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Wunder mit wissenschaftlicher Begruendung

03.11.2008, 09:58

Schwartz Mathias (Berlin)

Wunder mit wissenschaftlicher Begruendung.
Verzauberter Alltag und entzauberte Ideologie in der sowjetischen Science Fiction der Nachkriegszeit*

?Nicht selten glaubt der Mensch ehrlich an die Moeglichkeit einer Einmischung des "goettlichen Willens" in unsere Welt. Gebildetere Leute glauben an Wunder mit wissenschaftlicher Begruendung?. (Kitajgorodskij 1965: 7)

1. Eine ungewoehnliche Mondlandung 1954/74
Ende 1954, keine zwei Jahre nach Stalins Tod, war der Kampf um dessen Nachfolge im Zentralkomitee der KPdSU noch in vollem Gange. Zwar war der maechtige Chef des Ministeriums fuer Staatssicherheit, Lavrentij Berija, bereits gestuerzt und hingerichtet, die Macht des neuen Generalsekretaers Nikita Chrustschev war aber noch nicht gefestigt. In dieser politisch unsicheren Uebergangsperiode veroeffentlichte eine der groessten populaerwissenschaftlichen Zeitschriften der Sowjetunion, ?Wissen ist Macht? (?Знание-сила?), eine in der Zukunft geschriebene Sonderausgabe, und zwar aus dem Jahr 1974. Diese Ausgabe druckte auf der ersten Seite eine Mitteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ueber den ?Start des ersten interplanetaren Schiffes ?Luna-1?? ab, das am 23. November 1974 in den Bergen von Kazbek im Kaukasus gestartet sei, um zum Mond zu fliegen. Weiter hiess es in der fiktiven Mitteilung:?Ein jahrhundertealter Traum der Menschheit hat sich erfuellt. Erstmals haben Menschen den Erdball verlassen und machen sich auf den Weg zu ihrem Nachbarplaneten. (?) Das Ziel der Expedition besteht darin, sich mit dem Mond bekannt zu machen, zu klaeren, ob man auf dem Mond ein staendiges wissenschaftliches Forschungsinstitut organisieren kann. Unser Trabant wird ein friedliches Laboratorium der fortschrittlichen Wissenschaft werden und keine Militaerbasis, wovon zu ihrer Zeit einige auslaendische Generaele traeumten? (Gil?zin et al. 1954: 14).
Auf den weiteren zwanzig Seiten dieser Sonderausgabe berichten dann die vier Besatzungsmitglieder des Mondfluges, versehen mit Portraet und Kurzbiografie, von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vorbereitungen fuer den Weltraumflug. Professoren und Astronomen legen ihr Wissen dar und eine in letzter Minute vom ?Sonderkorrespondenten? der Zeitschrift eingegangene Meldung berichtet von der ersten Stunde auf dem Mond:?Die aeussere Luke oeffnet sich, eine kleine biegsame Leiter wird hinuntergelassen. Vorsichtig die Stufen ertastend steigt der Mensch hinunter. Der letzte Schritt ? und seine Fuesse beruehren in Metallschuhen die Oberflaeche des Mondes. Unser Kommandeur bleibt stehen, schaut auf die Landschaft des erstarrten Mondreiches, bekannt und unbekannt zugleich. (?) Wir steigen aus (?) Ich schaue auf die Spuren unserer Schuhsolen, sie haben sich in die Schichten des jahrhundertealten Staubs abgedrueckt, der wie eine Savanne den Mond bedeckt ? die ersten menschlichen Spuren. Es werden Jahrzehnte vergehen, uns wird man beerdigen und vergessen, aber die Spuren unserer Fuesse werden bleiben (?). Sie verwischt niemand, sie traegt keiner weg, sie werden nicht verweht. (?) Wir Menschen, die Gesandten des Sowjetlandes, sind in diese tote, niemandem nutze Welt gekommen. Wir haben sie gesehen, wir lernen sie kennen, wir werden sie uns aneignen? Im Leben des Mondes beginnt eine neue, eine menschliche Epoche? (ebenda: 31f).
Nun ist diese fiktive Beschreibung einer Mondlandung nicht die erste gewesen, bevor Neil Armstrong am 20. Juli 1969 ? knapp 15 Jahre spaeter ? tatsaechlich den ersten Schritt auf den Erdtrabanten setzte. Die Literaturgeschichte kennt Beschreibungen von Mondlandungen, die bis zu Voltaire und Lukian zurueckgehen; spaetestens mit Jules Verne sind sie Gegenstand von Science Fiction im engeren Sinn. Das Ungewoehnliche dieser Sonderausgabe liegt vielmehr in dem kulturpolitischen Kontext, in dem sie erschienen ist. Denn sie laesst bereits zwei Jahre vor Chrustschevs legendaerer ?Geheimrede? auf dem 20. Parteitag der KPdSU deutlich eine ideologische Umorientierung der sowjetischen Kulturpolitik erkennen, bei der die Fluege in den Kosmos eine zentrale propagandistische Rolle spielen sollten.
Die kulturgeschichtliche Bedeutung solcher Kosmosfluege nicht nur des Menschen auf den Mond, sondern auch von Bewohnern anderer Planeten auf die Erde soll in diesem Beitrag naeher untersucht werden. Dabei gehe ich von der Hypothese aus, dass kosmische Themen in der Nachkriegszeit insbesondere seit Mitte der fuenfziger bis in die siebziger Jahre ein zentrales Mittel waren, ideologische Dispositive in der sowjetischen Alltagskultur zu verankern. Dies gelang ? so die Annahme - insbesondere dank spezifischer Popularisierungsformen, die sich konzeptionell als ?Wunder mit wissenschaftlicher Begruendung? definieren lassen. Deren Propagierung fand vor allem in weit verbreiteten populaerwissenschaftlichen Journalen, aber auch in der Tages- und Wochenpresse statt. Gleichzeitig entwickelte sich die sowjetische Science Fiction seit Ende der fuenfziger Jahre zu einer ueberaus populaeren Massenliteratur. Diese Attraktivitaet gewann sie unter anderem dadurch ? so eine weitere zu verfolgende These ?, dass sie in fantastisch verfremdeter Form die ideologischen Dispositive der Wissenschaftspopularisierung zum sowjetischen Alltagsleben in Bezug setzte.
Der Beitrag beginnt mit einer kurzen theoretischen Konzeptualisierung zum Wunderbegriff und zur Ideologie der sowjetischen Science Fiction (Abschnitt 2). Darauf folgend wird der populaerwissenschaftliche Diskurs ueber Wunder sowie ueber die Besiedelung des Kosmos skizziert (Abschnitt 3 und 4). Anschliessend untersuche ich exemplarisch, wie sich die sowjetische Science Fiction diese Diskurse angeeignet hat. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1953/54 bleiben ?kosmische Begebenheiten? noch in die offizielle Ideologie einer ? oft mythischen - Verzauberung des Alltags eingebunden (Abschnitt 5). Erst mit der Tauwetterperiode im Jahrzehnt 1954?64 verschiebt sich deren Funktion. Jetzt wird die fiktionale Welt in groessere raumzeitliche Dimensionen erweitert und relativiert somit auch die eigene Weltsicht und deren ideologische Grundannahmen (Abschnitt 6). In der Brežnevzeit findet in der Fantastik eine weitere Entzauberung der Wissenschafts- und Kosmosbegeisterung statt, indem jenseitige Visionen mit einer tristen und spiessigen Gegenwart konfrontiert werden. Die ?Wunder? verlieren nach 1964/5 ihre transformative Wirkungsmacht sowohl in Bezug auf den Alltag als auch auf die ideologischen Praemissen (Abschnitt 7). So zeigt sich am Ende, dass der sowjetische Griff nach den Sternen neben einer ideologischen Selbstueberhoehung des Menschen immer auch ein sehnsuechtig suchender Blick nach Moeglichkeiten war, dem eigenen Alltag zu entfliehen.

2. Konzeptualisierung: Alltaegliche Wunder und die Ideologie der Science Fiction
Eine zentrale, aber durchaus widerspruechliche Rolle innerhalb des sowjetischen Fortschrittsdiskurses spielte der Begriff des ?Wunders?, den man folgendermassen definieren kann: Wunder finden immer an der Grenze zwischen zwei Welten statt, zwischen dem Bekannten und Unbekannten, zwischen gewohntem Alltag und ungewoehnlicher Ausnahmesituation, zwischen rational Vorhersehbarem und intellektuell Unbegreiflichem. Im religioesen Diskurs stellt das Wunder einen Eingriff des transzendentalen Jenseitigen in die diesseitige Immanenz dar. In der Sowjetunion der dreissiger Jahre wurde diese Definition in zweifacher Hinsicht saekularisiert. Einerseits betrieb man im aufklaererischen Duktus des historischen Materialismus eine Entzauberung der Welt, indem die religioesen Grenzueberschreitungen des Wunderbaren als truegerische Illusion, kunstvoller Zaubertrick, verschwoererisches Geheimwissen, irrationales Paradox oder aussergewoehnliche Naturerscheinung entbloesst wurden. Andererseits aber versprach man, die Welt gewissermassen dialektisch von neuem zu verzaubern. In diesem Sinne fungierten die ?Wunder der neuen Zeit? (Papernyj 1985: 231ff.) als Vorwegnahmen einer zukuenftigen idealen Welt des Kommunismus ? sie waren Vorboten des Morgen in der sowjetischen Gegenwart. So sollte mit Hilfe von solchen Wundern nach Innen hin gezeigt werden, wie die sowjetische Wirklichkeit quasi gesetzmaessig - wissenschaftlich vorhersehbar - den Alltag transformierte und den Kommunismus naeher brachte. Zudem war die Produktion von ungewoehnlichen Helden- und Aufbauleistungen gewoehnlicher Sowjetbuerger nach aussen hin ein wesentliches Propagandamittel, die Ueberlegenheit des sowjetischen Systems insgesamt zu zeigen.
Gleichzeitig drohte aber eine solche propagandistische ?Verzauberung des Alltags? immer auch in Diskrepanz zur realen Lage in der Sowjetunion zu geraten. Wurde der Unterschied von propagiertem Ideal und erlebter Wirklichkeit zu gross, konnte diese Wissenschaftspropaganda leicht in ihr Gegenteil umschlagen: Statt als ideologisches Mittel zu wirken, vermochte sie die kommunistische Ideologie selber als wirklichkeitsfremd und ?fantastisch? zu entzaubern.
Die sowjetische Science Fiction oder ? wie der entsprechende russische Terminus lautete ? Wissenschaftliche Fantastik (Научная фантастика) als das zentrale Genre, das sich mit technisch-wissenschaftlichen Neuerungen belletristisch befasste, befand sich von Anfang an in diesem Spannungsfeld. So kommt Rafail Nudelman, der in den sechziger Jahren selbst aktiv als Kritiker und Autor an deren Ausgestaltung mitgewirkt hat, in seinem Aufsatz zur ?Sowjetischen SF und Ideologie der sowjetischen Gesellschaft? zu dem Schluss, dass die Wissenschaftliche Fantastik per se ideologisch motiviert gewesen sei: ?It is hard to shake off the impression that in spite of all the complexity of the purely literary development of the genre, the evolution of Soviet SF was not determined by the immanent laws responsive to real social and scientific-technological changes. Nor was the course of Soviet SF dictated by social and scientific-technological changes themselves, except indirectly, as those changes were reflected in ideology, the intermediary, the main conveyor mechanism, between reality and its embodiment in Soviet SF. For the same reason, ideology was the chief, if not the single, cause of all of SF perturbations, rebirths, and abatements? (Nudelman 1989: 60).
Die ideologische Durchdringung der Wissenschaftlichen Fantastik fuehrte dazu, wie Elana Gomel am Beispiel des Werkes von Arkadij (1925?1991) und Boris Strugackij (*1933) zeigt, dass SF-Autoren eine eigene verschluesselte ?Poetik der Zensur? entwickelten, die eine allegorische ? alternierende bis dissidente - Lektuere der Texte ermoeglichte: ?Censorship supplies the impetus for the recourse to those allegorical techniques of encoding and concealment that allow the writer to speak to his/her audience above the heads of the powers that be? (Gomel 1995: 104). Eine solche allegorische Verschluesselung bedeute jedoch ebenfalls eine ideologische Vereinnahmung der Wissenschaftlichen Fantastik unter umgekehrten Vorzeichen, zeichnen sich literarische und insbesondere fantastische Texte doch dadurch aus, dass sie immer ambivalente und vielschichtige Lektueren ermoeglichen. So kommt Gomel zu dem Schluss: ?But literary forms are not ideologically neutral; once admitted, allegory takes over and produces its own textual dynamics that carries messages very different from the intended message of the authors: it implies control, compulsion, and the immutability of the given history which is the history of oppression. (?) SF, on the other hand, opens up the text to multiple interpretations and epistemological uncertainty which undermine allegorical rigidity? (ebenda). Genau eine solche Lesart fantastischer Texte soll hier versucht werden, die nicht die bei vielen Autoren deutlich erkennbare allegorische Dissidenz und Systemkritik in den Vordergrund stellt, sie aber auch nicht ? wie Nudelman ? als von vornherein ideologisch praeformiert interpretiert, sondern die ambivalente Dynamik fantastischer Texte in Bezug auf das populaerwissenschaftliche Topos des ?Wunders? naeher betrachtet.

3. Die Wunder der neuen Zeit
Betrachtet man die Sowjetunion von ihrem eigenen ideologischen Selbstverstaendnis her, dann war sie ein Staat, dessen Ausgestaltung sich auf die Autoritaet wissenschaftlicher Annahmen gruendete, die eine gesetzmaessig verlaufende und damit planbare Zielgerichtetheit der Geschichte behaupteten. So wurde sowohl der Aufbau der Sowjetunion in den zwanziger Jahren als auch die spaetere forcierte Industrialisierung des oekonomisch rueckstaendigen Landes mit den ?wissenschaftlichen? Lehren zuerst von Marx und Engels, dann von Lenin und spaeter von Stalin begruendet. Bei der Popularisierung dieser ideologischen Begruendungen kam wissenschaftlich-technischen Errungenschaften ? man denke nur an die propagandistische Bedeutung der Elektrifizierung oder des Radios - eine zentrale Rolle zu. Technik und Wissenschaften galten als Hilfsmittel fuer den Menschen, um sich die natuerlichen Ressourcen des Landes zu unterwerfen und nutzbar zu machen. So wurden zum Beispiel die Urbarmachung Sibiriens, die heldenhaften Leistungen der Fliegerpiloten der dreissiger Jahre oder die gigantischen Grossbaustellen des Sozialismus als an ?Wunder? grenzende Erfolge praesentiert. Damit blieb die Wissenschaftspopularisierung zwar noch in der aufklaererischen Tradition des 19. Jahrhunderts einer Entzauberung der Welt, schuf aber gleichzeitig neue Mythen. Hans Guenther schrieb ueber diesen Diskurs der Stalinzeit:?Die Wunder der neuen Zeit unterscheiden sich allerdings von den frueheren dadurch, dass sie durch den sozialistischen Enthusiasmus und den ungeahnten Aufschwung der Wissenschaft gewissermassen ?gesetzmaessig? produziert werden. Die Gegenwart erscheint im Unterschied zu frueheren Phasen der menschlichen Geschichte als eine Zeit der erfuellten Menschheitstraeume? (Guenther 1993: 107).
Bei der Propagierung dieser sozialistischen Wunder uebertraf man sich in Superlativen. So wurden gigantische Grossprojekte zur nuetzlichen Unterwerfung der Natur und zur Umgestaltung des Klimas vorgeschlagen. Seit den zwanziger Jahren bis Ende der fuenfziger Jahre diskutierte wurden zum Beispiel Plaene zum Schmelzen des Nordpols diskutiert, um die riesigen Gebiete der sibirischen Steppe, Taiga und Tundra nutzbar und bewohnbarer zu machen. Manche Beitraege erwogen den Golfstrom oder andere warme Meeresstroeme mit Hilfe riesiger Staudaemme umzuleiten, andere schlugen vor, durch atomare Sprengungen ein Auftauen des arktischen Eises und eine daraus folgende Klimaerwaermung zu bewirken.
In den fuenfziger Jahren fand diese Gigantomie in der Raketen- und Radartechnik ihre Fortfuehrung. Hier war es vor allem der Flug des ersten kuenstlichen Trabanten der Erde, des Sputniks, der im Jahr 1957 eine regelrechte Euphorie in der sowjetischen Presse ausloeste und als Beginn des ?kosmischen Zeitalters der Menschheit? gefeiert wurde. Als dann im Jahr 1961 mit Jurij Gagarin auch der erste Mensch im Weltall aus der Sowjetunion kam, schienen die sowjetischen Wissenschaften endgueltig ihre Ueberlegenheit gegenueber dem Westen bewiesen zu haben. Gleichzeitig entfaltete Gagarins Kosmosflug eine ungeheure imaginaere Kraft, deren Staerke wohl am deutlichsten in der Metaphorik der dem russischen Raumfahrtpionier Konstantin Ciolkovskij (1857?1935) zugeschriebenen Worte zum Ausdruck kam: ?Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch man kann nicht ewig in der Wiege leben? (zitiert nach Schwartz 2003: 58). Dieser Ausspruch eroeffnete ganz neue Perspektiven auf die Erfolge im Kosmos: Selbst ein Mondflug schien in diesem Bild lediglich ein erster hilfloser Gehversuch zu sein, ehe das Kind in den Weiten der Milchstrasse Laufen lernte: Sogar jenseits der Milchstrasse liegende Galaxien schienen ploetzlich im Bereich des Erreichbaren zu liegen. Das war der Wunschtraum, der die Fantasien befluegelte und den Jurij Gagarin zu einem realisierbaren Versprechen machte.

4. Die Besiedelung des Kosmos
Eine dieser Fantasien richtete sich auf die Besiedelung des Kosmos, die schon vor Gagarins Raumflug ein Thema in der sowjetischen Publizistik war. Insbesondere Projekte zur Besiedelung des Monds, zu regelmaessigen Linienfluegen dorthin und zu seiner Nutzung wurden verschiedentlich eroertert. So entwickelte ein Doktor der technischen Wissenschaften im Jahr 1958 einen Dreistufenplan, wie man in zehn Jahren den Mond zum ?siebten Kontinent? der Erde machen koenne. Ein anderer Wissenschaftsjournalist stellte einen Plan zur Erschliessung des Kosmos fuer die naechsten 150 Jahre auf, der fuer die Jahre 1970?1980 die erste Mondlandung des Menschen und die ersten staendig besetzten Stationen auf dem Mond vorsah, 1990?2000 die ersten Siedlungen und 2090?2100 seine vollstaendige Besiedelung und ?Verwandlung? in einen ?bluehenden siebten Kontinent des Erdballs?. Auch auf dem Mars sollte nach diesem Plan im Laufe des 21. Jahrhunderts ?dessen Atmosphaere rekonstruiert? werden, so dass sich bis 2090 einige hunderttausend Menschen auf ihm ansiedeln koennten (Schwartz 2003: 68-83).
Neben solchen Plaenen zur Besiedelung des Mondes und des Planeten Mars gab es auch diejenigen, die davon ausgingen, dass der Mars schon besiedelt worden sei und es womoeglich noch immer sei, ehe man es aufgrund von Fotos amerikanischer Satelliten Mitte der sechziger Jahre definitiv besser wusste. So schrieb noch im Jahr 1961 ein Moskauer Astronom, dass die mit Teleskopen sichtbare einheitliche Struktur der so genannten Marskanaele darauf schliessen lasse, dass diese Bestandteil eines gigantischen landwirtschaftlichen Systems seien, das keine ?nationalen Grenzen? kenne und die Marsianer daher wohl eine ?freundschaftliche Familie? bildeten, die keine Privatinteressen kennen wuerde: ?Und in diesem verwunderlichen Fakt kann man ein deutliches Zeichen fuer die intensiven Aktivitaeten der Marsianer sehen, die fortfahren mit den harten Bedingungen ihres Planeten zu kaempfen. (?) Die Marsianer sind nicht verschwunden. Sie handeln auch heute? (Zigel? 1961: 22).
Andere Astronomen vertraten die Ansicht, dass auf dem Mars zweifelsohne eine hohe Zivilisation bestanden habe, diese aber durch eine unvorhergesehene Katastrophe zerstoert worden sei oder sich zurueckgebildet habe. Zwar wurden diese Thesen bald mehrheitlich verworfen und man ging davon aus, dass es im Sonnensystem der Erde nur auf dieser intelligentes Leben gaebe. Was blieb, war aber die immer wieder aufgestellte Vermutung intelligenten Lebens in anderen Galaxien. So kam im Mai 1964 die erste Allunionsversammlung zum Problem ?Ausserirdische Zivilisationen? in Bjurakan zusammen, organisiert von der Armenischen Akademie der Wissenschaften (Schwartz 2003: 80f.). Nun moegen solche Plaene und Spekulationen aus heutiger Sicht recht skurril anmuten, sie wurden aber seinerzeit trotz aller vorhandener Kritik und Vorbehalte durchaus ernsthaft und vor allem ausfuehrlich diskutiert. Und zwar nicht nur in populaerwissenschaftlichen Blaettern, sondern auch in zentralen Zeitungen wie Pravda oder Izvestija, unter anderem auch deshalb, weil sie sich im Unterschied zu anderen Themenfeldern einer ausserordentlichen Popularitaet in der Bevoelkerung erfreuten.
Fragt man nach den Gruenden fuer diese Popularitaet ? die sich ja bestens propagandistisch nutzen liess - und betrachtet die Wissenschaftspopularisierung in einem groesseren kulturgeschichtlichen Zusammenhang, dann spielte bei diesen saekularen Wundern sicher deren Verschiebung in kosmische Weiten seit Mitte der fuenfziger Jahre eine zentrale Rolle. Denn indem sich der Wissenschaftsglauben in die kosmische Ferne verschob, konnte er an populaere Glaubensvorstellungen anknuepfen, die Antworten auf Fragen nach der Zukunft schon immer in den Sternen und im Himmel gesucht haben. Man denke nur an die Astrologie, an Interpretationen von Sonnenfinsternissen und Sternschnuppen oder die Vorstellung vom Himmel als den Sitz der Goetter, die ja auch Namensgeber fuer die meisten Planeten und Sternenbilder sind. In Anknuepfung an solche Vorstellungen stand hinter der imaginaeren Aneignung des Weltraums auch das implizite Versprechen, dass man so auch die ?Geheimnisse? der diesseitigen Welt besser verstehen koennen werde. Gleichzeitig entkoppelte diese Verschiebung die Wunderproduktion von dem unmittelbaren Alltagsumfeld, so dass die spekulativen Fantasien nicht mehr in unmittelbaren Konflikt mit der praktischen Umsetzung technisch-wissenschaftlicher Neuerungen im Alltag kamen. Die kollektiven Wunschtraeume und individuellen Alltagswuensche standen nur noch in einem imaginaeren ideologischen Zusammenhang. Und genau hier schliessen die fantastischen Spekulationen der sowjetischen Science Fiction an.

5. Ein Feuerball in der Tajga
Die Wissenschaftliche Fantastik der spaeten Stalinzeit war in ihrer sozialistisch-realistischen Konzeption ein literarisches Genre, das prinzipiell zeigen sollte, wie die nahe Zukunft im sowjetischen Diesseits aussehen wird. Hierbei spielte vor allem eine juengere Generation an Fantasten, die zumeist direkt aus ingenieurstechnischen Berufen in die Literatur gewechselt waren, eine zentrale ideologische Rolle. Neben Aleksandr Kazancev (1906?2002) gehoerte nach dem Krieg insbesondere Vladimir Nemcov (1907?1993) zu dieser neuen Generation. Letzterer eroeffnete noch im Jahr 1955 seinen wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman ?Ein Splitter der Sonne? mit dem programmatischen Einleitungsabsatz: ?In diesem Sommer verliess nicht ein internationales Raumschiff die Erde. Auf den Eisenbahnlinien des Landes fuhren gewoehnliche Zuege ohne Atommeiler. Die Arktis ist kalt geblieben. Der Mensch konnte noch nicht das Wetter steuern, Brot aus Luft gewinnen und 300 Jahre leben. Die Meldeliste fuer Exkursanten auf den Mond ist noch nicht ausgeschrieben worden. Nichts dergleichen gab es, einfach deshalb, weil unsere Erzaehlung sich den Ereignissen des heutigen Tages zuwendet, die uns mehr wert sind als die des morgigen. Moegen die Leser dem Autor verzeihen, dass er sich nicht von unserer Zeit und unserem Planeten losreissen wollte? (Nemcov 1955: 3).
Doch selbst diese 1946 bis 1953 vor allem an den populaerwissenschaftlichen Grossprojekten orientierte Science Fiction bediente noch das Beduerfnis nach einer spekulativen Verzauberung der Welt durch kosmische Wunder. So schrieb Nemcov im Jahr 1946 den ?wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman? ?Der Feuerball?, der in Fortsetzung in der populaerwissenschaftlichen Zeitschrift ?Um die Welt? (?Вокруг света?) erschien und mit den Worten begann: ?Meine Fahrt in die Taiga vergangenen Sommer kann man in keinem Fall eine Reise nennen. Ich hatte die allergewoehnlichste Aufgabe zu erfuellen, die ohne jegliche Romantik war. Doch nichtsdestotrotz hatte ich gerade waehrend dieser alltaeglichen Fahrt die alleraussergewoehnlichsten Abenteuer durchzustehen, die vielleicht befremdlicher waren, als es sich die Fantasie eines Romanschriftstellers ausdenken kann, der seine Helden auf irgendeinen fernen Planeten schickt? (Nemcov 1946a: 20).
Dieser Anfang zeigt, worum es dieser Fantastik ging: um die Aufhebung der Dichotomie zwischen Alltag und Romantik, zwischen gewoehnlicher Dienstreise und aussergewoehnlicher Abenteuerreise, zwischen gewohnter Umwelt und fantastischen fernen Welten. Stattdessen wird das Aussergewoehnliche, Fantastische, Abenteuerliche in die sowjetische Wirklichkeit verlegt, in diesem Fall in die sibirische Taiga der Nachkriegszeit, in die es einen jungen Funktechniker beruflich verschlaegt. Dieser sieht eines Abends von seinem Hotelzimmer aus eine Sternschnuppe und ueberlegt, was er sich wohl wuenschen solle, ehe er ploetzlich eine ferne Explosion hoert und kurz darauf mit seinem selbst entwickelten, besonders sensiblen Radioapparat seltsame Notrufe empfaengt. Es stellt sich heraus, dass der Absturz der Sternschnuppe in der Taiga einen riesigen Flaechenbrand ausgeloest hat und sein ehemaliger Lehrer und Professor dort auf einer kleinen Insel inmitten eines Sees mit seiner Tochter eingeschlossen ist, wo er Experimente mit Radioempfangsgeraeten fuer extraterristische Signale anstellt. Da man mit Rettungsflugzeugen nicht in der brennenden Taiga landen kann, wird beschlossen, einen Panzer umzuruesten, der statt mit leicht entzuendlichem Benzin mit Elektroakkumulatoren betrieben und gegen die Hitze durch eine Asbestverkleidung geschuetzt wird. In diesem Panzer, den er ?Phoenix? tauft, macht sich der Ich-Erzaehler zusammen mit einem Erfinder und einem Majoringenieur auf die Suche nach den Vermissten. Die Fahrt durch die lichterloh brennende Taiga gleicht einer apokalyptischen Hoellenfahrt, man findet auch den Professor auf der Insel, dessen Tochter bleibt jedoch vermisst. Schliesslich finden sie die fluechtige Tochter inmitten des Flammenmeeres auf einer Waldlichtung bei der vergluehenden Kugel des abgestuerzten Himmelskoerpers ? beim ?Feuerball? ? und beschliessen, diesen an einem Tau mit sich zu ziehen. Mit letzter Kraft koennen sie sich aus der brennenden Taiga retten.
Daraufhin entbrennt eine wissenschaftliche Diskussion ueber den Einfluss des Flammenmeers auf Funkwellen sowie die Bewertung des Feuerballs, der am Ende zu einem Haeufchen hochwertiger kuenstlicher Diamanten zusammenschmilzt, worauf der Erzaehler begeistert ausruft: ?Denkt nur daran, Freunde (?), dass Tausende billiger Diamanten einen voelligen Umbruch in der Technik bewirken koennen. Stellen Sie sich vor, dass an den Schneide-Enden der Drehbaenke und automatischen Werkbaenke grosse Diamanten von Dutzenden von Karat leuchten werden!? (Nemcov 1946b: 54). Diesem begeisterten Ausruf erwidert ein Oberstleutnant: ?Doch der Hauptwert besteht in anderen Diamanten (?), festen und ausdauernden, die niemals brennen (?). In der Maschine, die Sie sich erdacht haben (?), im ?Phoenix?, haben sich wie in einem Feuerball Menschen aus Diamant herauskristallisiert, die wertvoller sind als die besten Diamanten der Welt? (ebenda).
Mit dieser kristallinen Transformation zu einem ?neuen Menschen? hat sich auch der anfaengliche Wunsch des Ich-Erzaehlers erfuellt, er ist - wunschlos gluecklich - durch die aussergewoehnliche Begebenheit in das sowjetische Diesseits integriert: ?Zusammen mit ihnen zu arbeiten, sich etwas auszudenken, zu streiten ? das war mein Wunsch. Und wieder fiel an dem schwarzen Augusthimmel eine Sternschnuppe, um ihren Weg auf der Erde zu beenden. Doch ich traeumte nicht mehr von Reisen hinter den Wolken und raetselte nicht mehr ueber meine Wuensche? (ebenda).
Die ideologische Verzauberung des Alltags in dieser SF-Geschichte ist eine vielfache: Erstens ist es eine Anbindung der Fantasien an die sowjetische Wirklichkeit: Nicht ferne Reisen und kosmische Abenteuer, sondern ganz auf die diesseitige Welt sollen sich Erfindungsgabe und Einbildungskraft der Menschen lenken; Zweitens werden tradierte religioese Vorstellungen wie die Schicksalhaftigkeit der Sternschnuppen gewissermassen metaphorisch realisiert: Eine reale Sternschuppe faellt hier auf die Erde und ermoeglicht konkret durch ihre sinnliche Praesenz die Wunscherfuellung fuer die Protagonisten; Drittens funktioniert diese Wunscherfuellung als ein mythisches Initiationserlebnis, das die Menschen wie das ersehnte Wunschobjekt am Ende zu kristallinen neuen Wesen umschmilzt: Die Geschichte erzaehlt eine metamorphotische Initiation durch die Heldentat; Viertens wird dabei das wissenschaftlich-technische Hilfsmittel ? der Panzer ? selber zu einem mythischem Wesen: zu dem Feuervogel ?Phoenix?, welcher der Legende nach erst durch die Selbstvernichtung sich immer wieder neu regeneriert. Fuenftens wird diese Um- und Verwandlung des Fernen und Jenseitigen in ein diesseitiges Hier auch auf der Ebene des Sujets realisiert, und zwar in dem Topos der einsamen Insel, auf der verschrobene Wissenschaftler (man vergleiche zum Beispiel H.G. Wells Dr. Moreau) oder gestrandete Reisende (wie Oliver Swifts Gulliver) alternative Wissens- und Lebensformen erproben. Dieses Inseltopos ? als aussergewoehnlicher Ort der Utopie und individuellen Wirklichkeitsflucht ? wird durch den kosmische Strahlen erforschenden Professor repraesentiert, den das Kollektiv der Panzerfahrer durch das Flammenmeer zurueck in die sowjetische Wirklichkeit holt.(1)

6. Eine Welt ohne Horizonte und ohne Grenzen
Mit der Aufhebung einer solch engen Anbindung an die sowjetische Gegenwart in der Chrustschevzeit eroeffneten sich fuer die Wissenschaftliche Fantastik zwar neue Handlungsspielraeume, ihr zentrales Thema aber blieb das gleiche: wissenschaftliche Hypothesen und Projekte zu popularisieren und gleichzeitig zu demonstrieren, wohin sich die sowjetische Gesellschaft und die Menschheit im Allgemeinen entwickeln. Um dies zu zeigen, spielte die Handlung der Geschichten nach 1957 zumeist in der fernen Zukunft in anderen Welten. Den Durchbruch fuer diese Zukunftsgeschichten stellte die Veroeffentlichung von Ivan Efremovs (1907?1972) Roman ?Andromedanebel? (?Туманность Андромеды?, dt. ?Das Maedchen aus dem All?) dar, der 1957 zeitgleich mit den ersten Sputnikfluegen als Fortsetzungsgeschichte in der populaerwissenschaftlichen Zeitschrift ?Technik fuer die Jugend? (?Техника  молодежи?) erstmals abgedruckt wurde. Seine Handlung stellte den Versuch dar, ein allgemeines Bild der fernen Zukunft im 54. Jahrhundert zu zeichnen.
Waehrend ein Teil des Romans die Abenteuer einer Equipage in fernen Galaxien beschreibt, stellt der andere in verschiedenen Kapiteln das Leben auf Erden dar. Er skizziert die Entwicklung der Menschheit seit der Zeit des Kalten Krieges, die von der ?Zweiten Grossen Revolution? ueber die ?Aera der wiedervereinigten Welt? bis zum ?Zeitalter des Grossen Ringes? fuehrt. Der in dieser Epoche spielende Roman stellt am Beispiel der Kinder- und Jugenderziehung, Freizeitgestaltung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik dar, wie der Alltag in der fernen Zukunft organisiert ist. Dieses Zukunftsbild entsprach weitgehend dem recht prueden, heterosexuell gepraegten Wohlstandsideal der Sowjetunion, wie es auch ansonsten propagiert wurde: Ein Eigenheim mit allem technischen Luxus, sportlicher Aktivismus, ein ausgepraegter Freundschaftskult und Wissensdrang sowie Sinn fuer antike Schoenheit und synaesthetische Gesamtkunstwerke, mit der einzigen - seinerzeit viel kritisierten - Differenz, dass die stalinistische buergerliche Kleinfamilie bei Efremov vollkommen zerschlagen worden ist zugunsten staatlicher Kindererziehung und der individuellen Entfaltung aller Menschen (Jefremow 1958).
Auf diese Weise liess sich erstmals in der Wissenschaftlichen Fantastik detailliert zeigen, wie der Alltag in der kommunistischen Zukunft aussehen werde, auf die sich die Sowjetunion unausweichlich hinzu bewegte. Sehr schnell stellte sich jedoch heraus, dass nicht unzaehlige weitere dem Roman von Efremov vergleichbare Entwuerfe zu erwarten waren, denn sie konnten entweder nur ein aehnliches Zukunftsmodell variieren oder aber ein anderes vorlegen, gerieten dann aber in Widerspruch zu ihm und warfen somit die Frage auf, welches denn nun der wissenschaftlich ?wahrscheinlichere? Entwurf sei. Ein Kritiker brachte dieses Dilemma auf die Formel: ?Efremov hat die Zukunft wie einen fernen Gipfel dargestellt. [Stanislaw] Lem entgegnete darauf: ?Das ist eben das Schlechte am Gipfel, dass es nichts hoeheres mehr gibt.?? (Gurevitsch 1967: 141).
Deswegen wurden haeufig nur noch ein Ausschnitt der kommunistischen Zukunft, eine alltaegliche Begebenheit auf fernen Planeten oder einzelne Momente der Welt des Morgen gezeigt. Die sich aus diesen Zukunftsszenarien ergebenden Bilder aehnelten sich in vielen Zuegen. So herrschte in fast allen Geschichten spaetestens ab der Jahrhundertwende 2000/2001 auf der ganzen Erde der Kommunismus. In ihm waren die in der populaerwissenschaftlichen Publizistik dargestellten Grossprojekte verwirklicht worden. Ihre Protagonisten waren zumeist maennliche Helden (Green 1987), die sich vor allem mit der Erkundung des Weltalls beschaeftigten, aber auch mit Kybernetik, Laborexperimenten und diversen Erfindungen zur Optimierung des menschlichen Koerpers auseinander setzten (Rullkoetter 1974).
Es war aber nicht nur der Blick ins kommunistische Morgen, der die Faszination dieser Geschichten ausmachte, sondern auch die Art und Weise, wie diese Themen behandelt wurden. Denn die Lokalisierung der Handlung in einer Zeit, die gewissermassen nach dem teleologischen Ende der Geschichte spielte, ermoeglichte es, ein deterministisches Zeitverstaendnis aufzuheben. Grundlage dafuer waren naturwissenschaftliche Theorien wie die Relativitaetstheorie, die behaupteten, dass verschiedene Zeitverlaeufe denkbar seien. So gab es kaum ein Sujet, das nicht auf Zeitreisen mit annaehernder Lichtgeschwindigkeit als literarisches Verfahren zurueckgriff. Aber auch die Wellsche Zeitmaschine, kosmische Zeitloecher oder anabiotische Schlafzustaende kamen vor. Sie machten die kosmischen Helden haeufig zu Fremden ohne Heimat, so dass ein verzweifelter Protagonist in Gennadij Gors 1962 erschienenem Kurzroman ?Der Wanderer und die Zeit? (?Странник и время?) angesichts der nahezu unbegrenzten Moeglichkeiten ausrief: ?Hatte ich nicht schon Angst bekommen vor den Strassen, die in die Grenzenlosigkeit reichten? Ich wollte mir das nicht eingestehen, doch es war so. Ich wollte, und sei?s nur fuer zehn Minuten, dieser Welt ohne Horizonte und ohne Grenzen entkommen? (Gor 1962: 99).
Diese Erschuetterung der Helden durch Zeit- und Raumverschiebung ist denn auch ein vielfach variiertes und problematisiertes Thema der Geschichten. Genauer gesagt: Der raumzeitlichen Entfremdung durch physikalische Theorien, welche die ?objektive? Determiniertheit von Raum und Zeit aufhoben, entsprach auf ideologischer Ebene haeufig eine Identitaetskrise der Helden, deren Lebenslauf in der kommunistischen Zukunft kein klar determiniertes Ziel mehr zu erreichen hatte und damit orientierungslos geworden war. Und genau in dieser doppelten ? raumzeitlichen und ideologischen - Entfremdung der Heldenfiguren von der sowjetischen Gegenwart bestand ihre ausserordentliche Attraktivitaet. Eroeffneten ihre Abenteuer doch auch einen neuen Blick auf die Ideologie der Sowjetunion. Am deutlichsten trat dieses Spannungsfeld der Fantastik zur eigenen Gegenwart in der Konfrontation ihrer Helden mit ausserirdischen Lebewesen zu Tage.
Ausserirdische stehen in der Fantastik von je her auch fuer die Konfrontation mit dem verdraengten, verbotenen, vergessenen Anderen der eigenen Geschichte (Appleyard 2005). In der Faszination fuer das ?Inhumane? liegt immer auch die Suche nach der eigenen menschlichen Identitaet (Gomel 2004: 368ff.). Kulturgeschichtlich gesehen lassen sich Ausserirdische haeufig als Chiffre fuer Atombomben, den GULag, Verschwoerungstheorien oder religioese Diskurse lesen. So traten beispielsweise ein halbes Jahr nach Hiroshima ?Gaeste aus dem Kosmos? in der gleichnamigen ?fantastischen Hypothesenerzaehlung? Aleksandr Kazancevs das erste Mal in einem atomgetriebenen Raumschiff auf, das ueber der sibirischen Tajga havarierte (interessanterweise erschien diese Geschichte gut eineinhalb Jahre bevor in den USA ehemalige Fliegerpiloten aus dem Zweiten Weltkrieg die ersten UFOs erblickten). In der Tauwetterperiode fungierte eine Debatte ueber die so genannten ?Kosmonauten des Altertums?, zu denen diverse aegyptische, griechische, christliche und islamische Goetter und Propheten gezaehlt wurden, als Moeglichkeit, sich mit religioesen Themen zu beschaeftigen (Schwartz 2003: 91ff.).

7. Persoenliche Beziehungen
Waehrend ausserirdische Lebewesen im ersten Nachkriegsjahrzehnt kaum eine Rolle spielten, waren sie seit 1957 ein staendiges Thema in der sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik. Ihr Bild war jedoch kein einheitliches. Vielmehr laesst sich ab Anfang der sechziger Jahre in vielen Geschichten eine erhebliche Veraenderung ihrer Charakterisierung feststellen, die vor allem die Frage des Anthropozentrismus betraf. Bis dahin war man generell auf Lebewesen gestossen, die eine der irdischen Evolution vergleichbare Entwicklung durchgemacht hatten oder noch durchliefen.
Hoeher entwickelte intelligente Wesen, die feindlich eingestellt gewesen waeren, brachte der Kosmos anfangs nicht hervor. Das lag ebenfalls an einer Grundannahme des Marxismus-Leninismus, die von objektiv bestimmbaren gesellschaftlichen Entwicklungen ausging, die auch fuer andere ausserirdische Zivilisationen gelten mussten. Demnach konnte eine hochentwickelte Gesellschaft, die es geschafft hatte, die ?Wiege? ihres eigenen Planeten zu verlassen, nur eine friedliche kommunistische Zivilisation sein. Auch das Aeussere der Ausserirdischen unterschied sich kaum vom menschlichen. Diese Aehnlichkeit wurde speziell bei Ivan Efremov damit begruendet, dass der menschliche Koerper als ?universaler Organismus? das ideale Ergebnis jeglicher biologischen Evolution sei, genau so, wie der Kommunismus die ideale Gesellschaftsform darstelle.
Erst 1960 tauchten das erste Mal in der Tauwetterperiode intelligente ausserirdische Wesen auf, die sich grundlegend von den Menschen unterschieden und diese gleich in mehrerer Hinsicht in ihre Grenzen wiesen: So versuchen zum Beispiel in der Erzaehlung ?Zweite Expedition zum seltsamen Planeten? von Vladimir Savtschenko die Menschen vergeblich mit kristallinen Lebewesen Kontakt aufzunehmen: ?... Ja, wir sind hier mit kristallinem Leben zusammengestossen. Wortwoertlich zusammengestossen, denn wir waren auf dieses Treffen nicht vorbereitet. Auf der Erde hat einfach zu lange die Meinung vorgeherrscht, dass es nur organisches Leben geben koenne, dass der Mensch die hoechste Erscheinungsform des Lebens sei; dass, wenn wir mit intelligenten Wesen in anderen Welten zusammentreffen sollten, diese sich von uns nur ganz unwesentlich unterscheiden wuerden, zum Beispiel in der Form der Ohren oder bei den Schaedelmassen...? (Savtschenko 1960: 16).
Vergleicht man diese Geschichten ueber Ausserirdische mit dem populaerwissenschaftlichen ?Wissenschaftsglauben?, dann hat sich hier dessen Bedeutung veraendert. Denn waehrend dort die Eroberung des Kosmos als ein vom Menschen selbst gesetztes Ziel propagiert wurde, stellte die Science Fiction solche anthropozentrischen Annahmen mehr und mehr infrage. Sie nahm zwar den ?Wissenschaftsglauben? auf, verschob aber ab Anfang der sechziger Jahre allmaehlich die Perspektive weg von der Erde und vom Menschen als Mittelpunkt der Welt hin zugunsten einer Vielheit der Welten und moeglichen Lebensformen. Damit verwarf sie aber auch ein zentrales ideologisches Postulat der Stalin- und Chrustschevzeit, wonach der Mensch als Herr und Schoepfer sich die Natur und Technik untertan machen koenne.
Am bekanntesten fuer eine solche Fantastik sind die Werke der Brueder Arkadij und Boris Strugackij, auch wenn sie laengst nicht die einzigen waren, die dieses Thema behandelten. Waren sie anfangs vor allem mit ethischen Alltagsfragen beschaeftigt, die sie anhand des Umgangs mit technisch-wissenschaftlichen Wundern der Zukunft oder des Zusammentreffens mit meist despotischen Zivilisationsformen auf anderen Planeten bearbeiteten (Simon 2004: 383), begannen sie ab Mitte der sechziger Jahre sich vermehrt kosmischen Gaesten auf der Erde zu widmen.
Zwar lassen sich auch die in fremden Welten spielenden negativen Utopien wie ?Fluchtversuch? (1962) oder ?Ein Gott zu sein ist schwer? (1964) als verfremdeter Spiegel der sowjetischen Alltagswirklichkeit lesen, doch bedienen diese Werke selbst in ihrer Kritik noch eine imaginaere Sehnsucht nach exotischen und fremden Welten. Mit dem Sturz Chrustschevs und der so genannten Stagnationszeit aendert sich dies. Kosmische Begegnungen verlieren ihre initiatorische und transformierende Kraft fuer den Alltag. Der Kontakt mit anderen Welten macht die Helden weder zu Kristallmenschen (wie bei Nemcov) noch zu frei nach ihren Beduerfnissen lebenden Individuen (wie bei Efremov). Statt einer Verzauberung der Protagonisten fokussieren die kosmischen Gaeste eher noch die Tristesse des Alltags.
Arkadij und Boris Strugackijs ?Die zweite Invasion der Marsmenschen? (1968) erzaehlt vom Alltag in einer Provinzstadt irgendwo auf der Erde, die eines Nachts Zeuge einer gewaltigen Feuerexplosion am Horizont wird. Allmaehlich spricht es sich herum, dass es eine neue Regierung geben werde, da eine Invasion der Marsmenschen stattgefunden habe. Die Protagonisten sind fleissig Alkohol konsumierende Maenner, die auf dem Marktplatz oder in der Kneipe alle moeglichen Banalitaeten und Klatschgeschichten diskutieren, sich um ihre Rente sorgen, Briefmarken sammeln, sexistische Witze reissen und Aerger mit der Kleinfamilie haben. Die Marsmenschen nehmen sie trotz einiger Hysterie voellig widerstandslos hin, da man betreffs politischer Veraenderungen eh keine Illusionen hegt. In der recht duesteren Atmosphaere der ?verfluchten konformistischen Welt? (Strugazki 1976a: 5) loest die Invasion noch nicht einmal mehr Angst und Schrecken vor einer uebermaechtigen Okkupationsmacht aus (wie sie in der ?ersten Invasion? in H. G. Wells Roman ?Krieg der Welten? von 1899 noch vorherrschen, auf die der Titel des Romans anspielt). Auch wissenschaftliche Neugierde oder ein optimistischer Fortschrittsglaube werden an keiner Stelle mehr evoziert. Die Invasion der Marsmenschen hat nicht nur alles Aussergewoehnliche verloren, sie ist auch ohne Bedeutung fuer den Alltag der hier vorgestellten Menschen.
?Picknick am Wegesrand? (1972) erzaehlt ebenfalls von einem Besuch ausserirdischer Gaeste, diesmal aber in einer deutlicher kapitalistisch gepraegten Welt, in der die Aliens jedoch keine Invasion vornehmen, sondern ? wie einer der Protagonisten vermutet ? nur ein kurzes Picknick auf der Erde bei ihrem Weg durch die Weiten des Weltalls abgehalten haben, wobei sie einige Abfaelle am Wegesrand liegen gelassen haben. Diese seltsamen ?Abfaelle? weisen eine Reihe raetselhafter Eigenschaften auf, die saemtliche physikalischen Gesetze ausser Kraft setzen, wodurch sie sowohl oekonomisch als auch militaerisch aeusserst nutzvoll sind. Deswegen hat man die so genannten ?Besucherzonen? abgesperrt, um sie wissenschaftlich zu erforschen. Gleichzeitig locken die geheimnisvollen Artefakte eine Reihe Neugieriger und ?Goldsucher? an, die versuchen, die ausserirdischen Gegenstaende aus der Sperrzone zu schmuggeln. Zweifelhafte Gluecksritter, dubiose Geschaeftsleute und korrupte Beamte lassen sich im Umfeld der Zonen nieder. ?Sie waren in der Hoffnung angelangt, umwerfende Abenteuer zu erleben, unermesslichen Reichtum oder auch Weltruhm zu erlangen, hatten moeglicherweise sogar religioese Gruende. In Scharen waren sie herbeibestroemt (?). Raffgierig, talentlos, gepeinigt von unklaren Wuenschen, mit allem auf der Welt unzufrieden, schrecklich enttaeuscht und felsenfest davon ueberzeugt, auch hier wieder betrogen worden zu sein? (Strugazki 1976b: 146).
Einer dieser Goldsucher ist ?Rotfuchs? Redrik Schuchart, der Hauptheld der Geschichte, ein ungebildeter Saeufer und Krimineller, der schon mehrmals im Gefaengnis gesessen hat und sich trotzdem immer wieder dazu ueberreden laesst, fuer etwas Geld die begehrte ausserirdische Schmuggelware aus der verbotenen Zone zu beschaffen. Fuer ihn haben die ausserirdischen Artefakte und lebensgefaehrlichen Vorgaenge in der verbotenen Zonen jedoch keinerlei wissenschaftliche und zauberhafte Anziehungskraft, sondern stellen nur zu bewaeltigende Hindernisse dar, die er nicht rational, sondern rein instinktiv erfasst. Ihm geht es lediglich um den materiellen Zuverdienst, den er seiner Kleinfamilie zukommen laesst, meist aber umgehend in Kneipen versaeuft.
Doch die Zone ergreift auch umgekehrt von ihrer Umgebung Besitz. Schucharts Tochter mutiert wahrscheinlich aufgrund seiner vielfachen Aufenthalte in der Zone nach und nach zu einem Aeffchen, dem der Arzt gar den Status eines Menschen abspricht. Und eines Tages taucht sein verstorbener Vater als lebender Leichnam wieder in seiner Wohnung auf. Aufgrund dieser trost- und ausweglosen Situation bleibt fuer Schuchart als letzte Hoffnung eine in der Zone befindliche, Legenden umwobene ?Goldene Kugel?, die angeblich alle Wuensche erfuellt. Auf dem Weg zu ihr beginnt er sich erstmals Gedanken ueber sein Leben zu machen: ?Was ihm vordem als Unsinn, als Hirngespinst (?) erschienen war, verkehrt sich nun in seine einzige Hoffnung. In den alleinigen Sinn des Lebens, denn in ebendieser Sekunde begriff er: Das einzige, was ihm auf der Welt geblieben war, das einzige, wofuer er in den letzten Jahren und Monaten gelebt hatte, war die Hoffnung auf ein Wunder. Ein Dummkopf war er, dass er diese Hoffnung immer von sich gewiesen, sie mit Fuessen getreten hatte. Er hatte sich lustig ueber sie gemacht, sie im Schnaps zu ersaeufen versucht, weil er es so gewohnt war, von jeher schon, seit seiner Kindheit (?Jetzt fuellte) ihn diese Hoffnung ? die im Grunde schon keine Hoffnung mehr war, sondern der feste Glaube an ein Wunder - voll und ganz aus, und er begann sich bereits darueber zu erstaunen, dass er all die Zeit in so duesterer, auswegloser Finsternis hatte zubringen koennen?? (Strugazki 1976b: 256f.).
Mit diesem Erweckungserlebnis des draufgaengerischen Saeufers aus ?auswegloser Finsternis? wird der Glaube an Wunder aber wieder zu dem, was er kulturgeschichtlich gesehen immer war: ein religioeses Moment der Epiphanie, die hier an keinerlei wissenschaftliche Begruendung mehr gebunden ist. Er grenzt sich im Gegenteil dezidiert von den rationalen Erklaerungsvorschlaegen der anderen Protagonisten ab. Andrej Tarkovskij (1932?1986) hat dieses religioese Moment, das bei den Bruedern Strugackij nur eine zweifelhafte Option unter vielen ist, in seiner Verfilmung des Romans ?Stalker? (1978) zum zentralen Moment seines Werkes gemacht: Hier begeben sich ein Wissenschaftler und ein Schriftsteller zusammen mit dem Stalker genannten Fuehrer zu einem geheimnisvollen Zimmer, das angeblich alle Wuensche erfuellen kann, doch keiner der drei mag diese am Ende aussprechen. Auf dieser Suche nach dem Sinn des Lebens ist es vor allem die an ein verseuchtes ehemaliges Industriegebiet erinnernde Zone mit einer alles ueberwuchernden Natur, die die Grossstaedter visuell in ihren Bann zieht und dem Geschehen eine mystisch-geheimnisvolle Aura verleiht.
Damit bekommen die ausserirdischen Wunder eine weitere symbolische Bedeutung: Sie verzaubern nicht mehr den Alltag oder folgen einer Fortschrittsideologie in andere Welten, sondern stehen gewissermassen Pars pro toto fuer die wissenschaftlich-industriellen und ideologischen Verirrungen der sowjetischen Gesellschaft. Indem die Helden ausgerechnet in den Abfaellen am Wegesrand bei den Strugackijs oder in den ausrangierten Industriehalden der Grossbaustellen des Sozialismus bei Tarkovskij ihre letzte Hoffnung auf Erfuellung der Wuensche suchen, repraesentieren sie die generelle Desillusionierung betreffs der kommunistischen Versprechen auf eine bessere Zukunft. Die Transformation des Alltags mit Hilfe wissenschaftlicher Innovationen und kosmischer Begegnungen ist hier gaenzlich gescheitert. Anstelle frei entfalteter Beduerfnisse (wie bei Efremov), bleiben diese durchwegs maennlichen Helden in ihrem engen Horizont aus Alkohol, Klatsch und Kleinfamilie befangen.
Gleichzeitig zeigt die imaginaere Verknuepfung individueller Wuensche mit ausserirdischen Erscheinungen aber auch, wie stark die Wissenschaftspopularisierung in die Alltagskultur eingegangen ist. So endet ?Picknick am Wegesrand? damit, dass Šuchart die Worte seines toedlich verunglueckten Begleiters wiederholt, die er als seinen Wunsch formuliert, da ihm keine eigenstaendigen Gedanken einfallen: ?Glueck fuer alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehen? (Strugazki 1976b: 302). Diese Schlussworte haben vielfache Interpretationen provoziert  was sie in ihrer Sprachlosigkeit aber neben allem auch verhandeln, ist, wie eng individuelle Wuensche in der sowjetischen Populaerkultur mit der kollektiven Wunschmaschine kosmischer Begebenheiten verknuepft worden sind: Das Subjekt hat keine Sprache ausserhalb des ?Gluecks fuer alle?.
In ganz anderer Form als die Strugackijs und Tarkovskij hat einer der erfolgreichsten sowjetischen Fantasten der siebziger Jahre, Kir Bulytschev (1934?2003), sich mit populaeren Aneignungen kosmischer Wunder in seinen fantastischen Erzaehlungen aus dem Alltagsleben der sowjetischen Provinzstadt Gross-Guslar beschaeftigt, die in Buchform das erste Mal im Jahr 1972 in dem Band ?Wunder in Guslar? erschienen. Waehrend bei den Strugackij-Bruedern die im Alltag versackten Saeufer selbst kosmische Wunder nicht mehr aus ihrem Trott reissen, sind es bei Bulytschev ordentliche und gewissenhafte sowjetische Kleinbuerger, die ihrem beschraenktem Vorteil im Alltagsleben nachgehen und ansonsten mit Kartenspiel, Wodka und Angeln sich die Zeit vertreiben. In diesen ironisch die Mangelerscheinungen und Idiosynkrasien des sowjetischen Alltags brechenden Geschichten treffen die Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnhauses in der Puschkinstrasse Nr. 16 und vor allem der gewissenhafte Chef vom Baukontor, Kornelij Udalov, immer wieder auf Ausserirdische, mal in Gestalt eines Nilpferdes, mal als Goldfische, als einfacher Busfahrer oder auch leibhaftig als kleines gruenes Maennchen. Die erste dieser Guslarer Geschichten aus dem Jahr 1970 traegt den programmatischen Titel ?Persoenliche Beziehungen?, in der Udalov eines Abends seinen Hofnachbarn berichtet, wie er auf der Landstrasse einer havarierten fliegenden Untertasse mit dreibeinigen ?Unirdischen? an Bord begegnet sei. Diese haetten bei ihrem Absturz einen ganzen Strassenabschnitt stark beschaedigt, jedoch alles bis zu den Pfosten am Strassenrand in der Qualitaet von ?Importmoebeln? repariert. Bloss weisse Oelfarbe fehlte ihnen, so dass er ihrer Bitte nachgekommen sei, diese Pfosten noch zu streichen. Udalov berichtet von den im Ganzen recht irdisch aussehenden Unirdischen, als seien sie das Gewoehnlichste der Welt. Und auch deren Umgangsweise unterscheidet sich kaum von den sowjetischen ?Eingeborenen?: Sie fuerchten Verweise von Vorgesetzten und Spott und Hohn aus anderen Galaxien. Die kosmische Begegnung wird hier als unterhaltsame Feierabendanekdote vorgetragen, so wie ?in grauer Vorzeit die Bylinensaenger ihre Gusli aus dem Sack gezogen und, das Antlitz dem Fuersten zugekehrt, einen langen, hinreissenden Rapport abgezogen, der den Zeitgenossen durchaus glaubwuerdig und den Nachgeboren ganz und gar unwahrscheinlich vorkam? (Bulytschow 1981: 153). In den folgenden Guslarer Erzaehlungen tauchen die Ausserirdischen dann auch im Alltag der anderen Helden auf, die deren Auftreten so selbstverstaendlich hinnehmen, wie man knappe Produkte, Festtage oder aergerliche Stoerfaelle registriert, immer getrieben von ihrem engen Erwartungshorizont aus Neugier, Eifersucht und Klatschbeduerfnis. Die ?Wunder in Guslar? brauchen keine wissenschaftliche Begruendung mehr, sondern sind voellig in den gewoehnlichen Alltag der Provinzbuerger integriert.
Die kosmischen Gaeste schreiben hier passend zur Stagnation der Breznevaera nur noch den Status quo fest, ohne ihn ideologisch in irgendeine Richtung hin zu transformieren. Und so bricht der ausserirdische Raumfahrer ?Wussz? in der Erzaehlung ?Eine Dampflok fuer den Zaren? (1977) verzweifelt in Traenen aus: ?Er konnte sich nicht damit abfinden, ein Robinson Crusoe geworden zu sein, der von lauter Freitagen umgeben war. (?) Der Raumfahrer Wussz arbeitet fuers erste als Buchhalter in Udalows Kontor, er hat Russisch gelernt und erfuellt seine Pflichten leidlich, Sterne holt er freilich nicht vom Himmel? (Bulytschow 1982: 30).Die ?persoenliche Beziehung? des mit ?entwickelter Einbildungskraft? ausgestatteten Provinzlers zum kosmischen Gast hat hier dazu gefuehrt, dass dieser zu einem durchschnittlichen Bueroangestellten gemacht worden ist. Damit entledigt Bulytschev den Wunderglauben aber auch seiner religioesen Komponente einer diesseitigen Erloesung, die bei den Strugackijs und Tarkovskij noch als letzte (truegerische) Hoffnung aufscheint. Der sowjetische Griff nach den Sternen holt hier gewissermassen noch nicht mal mehr eine Sternschnuppe vom Himmel.
So ist mit der Entzauberung der sowjetischen Ideologie seit den spaeten sechziger Jahren aus dem populaerwissenschaftlichen Wunderglauben fuer gebildete Leute in der sowjetischen Science Fiction wieder ein alltaeglicher Glauben an die Einmischung wenn nicht eines goettlichen, so doch zumindest ueberirdischen ? transzendenten  Willens in die hiesige Welt geworden, den man entweder in der verwilderten Natur, seltsamen kosmischen Erscheinungen oder folkloristischen Klatschgeschichten zu finden meint.
Kulturgeschichtlich gesehen sollte man diese populaeren Wundergeschichten schon allein deshalb in eine Literaturgeschichtsschreibung mit aufnehmen, da von ihr viele postsowjetische Autoren in ganz verschiedener Hinsicht als Imaginationspotenzial und Darstellungsmaterial zehren. Wobei dies nicht nur die enorme Popularitaet von Fantasy und Phantastik heutzutage (Gontscharow, Masowa 2003) sowie die ausserordentliche mediale Praesenz parawissenschaftlicher und okkulter Themen (Hagemeister 1998) betrifft. Es gilt durchaus auch fuer an ?gebildetere Leute? adressierete postmoderne Werke wie Viktor Pelevins (*1962) ?Omon Ra? (1992) oder auch Vladimir Sorokins (*1955) letzte Romane ?Eis? (2002) und ?Der Weg Bros? (2004), die sich alle ausfuehrlich aus der sowjetischen Mythologie un/moeglicher persoenlicher Begegnungen mit ausserirdischen Lebensformen und lunaren Welten bedienen.

Anmerkungen
*Die deutsche Fassung des Textes wurde publiziert in: Wunder mit wissenschaftlicher Begruendung. Verzauberter Alltag und entzauberte Ideologie in der sowjeti-schen Science Fiction der Nachkriegszeit? in: Berliner Osteuropa Info, Bd. 23/2005, S. 100-109.
1. Indem die einsame Insel auf diese Weise wieder in die den kollektiven Alltag integriert wird, erteilt der Kurzroman auch dem Genre des fantastischen Abenteuerromans mit dem Typus des ?Mad Scientist? eine allgemeine Absage. Natuerlich spielen auch noch weitere realgeschichtliche und ideologische Ebenen hinein wie z.B. eine Umkodierung der Kriegserfahrung und die Kolonisierung Sibiriens.

Literatur
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Bulytschow, Kir 1982: Eine Dampflok fuer den Zaren. In: Besuch aus dem Kosmos. Dt. von Aljonna Moeckel. Berlin: Verlag Neues Leben, 20?30.
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