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Ostdeutsche Studierende in der Sowjetunion

06.11.2011, 11:22

Nagornaja Oxana (Tscheljabinsk)

Ostdeutsche Studierende in der Sowjetunion.
Transnationale Raeume, blockinterne Ordnung und berufliche Karrieren im Kontext des Kalten Krieges (1950er und 1960er Jahre)(*).

Zusammenfassung
Am 12. Mai 1952 (nachdem 172 Studenten aus der DDR ihr erstes Studienjahr absolviert hatten) schlossen die Sowjetunion und die DDR ein Abkommen ueber die Ausbildung von ostdeutschen Studenten und Aspiranten (sowjetische Bezeichnung fuer Doktoranden) an sowjetischen Hochschulen. Nach ihrer Rueckkehr in die DDR sollten diese fuehrende Posten in Partei, Verwaltung, Wissenschaft und Industrie erhalten. Ein Diplom einer sowjetischen Universitaet eroeffnete in der DDR eine breitere Perspektive fuer die berufliche Entwicklung als ein sehr guter Abschluss an einer ostdeutschen Hochschule. Deshalb machten ca. 20.000 Studenten in der DDR von den 1950er bis zu den 1980er Jahren eine ?steile wenn auch nicht privilegierte Karriere? (K.-A. Zech). Laut den Publikationen zum 20. Jahrestag der Ausbildung ostdeutscher Studenten in der Sowjetunion hatten bis 1972 schon 5000 Buerger des ?ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates? das Vollstudium in der UdSSR abgeschlossen; weitere 2000 hatten kurze Teilzeitprogrammen absolviert oder in der Sowjetunion promoviert. Die wohl beruehmtesten dieser DDR-Studenten waren in den 1960-70er Jahren der Industrieminister (K. Singhuber), der Staatssekretaer des Bildungs- und Technikministeriums (K. Stubenrauch), der Praesident der Akademie der Wissenschaften (G. Neuner), der Rektor der Freiberger Bergbauakademie (D. Rotter), der Direktor des Institutes fuer Chemie und Oel (S. Novak), der Dekan der Fakultaet fuer Biologie der HU (H.Goering), sowie mehrere hochrangige Parteifunktionaere (unten ihnen auch Mitglieder des ZK der SED) und zahlreiche fuehrende Wissenschaftler. Die Gesamtzahl der Professoren und Dozenten in der DDR, die ihre Ausbildung in der Sowjetunion absolviert hatten, betrug im Jahr 1977 schon ueber 600. In der Technischen Hochschule in Karl-Marx-Stadt waren ueber 90 der dort taetigen bekannten Wissenschaftler Absolventen sowjetischer Hochschulen.
Die Ausgangsthese des Projekts ist die Annahme, dass die Erfahrung des Studiums in der Sowjetunion einen wichtigen Einfluss auf die Weltanschauung, auf den wissenschaftlichen und politischen Habitus der ostdeutschen Elite nahm. Die ?Grenzgaenger? zwischen der sowjetischen und der ostdeutschen Realitaet schufen einen bestaendigen Kanal der Einflussnahme und des Wissenstransfers, der auch als Mittel des blockinternen Zusammenhalts Wirkung entfaltete. Diese DDR-Studenten bildeten einen wichtigen Teil der ostdeutschen Gesellschaft, der reale (nicht abstrakte, medial vermittelte) Erfahrungen mit der Sowjetunion und der propagandistisch inszenierten ?sozialistischen Gemeinschaft? gemacht hatte. Laut Dietrich Beyrau sind die staendigen Kontakte, Abstimmungen und Sprachregelungen zwischen den Parteifuehrungen wichtiger als die formellen zwischenstaatlichen Vereinbarungen gewesen: ?Zur Koordination und in gewisser Weise auch zur gemeinsamen Sozialisation wird die Schulung vieler Parteikader und Militaers, aber oft auch die berufliche oder wissenschaftliche Ausbildung in der Sowjetunion beigetragen haben?. Deshalb ist eine der Aufgaben des vorliegenden Projektes diese indirekten Methoden zu untersuchen, mit denen die Sowjetunion sich bemuehte, die Satellitenstaaten an sich zu binden.
Methodisch stuetzt sich die Forschung auf das Konzept der ?transnationalen Geschichte? sowie auf die Begriffe des kulturellen Transfers und des ?transnationalen sozialen Raumes?. Als wichtige Begegnungsraeume und Kontaktzonen werden sowjetische Hochschulen untersucht, wo der sozialistische Kanon vermittelt und angeeignet wurde. Hier naeherten sich die Kulturen einander an und vermischten sich; hier wurden Deutungs- und Handlungsmuster erlernt, wissenschaftliche Haltungen erlaeutert und Sprach- sowie Paradigmenbarrieren ueberwunden. In diesem transnationalen Prisma koennen aufschlussreiche Antworten gefunden werden sowohl auf die viel diskutierte Fragen nach der Existenz einer spezifischen ?Cold War Culture? innerhalb des Ostblocks, als auch auf die Frage nach der Tiefe und den Grenzen der Sowjetisierung der ostdeutschen Elite und der politischen, wissenschaftlichen und industriellen Kultur der DDR.
Eine weitere methodische Orientierung stellt die Untersuchung moderner Imperien dar. Insbesondere soll der wechselseitige Einfluss zwischen Metropole und Peripherien durch Zwischenraumbiographien in Augenschein genommen werden. Damit traegt das Projekt dazu bei, den Ostblock als einen grenzueberschreitenden Kommunikations- und Kulturraum zu verstehen und so zu beschreiben, dass es auch auf der oestlichen Seite des Eisernen Vorhangs transnationale Integrationsbestrebungen sowie rege Vernetzungs- und Austauschprozesse gegeben hat.
Stand der Forschung
Die vorliegende Untersuchung fuegt sich in mehrerer Hinsicht gut in die aktuelle Forschungslandschaft ein. Obwohl das Ende des Kalten Krieges und der Zerfall des Ostblocks ein reges Interesse an der Erforschung der DDR-Geschichte hervorgerufen haben, klagen Experten heute ueber die geringe Zahl vergleichender Studien und ueber ihre mangelnde Kontextualisierung in der Geschichte des Kalten Krieges. Insbesondere bemaengelt Eva Badstuebner-Peters fehlende Untersuchungen zu den ostdeutschen Studenten und Wissenschaftlern in der UdSSR:
Bislang gibt es nur wenige Arbeiten ueber das Auslandsstudium in der Sowjetunion, die sich vor allem mit der Universitaet der Voelkerfreundschaft und den Studenten aus Asien, Afrika und Lateinamerika beschaeftigten. Zudem liegt eine kurze Darstellung der Stasi-Taetigkeit im Institut fuer die Vorbereitung zum Auslandsstudium in Halle (ABF-IFA)) vor. Allerdings lassen sich in der umfangreichen Literatur zur Geschichte des Kalten Krieges, der UdSSR und der DDR Anknuepfungspunkte fuer das vorliegende Projekt finden.
1. Die Forschung zum Kalten Krieg konzentrierte sich in den letzen Jahren weniger auf politische Aspekte, sondern sie versteht die bipolare Blockkonfrontation verstaerkt als Konflikt, der ?bei vielen Beteiligten eine gesellschaftlich akzeptierte Sinnbildung, eine individuelle und kollektive Ordnung schuf? (Bernd Stoever).
2. In der aktuellen Literatur zur DDR-Geschichte ist eine Revision der festgefahrenen Forschungsklischees zu beobachten. Der ostdeutsche Staat wird nicht nur als eine von der sowjetischen Gewalt aufgezwungene Diktatur betrachtet, sondern auch als ?besondere Erscheinung des modernen industriellen Staates in Europa? (Jay Rowell). Die noch immer dominierende Gegenueberstellung von Amerikanisierung und Sowjetisierung wird allmaehlich relativiert. Dringend erforderlich ist eine detaillierte Untersuchung derjenigen Entwicklungen und Erfahrungen, die bei der Konstruktion der DDR-Identitaet dafuer sorgten, dass es durch Entlehnungen und Adaptionen in der Sprache, im politischen Stil, im Alltagshabitus, in wissenschaftlichen und beruflichen Praktiken zu einer Orientierung an sowjetischen Mustern kam. Gute Anknuepfungspunkte bieten hier Studien zur Sozialgeschichte der DDR, vor allem zur Entstehung der Staats- und Parteielite sowie zur Generationsgeschichte. Das Ende der 1940er und der Anfang der 1950er Jahre werden als eine Periode der radikalsten Transformation von sozialen Strukturen und der Elitebildung beschrieben, die kein Vorbild in der deutschen Geschichte gehabt haetten. Dabei wird unterstrichen, dass die aeltere und juengere Aufbaugenerationen (Jahrgaenge 1925-45) das Reservoir fuer die dringend benoetigten neuen Kader fuer die Staatsverwaltung, die Parteiinstitutionen und vor allem fuer das Bildungswesen stellten. Fuer diesen ?umerzogenen? Teil der HJ-Generation war die Bereitschaft zu Disziplin, Loyalitaet und Selbsterziehung charakteristisch.
3. Studien zur ostdeutschen Hochschulpolitik richten ihre Aufmerksamkeit bislang auf die Hochschulreformen, die Geschichte einzelner Universitaeten, die Studentenpolitik und auf die Kollektivbiographie der Professorenschaft. Detailliert erforscht sind die Entwicklung der Hochschulbildung, die Mechanismen der sozialen Privilegierung und der Militarisierung der Intelligenz sowie die unterschiedlichen Widerstands- und Repressionsformen. In diesem Kontext sind auch Studien zum Wissenschaftleraustausch entstanden, die sich bis jetzt aber auf Kontakte zwischen Ost und West konzentrierten und die Austausch- und Verflechtungsprozesse innerhalb des Ostblocks vernachlaessigen.
4. In den letzten Jahren sind mehrere Arbeiten publiziert worden, die sich eingehender mit der innergesellschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion beschaeftigten. Mit seiner transnationalen Perspektive wird das vorliegende Projekt den Horizont dieser Studien erweitern, indem es herausstreicht, dass die grenzueberschreitende Bezug- und Einflussnahme einen bislang zu wenig thematischen Faktor der Sowjetgeschichte darstellt.

Fragestellung, Zugaenge und Methoden
Um das Projekt zu realisieren, werden bestimmte Kontrollgruppen aus dem Gros der Studenten ausgewaehlt, die ein Studium in der Sowjetunion absolvierten: Vertreter des Parteiapparats, des diplomatischen Korps, der Wissenschaft (Philosophie, Rechtswissenschaft), des Gesundheitswesens und der Erdoelindustrie. Die Untersuchung konzentriert sich auf die ostdeutschen Vollstudenten und Aspiranten in der UdSSR, denn die Parteischulung, die studentischen Brigaden und das Teilzeitstudium schufen wegen des begrenzten Zeitraums des Auslandsaufenthaltes besondere, meist weniger intensive und nachhaltige Erfahrungen. Der Unterschied in der beruflichen Mobilitaet zwischen der aelteren und der juengeren ostdeutschen Generation, der von der Forschung hervorgehoben wird, bedingt die Konzentration des Projekts auf die Alterskohorte , die zwischen 1925 und 1945 geboren wurde, also auf die Studenten und Aspiranten, die waehrend der 1950er und 1960er Jahre in der Sowjetunion ihrem Studium und ihren Forschungen nachgingen.
Der chronologische Rahmen des Projektes umfasst eine interessante Periode. Die erste Zeitgrenze markieren die entscheidenden Ereignisse in der Geschichte des Ostblocks: der endgueltige Verzicht der Sowjetfuehrung auf die Versuche, ein vereinigtes Deutschland in die eigene Einflusszone einzubeziehen, sowie die Stabilisierung der DDR als eigenstaendiger Staat. ?Der Tod Stalins, das ?Tauwetter? in der Sowjetunion, die Krisen von 1956 in Ungarn und Polen beendeten die Unterwerfung der kommunistischen Parteifuehrungen des oestlichen Europas unter das Diktat Moskaus, sie aenderten aber nur wenig an der strukturellen Hegemonie der sowjetischen Seite. Moskau bemuehte sich seither um ein eher dialogisches Verhaeltnis? (D. Beyrau). Der Bau der Mauer im August 1961 wird in der Forschung oft als das eigentliche Gruendungsdatum der DDR bezeichnet. Der Schliessung der Grenzen folgte die Entstehung einer ostdeutschen Identitaet. Die sowjetische Beeinflussung nahm seither einen eher indirekten Charakter an. Haeufig werden die 1960er und der Anfang der 1970er Jahre als die ?besten Jahren der DDR? (Dorothee Wierling) und als ?Phase der (relativen) Stabilisierung und Routinisierung? bezeichnet, ?in der sich die DDR-Buerger an die neuen Spielregeln gewoehnt und sich ihr Leben in und mit der parteistaatlichen Diktatur eingerichtet hatten? (Mary Fulbrook). Deswegen erweisen sich die spaetere Stalin-Zeit, die Tauwetterperiode und die fruehe Breshnew-Zeit als vielversprechend, um die Konstruktion und Transformation der ostdeutschen Identitaet sowie den blockinternen Zusammenhalt der ?sozialistischen Gemeinschaft? zu untersuchen.
Das Projekt umfasst zwei grosse Themenfelder:
1. Aus einer institutionellen Perspektive sollen das System des Auslandsstudiums, die Bildung der sozialistischen scientific community, der administrativen und politischen Elite sowie ihre Sozialisations- und Kommunikationspraktiken beschrieben werden.
2. Bei der Einbeziehung subjektiver Faktoren geht es um die Frage, welchen Einfluss die Erfahrung des Aufenthaltes in der UdSSR auf die Identitaetsbildung der Betroffenen hatte. Wie wurden die Erfahrungen verarbeitet, wie wurden sie weitergegeben? Konstituierten sie Gruppenzusammenhaenge, Netzwerke und Seilschaften? Blieben die Kontakte in die Sowjetunion nach der Rueckkehr in die DDR erhalten?
Laut Verordnung des Zentralkomitees der KPdSU hatte die Ausbildung und Erziehung der Studenten aus den ?volksdemokratischen? Laendern grosse politische Bedeutung. Die sowjetischen Hochschulen waren verpflichtet, fuer die Ausbildung von hoch qualifizierten, politisch geschulten und dem Sozialismus treu ergebenen Spezialisten fuer die osteuropaeischen Bruederlaender zu sorgen. Damit wurde offen zugegeben, dass politische Erwaegungen - vor allem die Sorge um die bestaendige Erweiterung und Intensivierung der Zusammenarbeit und der Freundschaft im sozialistischen Lager - eine Rolle spielten. Die ideologisch-erzieherische Arbeit mit den auslaendischen Studenten betrachtete die KPdSU als ?eines der wichtigsten Gebiete des Kampfes fuer den Sieg der kommunistischen Ideologie?, denn diese sollten den volksdemokratischen und kapitalistischen Laendern die Solidaritaet des Ostblocks vor Augen fuehren.
Bei der Festlegung der Auswahlkriterien kam der ostdeutschen Seite ein hoher Grad an Selbstaendigkeit zu. So erstellte die DDR-Fuehrung ein Verzeichnis von Fachrichtungen und Diplomthemen, mittels dessen die Kandidaten vorrangig ermittelt wurden, die zu Studien- und Forschungszwecken in die Sowjetunion reisten. Erst zu Beginn der 1970er Jahre nahm ein sowjetischer Vertreter unmittelbar am Auswahlverfahren der DDR-Kandidaten teil.
Eingehender bleibt zu klaeren, wie die Hochschulen bestimmt wurden, an denen die DDR-Studenten ihren Studien und Forschungen nachgingen, wie ihre Lebensbedingungen organisiert waren, wie die Studien- und Ausflugsprogramme aussahen, welche Aufnahme- und Abschiedsrituale gab. Als Ausgangspunkt zur Foerderung eines blockweiten Zusammengehoerigkeitsgefuehls diente das schon erprobte Modell des Sowjetpatriotismus. Es setzte sich zusammen aus Patriotismus (im ostdeutschem Fall Patriotismus zum deutschen Arbeiter-und-Bauernstaat) und proletarischem Internationalismus. Die Anwesenheit auslaendischer Studenten in der Sowjetunion sollte zugleich dazu beitragen, die sowjetische Bevoelkerung selbst im Geiste der sozialistischen Solidaritaet zu erziehen.
Interessant zu untersuchen ist, welche Instrumente der (in)direkten politischen und ideologischen Beeinflussung neben der russischen Sprache und der marxistischen Philosophie im Unterricht und im Alltag genutzt wurden. Das vorliegende Projekt vergleicht darum Studiumsplaene und Betriebspraktikumsprogramme, die fuer verschiedene Studentengruppen vorgesehen waren. Des Weiteren sind folgende Fragen zu beantworten: mit welchen Codes wurde die Hierarchie von sozialistischen Laendern, die sowjetisch-ostdeutschen Beziehungen, die bipolare Ordnung, die ?Dritte Welt?, das ?Eigene? und das ?Fremde? besetzt? Wie aenderten sich die offizielle Sprache und die indirekten Disziplinierungspraktiken im Kontext der internationalen und innenpolitischen Ereignisse sowie der politischen Kursaenderungen und der Krisen des Ostblocks in den Jahren 1953, 1956, 1968? Wie wurde die blockinterne Ordnung definiert?
Im Rahmen ihres Auslandsstudiums sammelten die ostdeutschen Studenten Erfahrungen mit der sowjetischen Wirklichkeit, mit den Studierenden aus anderen sozialistischen und auch aus kapitalistischen Laendern. Die ostdeutschen Behoerden betrachteten ihre Austauschstudenten deshalb als wichtige Repraesentanten der Kulturdiplomatie. Im behoerdeninternen Briefwechsel laesst sich die Rhetorik des Kalten Krieges rekonstruieren sowie die Versuche, sich selbst als den Teil des sozialistischen Lagers zu praesentieren, der die wichtige Rolle des Vorpostens und der ersten Verteidigungslinie uebernommen hatte. Um dieses Selbstbild der DDR erfolgreich zu vermitteln, wurden verschiedene Aktivitaeten des Studentenlebens benutzt, so z.B. Konferenzen, DDR-Jubilaeen, Kooperationen mit den Studierenden aus anderen Laendern usw. Den ostdeutschen Austauschstudenten wurde musterhaftes Verhalten und ausgezeichnete Studiumsergebnisse zur Vorschrift gemacht, damit sie an sowjetischen Hochschulen als ?wuerdige Vertreter? des neuen deutschen Teilstaates in Erscheinung treten konnten. Aber in der Wirklichkeit des Universitaetslebens fuehrten das Studium und das Zusammenleben mit den Studenten aus verschiedenen Laendern oftmals zur Entstehung einer informellen Hierarchie von Landsmannschaften und zu inoffiziellen Rivalitaeten, zu offen ausgetragenen Konflikten und sogar zum Chauvinismus seitens der DDR-Studenten. Es gilt daher, die Repraesentationen der DDR in der blockinternen Ordnung ?von oben? und ihre Brechungen in den Wahrnehmungen und Uminterpretationen ?von unten? zu analysieren.
Um den Erwartungshorizont der auslaendischen Studierenden zu rekonstruieren, bietet sich eine Untersuchung ihrer sozialen Herkunft, Alters- und Geschlechterzusammensetzung und des kulturellen Hintergrunds der Kandidaten an. Hinlaenglich bekannt ist, dass die Kandidaten nach der sozialen Herkunft (Zugehoerigkeit zu Arbeiter- und Bauernschaft), Parteimitgliedschaft und fehlender Verwandtschaft im Westen ausgewaehlt wurden. Zur strikten Beachtung dieser Kriterien kam es allerdings nichts, so dass auch andere Gruppen zur Hochschulausbildung in der UdSSR zugelassen wurden. Insbesondere Kinder der Partei- und Staatselite erhielten deshalb die Moeglichkeit zum Studium und zu Forschungsaufenthalten an sowjetischen Hochschulen.
Die Gruppen der entsandten Studierenden waren recht heterogen. Neben einer relativ grossen Gruppe von politischen Aktivisten (sowie Karrieristen), die der Regierungslinie treu blieben und sich an den herrschenden Diskurs hielten, war die Mehrheit der Studenten politisch passiv, konzentrierte sich auf ihr Studium oder entzog sich oft den offiziellen Vorschriften. Diese Dichotomie von Loyalitaet und Indifferenz ist eingehender zu untersuchen, ebenso die Techniken des Unterlaufens und Ausweichens. In diesem Kontext beduerfen auch die durch Missverstaendnisse und Fehlperzeptionen im alltaeglichen universitaeren Miteinander entstehenden Konflikte einer gesonderten Analyse, um aufschlussreiche Facetten der spannungsreichen Begegnungsgeschichte von Studierenden, Forschenden und Lehrenden an sowjetischen Hochschule in den Blick zu nehmen.
Die Untersuchung sowjetischer Hochschulen (inkl. der Wohnheime) als transnationalen Raum erlaubt es, den kulturellen Transfer zu analysieren, der in den theoretischen Studien durch verschiedene Begriffe (wie Anneigung, Anpassung, Synkretisierung, Hybridisierung, kulturelle Uebersetzung) definiert ist und der zu unterschiedlichen Ergebnissen fuehren kann (wie Akzeptanz, Abwehr, Asymmetrie, Arroganz, Diskriminierung, Segregation). Dabei ist zwischen formalen und informellen Sozialisationspraktiken zu unterscheiden. Deshalb werden neben den offiziellen Ausbildungs- und Freizeitprogrammen auch die unmittelbaren Kontakte der ostdeutschen Studenten mit den sowjetischen Kommilitonen und den Studentendelegationen aus den anderen Laendern (Theaterbesuche, Feste, Reise) erforscht, sowie die alltaeglichen Begegnungen mit ?einfachen? sowjetischen Menschen und mit der Realitaet des ?fuehrenden sozialistischen Landes ( im oeffentlichen Nahverkehr, beim Einkaufen u.ae.). Explizit ist dabei zu fragen, wie die gegenseitigen Vorurteile und Stereotypen ueberwunden oder gefestigt wurden. Als eine besondere Form transnationaler Beziehungen werden die internationalen Ehen untersucht, die waehrend des Studiums geschlossen wurden.
Innerhalb dieses Themenfeldes bietet es sich an, die beruflichen Werdegaenge der ostdeutschen Studenten nach der Rueckkehr aus der Sowjetunion zu rekonstruieren und festzustellen, inwiefern sie die waehrend ihres Studiums geknuepften grenzueberschreitenden sozialen Netzwerke aufrechterhielten. Dabei ist der Frage nachzugehen, ob die Auslandstudenten eine korporative Subkultur ausbildeten, die durch eine spezifische Sprache, gruppentypische Rituale und unterstuetzende Institutionen zusammengehalten wurde. Des Weiteren ist zu untersuchen, welche Rolle die Auslandsstudenten als Vermittler und UEbersetzer von Deutungs- und Handlungsmustern, von sprachlichen Modellen und Arbeitsprozeduren fuer die wissenschaftlichen, sozialen und politischen Institutionen in Ostdeutschland spielten. Naeher festzustellen ist zudem, wie sich die Kontakte der Absolventen mit ihrer Alma Mater, ihren ehemaligen Kommilitonen aus der Sowjetunion und aus den anderen Laendern entwickelten. Welche politische, kulturelle und wissenschaftliche Rolle spielten sie innerhalb des sozialistischen Lagers?
Quellen
Fuer die Analyse ist ein breites Spektrum an deutschen und russischen Quellen auszuwerten. Sie lassen sich wie folgt klassifizieren:
1. Materialien sowjetischer und ostdeutscher Abteilungen und Kommissionen, die sich mit den Fragen des Studentenaustausches, der wissenschaftlichen Kontakte und der Kader befassten (Verordnungen, Berichte, statistische Angaben, Behoerdenkorrespondenzen). Die Bestaende des sowjetischen Ministeriums fuer Hoch- und Fachschulbildung, von verschiedenen Abteilungen und Kommissionen des ZK der KPdSU und des Komsomols beinhalten Berichte ueber die politische Situation in den auslaendischen Studentendelegationen, ueber die Schwierigkeiten der erzieherischen und ideologischen Arbeit sowie die Ferien- und Freizeitgestaltung. Dazu werden die Dokumente des ostdeutschen Staatssekretariats fuer Hoch- und Fachschulwesen und saemtlicher Bueros und Kommissionen des ZK der SED ausgewertet, die sich mit dem Studentenaustausch, der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und dem Einsatz der Absolventen beschaeftigten. Vorgesehen ist auch die Analyse von Materialien der Studentenabteilung bei der DDR-Botschaft in Moskau, sowie die Auswertung der BStU-Bestaende;
2. Dokumente institutsinterner Archive und Bueros fuer die internationale Arbeit (personale Akten, Fragebogen und Briefe). Diese Materialien unterliegen der 30jaehrigen Sperrfrist und werden dem Forscher nur mit einer Zustimmung der Betroffenen ausgegeben. Es ist moeglich, Kontakte mit ehemaligen Austauschstudenten aufzunehmen, von ihnen die Genehmigung der Akteneinsicht zu erhalten und so diese interessante Quellengattung im Rahmen von Fallstudien zu analysieren;
3. Pressematerial, das die Ausbildung der ostdeutschen Studenten in der UdSSR und ihr Kulturprogramm darstellt. Dabei werden nicht nur Texte analysiert, sondern auch visuelle Quellen (besonders Foto- und Filmmaterial), die den studentischen Alltag in der Sowjetunion in Szene setzten;
4. Erinnerungen. In solchen Quellen rechtfertigen die Akteure zumeist im Rueckblick ihre Denk- und Handlungsweisen. Um sich von ihrer Sichtweise nicht vereinnahmen zu lassen, wird bei der Analyse dieser Egodokumente die umfangreiche Literatur zum kommunikativen Gedaechtnis, sowie das von Volker Depkat vorgeschlagene Konzept der ?Textualitaet? einbezogen. Depkat schlaegt vor, Autobiographien in ihrer textuellen Ganzheit zu analysieren, wie sich darin die spezifische Erfahrungen einer Sozialgruppe, sowie ein dynamisches Verhaeltnis von Individuum und Gesellschaft, von individueller und kollektiver Geschichtserfahrung, Erinnerung sowie die darauf gruendenden identitaetsverbuergenden Ordnungsvorstellungen widerspiegeln;
5. biographische Interviews. In der Vorbereitungsphase wurde schon Briefkontakt zu ehemaligen Austauschstudenten aufgenommen und die Moeglichkeiten eruiert, mit den mittlerweile etablierten Methoden der oral history aussagekraeftiges Material zu erhalten.

* Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer unseres Internet-Seminars. Da der Finanzierungsantrag fuer das vorliegende Projekt bei der AvH-Stiftung eingereicht wurde und das Gremium ihre Entscheidung nur im kommenden Juli treffen wird, habe ich alle Fussnoten aus dem Text herausgenommen. Ich bitte um Verstaendnis. Oxana Nagornaja.

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