben. (19)
Zu Charuzins Zeiten waren Ethnographie und physische Anthropologie zwei noch sehr junge Wissenschaften, die sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts sukzessive zu formieren begannen. Eine besondere Rolle in der Forderung der russischen Ethnographie kam der 1845 gegruendeten Russischen Geographischen Gesellschaft (RGO) zu, die zunaechst vor allem die ethnographische Erforschung des einfachen russischen Volkes im Sinne der deutschen „Volkskunde“ forderte. Seit dem fruehen 18. Jahrhundert waren aber auch immer wieder Forschungsreisen an die imperiale Peripherie unternommen worden, in deren Zuge sich eine Tradition der deskriptiven Beschreibung der nicht-russischen Volker im Sinne des Begriffs „Volkerkunde“ etabliert hatte. (20)
Bis ins spaete 19. Jahrhundert hinein stellten Reiseberichte die Hauptquelle fuer ethnographisches Wissen ueber die Bewohner der imperialen Randgebiete dar, die von Wissenschaftlern aus Nachbardisziplinen und vielfach von interessierten Laien verfasst wurden. Obwohl im 19. Jahrhundert das Interesse fuer ethnographisches Wissen im Kontext des europaweit erwachenden Nationalismus rasant zunahm, wurde das Fach an den auslaendischen Universitaeten bis zur Revolution lediglich im Rahmen des Geographiestudiums ohne eigenen
Lehrstuhl gelehrt.
Waehrend die russischen Ethnographen vornehmlich an der Erforschung des Alltagslebens der russischen Bauern und nicht-russischen Volker interessiert waren, begannen Zoologen, Mediziner und Historiker in den 1850er- und 60er-Jahren, nach den Ursachen menschlicher Vielfalt zu fragen und sich mit den zu jener Zeit in Westeuropa populaeren Rassetheorien auseinanderzusetzen. 21 Bereits im Jahr 1879 wurde an der Moskauer Universitaet der erste Lehrstuhl fuer physische Anthropologie eingerichtet, der auf ausdrucklichen Wunsch der Initianten an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultaet angesiedelt wurde. (22)
Gegenstand des neuen Fachs waren sowohl die Erforschung der praehistorischen Geschichte Russlands anhand kraniologischer Untersuchungen als auch die Identifizierung der grundlegenden existierenden Rassetypen – das heisst eine „anthropologische Kartographieren“ (23) des gegenwaertigen Russlands. Die russische physische Anthropologie bietet in Bezug auf ihre Forschungsinteressen und Ziele allerdings kein einheitliches Bild. Sie war viel mehr je nach lokaler und ideologischer Verortung in verschiedene Schulen und Forschungsansatze gespalten. (24) Tonangebend in der Disziplin waren jedoch die Moskauer Anthropologen, 25 in deren Kreis Charuzin seine wissenschaftliche Sozialisation erfuhr. Die Moskauer Wissenschaftler hatten die einflussreiche OLEAE gegruendet und organisierten in den 1860er- und 70er-Jahren Aufsehen erregende ethnographische und anthropologische Ausstellungen. (26) Marina Mogilner bezeichnet in ihrer Monographie ueber die Geschichte der physischen Anthropologie im Russlandischen Imperium die anthropologische Schule um die Moskauer Professoren Anatolij P. Bogdanov und Dmitrij N. Anucin als „liberale Anthropologie der imperialen Diversitat“ (27). Mit dieser Begrifflichkeit versucht Mogilner, die Besonderheit der Moskauer Anthropologen auf den Punkt zu bringen, naemlich ihre Ablehnung einer Klassifikation von Voelkern anhand kultureller Kategorien in Kombination mit der Annahme einer starken Vermischung der auslaendischen Volker untereinander – dem Paradigma vom sogenannten
gemischten Rassetyp. (28) Das UEberraschende an den Moskauer Anthropologen ist laut Mogilner die Entwicklung einer Rassetheorie gewesen, die nicht ausgrenzend und hierarchisierend gewesen sei, (29) da die Wissenschaftler auf ihrer Suche nach den grundlegenden Rassetypen, welche die rassische Evolution des russlandischen Territoriums gepraegt hatten, das russische Volk genauso untersuchten wie die indigene Bevoelkerung der imperialen Randgebiete. (30)
Inwiefern diese Einschaetzung Mogilners zutreffend ist, oder ob nicht vielmehr auch die Moskauer Anthropologen durch die Vermessung, Klassifizierung und Genealogisierung (31) ihrer epistemischen Objekte ein Machtgefalle zwischen Kategorisieren und Kategorisierten herstellten, musste an anderer Stelle untersucht werden. Im Folgenden soll stattdessen gezeigt werden, in welchem Zusammenhang Aleksej Charuzin und seine Fotografien mit der Moskauer Schule und jenem Paradigma vom gemischten Rassetyp standen.

Die Bildgattung der ethnologisch-anthropologischen Fotografie

Charuzins 386 Seiten umfassende wissenschaftliche Studie ist in einen ethnographischen und einen anthropologischen Teil gegliedert und enthalt 73 Fotografien, die etwa zur Hilfe auf beide Teile aufgeteilt sind. Herausgegeben wurde sie von der OLEAE, was den grossen Wert zeigt, den die Moskauer Wissenschaftler Charuzins Untersuchung beimassen. Die Monographie ist eine der aeusserst seltenen ethnographisch-anthropologischen Publikationen aus dem Zarenreich, in der eine solch grosse Anzahl an Fotografien abgedruckt ist. Sowohl fuer seine wissenschaftliche Untersuchung als auch fuer die Fotografien, die er im Auftrag der Gesellschaft zur Verbreitung technischen Wissens anfertigte, erhielt Charuzin zahlreiche Auszeichnungen. (32)
Wie sich seine wissenschaftliche Arbeit vor Ort gestaltete, berichtet Charuzin in seinen Reiseaufzeichnungen. Waehrend die lokalen Eliten den jungen Studenten bereitwillig unterstutzten und gerne ueber ihren Volksstamm, dessen Geschichte und Lebensgewohnheiten Auskunft gaben, (33) scheint das Auffinden von Personen, die mit einer anthropometrischen Vermessung ihres Koerpers einverstanden waren, weniger einfach gewesen zu sein; denn Charuzin behalf sich damit, die Insassen des oertlichen Gefaengnisses dieser Untersuchung zu unterziehen. (34) Wie er Personen fand, die bereit waren, sich von ihm fotografieren zu lassen, berichtet er allerdings nicht. Auch in Bezug auf die Fotografien muss davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Aufnahmen moeglicherweise in der Zwangssituation des Gefaengnisses entstanden ist. Insgesamt hat er um die 200 Aufnahmen angefertigt, die leider nicht erhalten sind, (35) weshalb ich in meiner Analyse die materielle Dimension der Fotografien ausblenden und den Fokus vor allem auf die diskursive Funktion der publizierten Bilder richten werde. (36)
Fuer seine wissenschaftliche Studie hat Charuzin neben einigen wenigen Aufnahmen von Kibitkas und UEberwinterungsorten ausschliesslich Portraets von Maennern vor schlichtem Hintergrund jeweils in Profil-und Frontalaufnahme ausgewaehlt. Mit diesem Inszenierungsmodus orientierte sich der Fotograf weitgehend an den zeitgenoessischen Darstellungskonventionen der russischen ethnographisch-anthropologischen Forschung. Wie korrekte wissenschaftliche Aufnahmen auszusehen haben, hatte die RGO bereits im Jahr 1872 in einer Richtlinie definiert: Darin wird zunaechst zwischen ethnographischen und physiognomischen Fotografien differenziert, von denen letztere wiederum in Portraets und Ganzkoerperaufnahmen unterteilt werden. Bezueglich der Portraetfotografen wird gefordert, auf jegliche kuenstlerische Effekte zu verzichten und eine natuerliche Beleuchtung sowie einen hellen Hintergrund zu Wahlen. Vom Portraetierten muesse je eine Frontal-und eine Profilaufnahme angefertigt werden, auf der lediglich Kopf und Brust – im Idealfall unbekleidet – zu sehen sind. Fuer eine Ganzkoerperaufnahme sei die abzulichtende Person in aufrechter Haltung von vorne, von der Seite und von hinten zu fotografieren. Fuer eine Ganzkoerperaufnahme muesse der Portraetierte unbedingt unbekleidet sein und im Idealfall ein Massband vertikal in der Hand halten. Aus diesen Vorgaben mit ihren Forderungen nach Nacktheit und Vermessung wird deutlich, wie eng sich die Richtlinie an den Standards der westeuropaeische Kolonialfotografie orientierte.
Bezueglich der ethnographischen Aufnahmen wird angemerkt, dass diese Bildgattung sehr unterschiedlich ausfallen koenne und im Gegensatz zu den physiognomischen Portraets eine staerkere AEsthetisierung aufweisen duerfe. Ein besonderes Augenmerk solle auf die Dokumentation von Kleidung, Waffen und Alltagsgegenstanden sowie auf die Darstellung von Behausungen, Siedlungen und Szenen aus dem oeffentlichen und privaten Leben gelegt werden. (37)
Fuer seine wissenschaftliche Studie fertigte Charuzinn physiognomische Portraets an, die sich in wesentlichen Punkten an der oben zitierten Richtlinie zu orientieren scheinen: die Darstellung derselben Personen jeweils in Frontalaufnahme und Halbprofil, der schlichte Hintergrund, der Verzicht auf kuenstliche Posen und der bemueht neutrale Gesichtsausdruck der Portraetierten. Allerdings verwendete Charuzin eine kuenstliche Beleuchtung und verzichtete in den meisten Faellen auf die geforderten Ganzkoerperaufnahmen. Die einzigen beiden Ganzkoerperaufnahmen zeigen die dargestellten Personen zudem bekleidet – und nicht wie gefordert nackt. Von den ueber 60 physiognomischen Aufnahmen zeigen nur drei unbekleidete Personen (Abb. 4, 5 und 6):

Zwar weicht Charuzin in dieser Hinsicht von den Vorgaben der Richtlinien ab, scheint damit aber der gaengigen Praxis russischer Fotografen entsprochen zu haben, denn in allen mir bisher bekannten Kollektionen bilden Nacktaufnahmen eher eine Ausnahme als die Regel. Ob die Seltenheit von Nacktaufnahmen im russischen Kontext allein mit dem banalen Umstand zu erklaeren ist, dass die indigene Bevoelkerung Afrikas oder Sudamerikas generell kaum Kleidung trug und somit einfacher dazu zu ueberreden war, sich unbekleidet ablichten zu lassen als ein muslimischer Usbeke oder sibirischer Jakute, oder ob die russischen Fotografen dies bewusst vermieden, liegen mir bisher keine Erkenntnisse vor. Fest steht, dass sich Charuzin mit diesen Aufnahmen in das Genre des physiognomischen Typenportrats einreihte, das nicht darum bemueht war, eine individuelle Persoenlichkeit einzufangen, sondern um die verallgemeinernde Darstellung eines bestimmten Menschentypus’. Diese Bildgattung, die der wissenschaftlichen Schematisierung und Klassifizierung diente, degradierte die Auszuschliessende Personen zu passiven Untersuchungsobjekten, denen die visuellen Codes unbekannt waren, auf welche die Aufnahmen rekurrierten. In dieser Art der bildlichen Inszenierung, die den Dargestellten keine Moeglichkeit bot, am entstehenden Bild mitzuarbeiten, kommt der koloniale Blick besonders deutlich zum Ausdruck, der ein Gefuehl der kulturellen und technischen UEberlegenheit des Fotografen impliziert. (38)
In ihrer Monographie ueber die Geschichte der Objektivitaet haben Lorraine Daston und Peter Galison ueberzeugend gezeigt, dass Fotografien in der Wissenschaft nicht zwangslaeufig als objektiv galten, sondern dass der Glaube an die objektive Beweiskraft des fotografischen Bildes erst habe konstruiert werden muessen – und zwar durch praezise festgelegte Modi der fotografischen Inszenierung. Erst im Verlauf der zweiten Haelfte des 19. Jahrhundert habe sich die Objektivitaet als Leitideal und epistemische Tugend sukzessive etabliert und die Forscher angefangen, ihre Subjektivitaet als problematischen Faktor im Erkenntnisprozess wahrzunehmen.
Erst zu dieser Zeit hatten die Wissenschaftler begonnen, fuer das wissenschaftliche Bild Kriterien festzulegen, die sich nach dem neuen Ideal der mechanischen Objektivitaet richteten. (39) Diese These lasst sich anschaulich anhand der Richtlinien der RGO und Charuzins Bemuehen belegen, diesen Vorgaben zu entsprechen. Auch in der Ethnographie und Anthropologie galten Fotografien nicht selbstredend als wissenschaftlich relevantes Anschauungsmaterial. Sie mussten vielmehr genau festgelegten Kriterien entsprechen, um in der wissenschaftlichen Forschung anerkannt zu werden. (40)

Zur visuellen Herstellung ethnographisch-anthropologischen Wissens

Im Folgenden wird mit Hilfe einer Analyse des Text-Bild-Verhaeltnisses die Funktion untersucht, welche die Fotografien in Charuzins wissenschaftlicher Studie einnahmen und welche Unterschiede sich bezueglich der Verwendung der ethnographischen und anthropologischen Aufnahmen konstatieren lassen. Waehrend die Bilder im ethnographischen Teil hoechstens in einem seltenen Fussnoten verweis angesprochen werden und vor allem illustrativen Zwecken dienen, kommt ihnen im Kapitel „Uber den Typ der Kirgisen“ des anthropologischen Teils eine argumentative Bedeutung zu. Darin referiert Charuzin zunaechst den damaligen Forschungsstand und wiederholt, wie unterschiedlich die Kasachen der Inneren Horde in der Literatur bisher
beschrieben wurden, naemlich als kleinwuchsig, mittelgross. und gross., schwarzhaarig, rotbaertig – und sogar als dunkelblond. Ob der Ursprung der Kasachen eher mongolisch oder arisch sei, auch sei in der Forschung bisher noch keine Einigkeit erreicht worden, beklagt Charuzin. (41) Auch er selbst hatte nicht entscheiden koennen, von welcher Art die Kasachen der Inneren Horde wirklich seien, hatte er nicht ein ganz besonderes „Hilfsmittel“ (42) gehabt: seine fotografischen Typenportrats. Mithilfe seiner Aufnahmen koenne man erkennen, wie stark der Typ der Kasachen variiere. Anhand von Vergleichen demonstriert Charuzin im weiteren Verlauf des Kapitels an einer ganzen Reihe von Beispielen, wie unterschiedlich sich die Physiognomie der Kasachen darstelle. An Abb. 7 und 8 beispielsweise glaubt er die Unterschiedlichkeit zwischen mongolischem Typ (Abb. 7) und europaeischem Typ (Abb. 8) nachweisen zu koennen:

Abb. 7 Abb. 8
Nachdem er eine ganze Reihe derartiger Beispiele angefuehrt hat, die ueberwiegend die Vielfalt der Typen demonstrieren sollen, stellt er die rhetorische Frage, ob denn angesichts derartiger Verschiedenartigkeit ueberhaupt ein vorherrschender Durchschnittstyp existiere. Diese fuer ihn zentrale Frage wird sogleich bejahend beantwortet und die These aufgestellt, dass das Kennzeichen dieses Durchschnittstyps eben nicht die eindeutige Zuordnungsbarkeit zum europaeischen oder mongolischen Typ sei, sondern eine Vermischung beider Typen. Als Beleg fuer diese These werden im Folgenden wiederum eine ganze Reihe an Fotografien wie das eingangs beschriebene Bilderpaar (Abb. 1 und 2) angefuehrt, anhand derer Charuzin das Vorhandensein von sowohl europaeischen wie mongolischen Merkmalen in einer Person nachweisen zu koennen glaubt. Abbildung 1 und 2 uebernehmen in Charuzins wissenschaftlicher Argumentation die Funktion eines Beweises.
Charuzin verwendet seine physiognomischen Aufnahmen als scheinbar selbstredende Argumente, um eine These zu unterstutzen, die genau in das Paradigma der Moskauer Schule vom sogenannten gemischten Rassetypus passt. Das UEberraschende an Charuzins Argumentation ist dabei, dass er kein Wort ueber die Auswahl seiner Objekte und deren Repraesentativitaet verliert. Er suggeriert dem Leser, dass seine physiognomischen Aufnahmen alle existierenden Typen repraesentativ widerspiegeln. Ob Charuzin selbst von der zweifelsfreien Beweiskraft seiner Bilder uberzeugt war, oder ob er diese Problematik aus wissenschaftlicher Nachlaessigkeit ueberging, lasst sich an dieser Stelle lediglich spekulieren. Dass Charuzin die Frage nach der Repraesentativitaet seiner Bilder uebergeht, ist besonders deshalb erstaunlich,
weil dieses Thema in der zeitgenoessischen Fachliteratur durchaus diskutiert wurde. Sein
Professor Bogdanov problematisierte in der Abhandlung „Anthropologische Physiognomie“
ganz offen, dass die Frage, ob jemand besonders typisch fuer sein Volk aussieht, haeufig vom
Auge des Betrachters Abhange und somit rein subjektiv sei.43 In Charuzins Umgang mit den
Bildern wird deutlich, wie leicht sich Photographien instrumentalisieren lassen: Mit einer
anderen Bild-und Objektauswahl hatten die Aufnahmen ebenso ganz gegensaetzlichen Thesen
als Belege dienen koennen.

Die Bildauswahl der wissenschaftliche Studie und des Reiseberichts im Vergleich

Abschlie.end richtet sich der Fokus auf jene 16 Aufnahmen, die Charuzin zur Illustrierung seines Reiseberichts auswaehlte. Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwiefern sich diese Bilder von seinen physiognomischen Aufnahmen unterschieden und was fuer ein Wissen ueber die Kasachen der Inneren Horde wurde anhand dieser Bildauswahl vermittelt wurde.
Insgesamt gibt es im Reisebericht acht Fotografien von Personen, vier von Behausungen, zwei von Landschaften und zwei von der Reisegruppe, die Charuzin bei seinen Ausfluegen in die Steppe begleitete. Die vier Portraetfotos der maennlichen Repraesentanten sind im Freien vor einem natuerlichen Hintergrund aufgenommen. Auf dem bereits oben beschriebenen Bild eines aelteren Mannes (Abb. 3) und einer weiteren Aufnahme eines Alten (Abb. 9), sind zwei Maenner in traditioneller Kleidung zu sehen, die mit in die Huften gestemmten Haenden vor einer Kibitka
stehen:
Abb. 3 Abb. 9
Waehrend das eingangs beschriebene Bild aus einer leichten Froschperspektive aufgenommen ist, wird das Objektiv im zweiten Bild von oben auf den Portraetierten gerichtet, was den Betrachter auf diesen herabblicken lasst. Moeglicher Weise sind beide Bilder am gleichen Ort vor demselben Hintergrund aufgenommen worden. Ob der Blick von unten bzw. oben intendiert war, oder ob Charuzin fuer beide unterschiedlich grosse Personen die gleiche Hohe des Stativs waehlte, ohne sich ueber den Effekt im Klaren zu sein, lasst sich nicht eruieren. Fest steht, dass der Hohe des Objektivs eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Wirkung zukommt, da die Position des Objektivs den Betrachter auch im metaphorischen Sinne auf den Portraetierten herab oder zu ihm hinaufblicken lassen kann.
Auffaellig an den beiden Portraets ist nicht nur die unterschiedliche Positionierung des Objektivs. Die beiden Maenner haben ausserdem sehr verschiedene Gesichtszuge und sind von recht unterschiedlicher Statur. Eine weitere Fotografie soll scheinbar wiederum andere Typen zeigen (Abb. 10):

Abb. 10
Auf diesem Bild sind in weniger posierender Haltung zwei dunkelhaarige, baertige Maenner zu sehen, von denen der Rechte Gesichtszuge vorweist, die zu Charuzins Zeit dem mongolischen Typus zugeordnet wurden. Bis auf die Kleidung, die allerdings etwas abgenutzt wirkt, weisen diese zwei Maenner kaum AEhnlichkeiten mit den beiden anderen auf. Aus diesen drei Aufnahmen wird deutlich, dass Charuzin auch fuer den Reisebericht Bilder von sehr unterschiedlich aussehenden Individuen auswaehlte, um ein visuelles image der Inneren Horde herzustellen. In dieser Hinsicht korrespondiert die Inszenierung im Reisebericht mit jener in Charuzins wissenschaftlicher Untersuchung.
In seinem Reisebericht zeigt Chaurzin aber nicht nur Maenner sondern auch weibliche Angehoerige des Stammesbundes. Die drei Frauenportrats sind ebenfalls in der haeuslichen Umgebung der Portraetierten aufgenommen, und auch sie zeigen sehr unterschiedliche Personen, naemlich zum einen eine „Einfache Kirgisin“ (Abb. 11) und zum anderen ein „Reiches kirgisisches Maedchen“ (Abb. 12):

Abb. 11 Abb. 12
Anhand dieser Bilder demonstriert Charuzin diesmal nicht die physiognomische Heterogenitaet der Portraetierten, sondern ihre soziale Stratifikation. Er zeigt seinen Lesern einerseits eine Kasachin aus dem einfachen Volk, andererseits aber auch eine vornehme junge Frau aus der Oberschicht.44 Mit diesen Bildern inszeniert Charuzin die Innere Horde als eine in Arm und Reich gespaltene Gemeinschaft mit grossen sozialen Differenzen. Dieser Eindruck wird von einem weiteren Bilderpaar unterstutzt, das einerseits das Zelt eines armen Kasachen und andererseits jenes eines reichen Mannes zeigt (Abb. 13 und 14):

Abb. 13
Abb. 14
Auch die russische Gesellschaft war in Bezug auf ihre Sozialstruktur durch ein grosses Gefalle zwischen wohlhabenden und armen Bevoelkerungsschichten gekennzeichnet. Mittels der visuellen Inszenierung von Arm und Reich wird eine AEhnlichkeit des Stammesbundes mit der russischen Gesellschaft insgesamt suggeriert und dem Leser im imperialen Zentrum eine Identifikationsmoeglichkeit mit den kasachischen Eliten angeboten. Hinsichtlich einer imperialen OEffentlichkeit haben die ausgewaehlten Bilder eine inkludierende Wirkung. Die Anerkennung der nicht-russischen Eliten als gleichwertig gegenuber dem ethnisch russischen Adel hatte im Vielvolkerimperium eine lange Tradition. Bis ins 17. Jahrhunderts war beispielsweise die tatarisch-muslimische Aristokratie in den russischen Adel aufgenommen und zum Teil sogar mit leibeigenen russischen Bauern belehnt worden.45 Zwar wurden alle nicht-russischen Volker des asiatischen Teils Russlands im 19. Jahrhundert unabhaengig von ihrem sozialen Status der 1822 neu geschaffenen rechtlichen Kategorie der inorodcy (Fremdstaemmigen) zugeordnet und schon lange nicht mehr in das imperiale Staendesystem integriert, (46) der russlandische Adel war sich seiner tatarischen Einflusse aber durchaus bewusst. (47) Auch Charuzins Familie, ein reiches Moskauer Kaufmannsgeschlecht, war urspruenglich tatarischer Herkunft. (48)

Bilanz

Zusammenfassend lasst sich festhalten, dass Charuzin die Fotografie als Wissenspraktik nutzte, um den Ergebnissen seiner Feldforschung Glaubhaftigkeit zu verleihen. Dabei war er um eine Grenzziehung zwischen ethnographischen und anthropologischen Aufnahmen bemueht, was aus der unterschiedlichen Art und Weise der fotografischen Inszenierung deutlich wird. Fuer die verschiedenen literarischen Genres des Reiseberichts und der wissenschaftlichen Abhandlung und den damit verbundenen unterschiedlichen Adressaten waehlte der junge Wissenschaftler andersartig inszenierte Bilder. Waehrend die physiognomischen Typenportrats der wissenschaftlichen Studie vor neutralem Hintergrund unter kuenstlicher Beleuchtung aufgenommen wurden und anthropologisches Wissen ueber die Physiognomie des Volksstammes transportieren, zeigen die Bilder im Reisebericht die Steppenbewohner in ihren traditionellen Trachten und haeuslichen Umgebungen, womit sie vor allem die Vermittlung ethnographischen Wissens ueber den Lebensalltag der Steppenbewohner unterstutzen. Wahrend die anthropologischen Typenportrats zur wissenschaftlichen Argumentation und Beweisfuehrung benutzt wurden und notwendiger Bestandteil der anthropologischen Untersuchung waren, dienten die ethnographischen Aufnahmen in beiden Publikationen vor allem der Illustration. Der ethnographische Teil der Studie wurde auch ohne Bildmaterial funktionieren.
Um beim Betrachter die Illusion von wissenschaftlicher Neutralitaet und Evidenz zu evozieren, bediente sich das Genre des physiognomischen Typenportrats ganz bestimmter Darstellungsmodi und Konventionen. Charuzins Bemuehungen, fuer Reisebericht und wissenschaftliche Publikation unterschiedliche Bilder zu produzieren, zeigen, dass Fotografien nicht per se als wissenschaftlich-objektive Abbildungen anerkannt waren, sondern dass ihr scheinbar dokumentarischer Charakter erst durch praezise definierte Inszenierungsformen hergestellt und begruendet werden musste. Wahrend fuer die deskriptive Wissenschaft der
Ethnographie Dokumentaraufnahmen gefordert waren, die das Alltagsleben der jeweiligen Volker einfingen, musste fuer die harte Wissenschaft der Anthropologie ein anderer Bildtypus konstruiert werden, um als wissenschaftliches Beweismittel anerkannt zu werden.
Besonders interessant erscheint an Charuzins unterschiedlichen Inszenierungen, dass sie auf verschiedene Wissenssysteme rekurrieren. Waehrend die russische Ethnographie an bereits bekannte soziale Kategorien anknuepfte, bezog sich die anthropologische Forschung auf neue biologische Kriterien wie Typ und Rasse, die sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu etablieren begannen. An den Fotografien Aleksej Charuzins wird in diesem Zusammenhang manifest, dass im Russlandischen Imperium des spaeten 19. Jahrhunderts noch nicht entschieden war, welche der beiden Kategorien – die biologische oder soziale – die gro.ere Bedeutung
entfalten sollte.
Zwar lassen sich Unterschiede zwischen Charuzins anthropologischen und ethnographischen Aufnahmen und deren Verwendung festmachen, gleichzeitig zeigt sich aber auch, wie schwierig es ist, die Bilder eindeutigen Kategorien zuzuordnen.49 Der Vergleich mit den zeitgenoessischen Standards des Genres hilft zwar dabei, den Blick fuer die Spezifika der jeweiligen Bilder und Bildtypen zu scharfen und sich deren Funktion und Verwendungszwecke zu vergegenwaertigen.
Gleichzeitig darf aber nicht uebersehen werden, dass ein und dasselbe Bild auszuschliessende in verschiedenen Kontexten verwendet wurde und in den jeweiligen Rezeptionszusammenhangen mit unterschiedlichen Semantiken aufgeladen werden konnte. Trotz der genannten Unterschiede ist Charuzins ethnographischen und physiognomischen Bildern eines gemeinsam: Dem jungen Wissenschaftler ging es nicht um das Individuum,
sondern um den Typus. Zwar gewahrten die ethnographischen Aufnahmen einen groesseren Spielraum bezueglich AEsthetisierung, Inszenierung und Mitwirkung der Portraetierten und stellten vor allem soziale Charakteristika in den Vordergrund, aber auch bei diesen Bildern ging es nicht um das Arrangement einer Persoenlichkeit, sondern um die Dokumentation generalisierender Merkmale.
Die Analyse der ethnographisch-anthropologischen Fotografien Aleksej Charuzins hat gezeigt, wie anhand von Motivauswahl, Inszenierung und Verwendung die Konstruktion eines ganz bestimmten Images der Inneren Horde gesteuert und verschiedene Formen von Wissen produziert wurden. Dabei existiert kein Sinn unabhaengig vom Kontext. Erst im Zusammenhang mit Textnarrativ und zeitgenoessischem Wissensdiskurs entfalten Charuzins Fotografien ihre spezifische Bedeutung.

Anmerkungen
1 Zu A.N. Charuzin und seiner Familie siehe: M. M. Kerimova / O. B. Naumova: A.N. Charuzin -etnolog i antropolog, in: Repressirovannye ucenye, vyp. I, Moskva 1999, S. 164-198; dies.: Aleksej Nikolaevich Kharuzin. Ethnographer and Anthropologist,
in: Anthropology and Archeology of Eurasia 42 (2003) 2, S. 7-39; Mariam M. Kerimova : Aleksej Nikolaevic Charuzin (politiceskij portret), in: Voprocy istorii 7/2012, S. 30-44 ; dies.: Zizn', otdannaja nauke. Sem'ja etnografov Charuzinych, Moskva 2011.
2 Obscestvo ljubitelej estestvoznanija, antropologii i etnografii
3 Erklarung Kasachen -Kirgisen
4 Vgl. A.N. Charuzin: Kirgizy bukeevskoj ordy. Antropologo-etnologiceskij ocerk, vypusk pervy, Moskva 1889.
5 Vgl. Ders.: Stepnye ocerki. (Kirgizkaja Bukeevskaja orda) stranicki iz zapisnoj knizki, Moskva 1888.
6 Siegfried Kracauer: Die Fotografie, in: Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 239.
7 Ebd., S. 236.
8 Susan Sontag: Objekte der Melancholie, in: dies.: Uber Fotografie, S. 53-83, S. 73.
9 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, 12. Auflage, Frankfurt am Main 2008; ders.: Die Fotografie als Botschaft, in: ders.: Der entgegen kommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main 1990, S. 11-27; Susan Sontag: Objekte der Melancholie, in: dies.: Uber Fotografie, S. 53-83; dies.: In Platos Hohle, in: ebd., S. 9-30; Peter Geimer: Fotografie als Fakt und Fetisch. Eine Konfrontation von Natur und Latour, in: David Gugerli / Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beitrage zur visuellen Herstellung von Selbstverstandlichkeit, Zurich 2002, S. 183-194.
10 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, 12. Auflage, Frankfurt am Main 2008, S. 86.
11 Allan Sekula: Vom Erfinden fotografischer Bedeutung, in: Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 302-338, S. 303.
12 Ebd., S. 311.
13 Vgl. ebd.
14 Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36(1), S.159172, S. 165.
15 Jakob Vogel: Von der Wissenschaftsgeschichte zur Wissensgeschichte, in: GG 30 (2004), S. 639-660, S. 647.
16 Vgl. ebd., S. 651.
17 Zu den Reproduktionsformen von Wissen vgl. Sarasin: Wissensgeschichte, S. 168; zum Begriff des Wissensfeldes siehe: Veronika Lipphardt / Kiran Klaus Patel: Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Wissenspraktiken im 20. Jahrhundert am Bespiel menschlicher Diversitat, in: GG 34 (2008), S. 425-454, S. 430f.
18 Vgl. Charuzin, Stepnye ocerki, S. 18.
19 Vgl. Charuzin, Kirgizy bukeevskoj ordy, S. 20.
20 Vgl. Nathaniel Knight: Science, Empire, and Nationality. Ethnography in the Russian Geographical Society, 1845-1855, in: Jane
Burbank / David L. Ransel (Hg.): Imperial Russia. New Histories for the Empire, Bloomington 1998, S. 108-141, S. 128f.
21 Die kontinuierliche Auseinandersetzung russischer Wissenschaftler mit westeuropaischen Rassekonzepten betont v.a. Vera Tol`c: Diskursy o „pase“: imperskaja Rossija i Zapad v sravnenii, in: Ponjatija o Rossii II, Moskva 2012, S. 145-193 S. 159ff.; vgl. ausserdem Marina Mogilner: Homo imperii. A History of Physical Anthropology in Russia, Nebraska 2013, S. 18f.!
22 Mogilner, Homo imperii, S. 34ff.
23 Ebd., S. 101.
24 Vgl. ebd., S. 54ff.
25 Vgl. ebd., S. 22.
26 Die „Erste allrussische ethnographische Ausstellung“ (1867), die „Polytechnische Ausstellung“ (1872) und die „Anthropologische Ausstellung“ (1879).
27 Mogilner, Homo imperii, S. 101.
28 Vgl. ebd., S. 108, 113ff.
29 Vgl. Mogilner, S. 121.
30 Vgl. ebd., S. 107f, 117, 122ff.
31 Zum Thema Wissenspraktiken in Bezug auf die Erforschung von Humandiversitat siehe: Lipphardt / Patel: Neuverzauberung, S. 425-454.
32 Vgl. Kerimova / Naumova: Aleksei Nikolaevich Kharuzin, S. 13.
33 Vgl. z.B. Charuzin, Stepnye ocerki, S. 75.
34 Vgl. Charuzin, Stepnye ocerki, S. 29ff.
35 Die Dokumente der OLEAE sind auf viele verschiedene Archive verteilt, deren Bestande insgesamt sehr luckenhaft sind. Zum Archiv der OLEAE siehe: Kerimova, M. M. / Naumova, O. B.: Obnaruzenaja archiv A.N. Charuzina, in : Etnograficeskoe obozrenie 5/1995, S. 159 ; dies.: Archiv A.N. Charuzina v biblioteke MGU, in: Vestnik archivista 55-6/2000, S. 42-60 ; Leider habe ich in keinem der in Frage kommenden Archive die Fotos Charuzins ausfindig machen konnen. Viele Dokumente sind wahrend der Revolution verschollen oder Branden zum Opfer gefallen.
36 Zur Bedeutung der materiellen Dimension siehe: Elizabeth Edwards: Shifting representation. The making of the ethnographic in nineteenth century Fotografy, in: Hans P. Bayerdorfer u.a. (Hg.): Bilder des Fremden, Mediale Inszenierung von Alteritat im 19. Jh., Berlin u.a. 2007, S. 41-61, S. 47f.
37 Izvestija RGO 1872, Otdel vtoroj (Geograficeskaja izvestija), S. 86-88.
38 Siehe dazu: Raffel Dedo Gadebusch: Echtes oder Inszeniertes Indien. Der koloniale Blick in der fruhen Portratfotografie Sudostasiens, in: Raffael Dedo Gadebusch / Ludger Derenthal / Katrin Specht (Hg.): Das koloniale Auge. Fruhe Portratfotografie in Indien, Berlin 2012, S. 9-17.
39 Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivitat, Frankfurt am Main 2007, S. 28ff; 133ff.
40 Vgl. dazu auch: A.P. Bogdanov: Antropologiceskaja fiziognomika, Moskva 1878, S. 10.
41 Vgl. Charuzin, Kirgizy, S. 261ff.
42 „podspor’’e“, ebd., S. 280.
43 Vgl. Bogdanov: Antropologiceskaja fiziognomika, S. 7.
44 Unterscheidung „Weissknochige“ – „Schwarzknochige“.
45 Vgl. Andreas Kappeler: Russland als Vielvolkerreich, Munchen 2001, S. 107; vgl. auch David Schimmelpenninck van der Oye: The paradox of Russian Orientalism, in: Patty Wagemann / Inessa Kouteinikova (Hg.): Russia’s Unknown Orient: Orientalist Painting 1850-1920, Groningen 2010, S. 15-23, S.16; vgl. Mogilner, Homo imperii, S. 17.
46 Siehe dazu: John W. Slocum: Who, and When, were the Inorodtsy? The Evolution of the Category of „Aliens“ in Imperial Russia, in: Russian Review 57 (1998) 2, S. 173-190.
47 Figes – Nataschas Tanz
48 Ich danke der Charuzin-Forscherin Mariam Kerimova von der Russischen Akademie der Wissenschaften fur diesen interessanten Hinweis sowie fur ihre uberaus hilfreiche Unterstutzung bei der Recherche.
49 Auch in der westeuropaischen Fotografie waren die Grenzen zwischen ethnographischer und anthropologischer Fotografie flie.end; siehe dazu: Paul Hempel: Facetten der Fremdheit. Kultur und Korper im Spiegel der Typenfotografie, in: Bayerdorfer (Hg.): Bilder des Fremden, S. 177-205, S. 178

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