Search | Write us | FAQ
RU | no-pyccku International internet-seminar about russian and east-european history
Welcome! About the project Coordinators of the project Current project Publications Links Archive Feedback
SUSU South Ural State University
UNI BASELUNI
BASEL
Chelyabinsk State University Chelyabinsk State University

Archive

Der Ural im russischen Buergerkrieg

08.11.2007, 17:15

I. Narskij

Der Ural im russischen Buergerkrieg: Gewaltformen und Ueberlebensstrategien

?Man hatte Angst zu weinen. Nachdem die Verwandten weggefuehrt worden waren, sass man still und wusste, dass man selbst bald, vielleicht sogar dieselbe Nacht dran war. Und als hinter der Wand, in der Nachbarwohnung Klopfen, Laerm und wildes, unmenschliches Geschrei ertoente, starrte man gelaehmt mit weit geoeffneten Augen in die Dunkelheit in der Erwartung, dass es auch an der eigenen Tuer klopfen wuerde" (1).
Diese Zeilen, die wohl auch die Stimmung der Moskauer oder Leningrader Einwohner auf dem Hoehepunkt des Grossen Terrors der 1930er Jahre zutreffend beschreiben koennten, stammen aus einer anderen Zeit und aus einer von den Hauptstaedten Russlands weit entfernten Region. Sie wurden in einer ?weissen" Zeitung im Januar 1919 veroeffentlicht, kurz nach der Besetzung des Gouvernementzentrums Perm? im Uralgebiet durch die Truppen des Admirals Koltschak und charakterisierten das Leben der Stadtbewohner unter der bolschewistischen Diktatur.
Die Region Ural in ihren vorrevolutionaeren Grenzen (Gouvernements Vjatka, Perm', Orenburg und Ufa) mit fast 800 000 Quadratkilometern und mehr als 13 Mio. Einwohnern am Vorabend der Revolution fuehrt uns in das Zentrum des Problems von Gewalt im russischen Buergerkrieg. In dieser Region war alles zu finden, was in wenigen Jahren in ganz Russland stattgefunden hat - die unerwartete, von der Hauptstadt ?verordnete? Revolution und bewegliche weiss-rote Frontlinien sowie regionale Regierungen und nationale Bewegungen, Bauern- und Arbeiteraufstaende, Kosakenaktivitaeten ?weisser?, ?roter? und ?gruener? Faerbung, pogromartige Exzesse in den Staedten und auf dem flachen Lande, mehrmalige Machtwechsel und Pluenderungen der Bevoelkerung.
Der Buergerkrieg im Ural sprengt die offiziellen zeitlichen Grenzen des Buergerkrieges in Russland (1918 - 1920). Die Militaeroperationen der Roten Garde gegen die rebellierenden Orenburger Kosaken hatten im November 1917 begonnen, ein halbes Jahr vor der offiziellen Erklaerung des Buergerkrieges. In den Jahren 1918 - 1919 wurde der Ural zu einem zentralen Kampfplatz der Roten Armee gegen die Tschechoslowakische Legion, die Weisse Armee des Admirals Koltschak und die eine Zeitlang mit ihm alliierten baschkirischen Truppen. Eine erhoehte Konzentration an Gewalt und Leid beherrschte den Alltag in der Region. Mit Ausnahme des nordwestlichen Teils des Gouvernements Vjatka war die ganze Region zum Kriegsschauplatz geworden. Die Staedte und Bergbausiedlungen waren dem Terror der wechselnden Machthaber ausgesetzt, das flache Land wurde durch die Requirierungen aller Kriegsparteien ausgeplundert.
Der Buergerkrieg dauerte im Uralgebiet weit ueber sein offizielles Ende hinaus an: Statt des Friedens kamen Terror und der ?Bauernkrieg?, der auf seinem Hoehepunkt um die Jahreswende 1920-1921 das Ausmass der "Antonowtschina" im Gouvernement Tambov weitaus uebertraf. Der ?gruene" Bauern- und Kosakenkrieg wurde nicht von der ?Neuen oekonomischen Politik" gestoppt, sondern durch die beispiellose Hungersnot von 1921 - 1922, die im Uralgebiet besonders verheerende Folgen hatte: Die staatliche Hilfe kam zu spaet und war zu gering. Die laendliche Bevoelkerung musste sich selbst um das Uеberleben in der Hungerskatastrophe kuemmern. Auch die Arbeiterstreiks dauerten bis Mitte 1922, als die relativ gute Ernte die Versorgung wieder einigermassen gewaehrleisten konnte.
Gewalt in der sowjetischen Geschichte gehoert seit Jahrzehnten zu den zentralen Forschungsthemen. Noch im Rahmen des Ansatzes der Totalitarismusforschung als systembildender Bestandteil der sowjetischen Diktatur betrachtet, findet sie in der letzten Jahrzehnt immer mehr Interesse auch unter den kulturgeschichtlich orientierten Historikern.(2) Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit liegt zwar nach wie vor vorwiegend im Vorkriegsstalinismus, die Gewalt in der russischen Revolution und im Buergerkrieg wird aber auch intensiver thematisiert.(3) Die revolutionaere Gewalt wird dabei staerker ins Verhaeltnis zum Stalinismus gesetzt. Die Suche nach den Wurzeln der stalinistischen Gewaltkultur im russischen Buergerkrieg fuehrt jedoch zu einer bemerkenswerten Assimetrie in der Erforschung der Gewalt im fruehen Sowjetrussland: das Interesse gilt vor allem den von Staat ausgeuebten Gewaltpraktiken. Die Gewalt als formative Grundlage der Lebenswelten und Verhaltensmuster der Bevoelkerung wird erst seit kurzem thematisiert.(4)
Die Quellen zum Buergerkrieg in der regionalen Perspektive erlauben die Gewalt im fruehen Sowjetrussland als ein organisch in den Alltag eingewobenes und von der Bevoelkerung instrumentalisiertes Phaenomen zu betrachten. Sie bestaetigen die Vorstellung von der Gewalt als einer immer vorhandenen menschlichen Moeglichkeit, die Anderen physisch zu unterwerfen. Sie wird aber erst in extremen Situationen zur Wirklichkeit, zum Mittel der Vergemeinschaftung, Ausgrenzung und Stigmatisierung.(5)
Eine zentrale These des Beitrags, die sich aus der mehrjaehrigen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ural im spaeten Zarenreich und fruehen Sowjetrussland entwickelt hat, besteht darin, dass die Gewalt ein Medium von Uеberlebensstrategien der Bevoelkerung in einer extremen Situation der materiellen Not, des institutionellen Zerfalls, der existenziellen Bedrohung und kulturellen Desorientierung ausmachte. Es ist nicht sinnvoll, die gruppenspezifischen Gewaltformen und Uеberlebenstechniken an solchen sozialen Gruppen aus frueheren oder spaeteren Zeiten zu finden wie Bauern, Arbeiter und Intelligenz. Im Gegenteil sollen die Uеberlebenspraktiken und die damit verbundene Gewalt als eine gruppenbildende Kraft analysiert werden, die Gemeinschaften bildete.
Im Folgenden werde ich mich mit drei Fragen beschaeftigen: erstens, welche Bedeutung die staatliche Gewalt fuer den Alltag der Bevoelkerung in der Uralregion waehrend des Buergerkrieges hatte, welche Unterschiede die Gewaltanwendung seitens der roten und weissen Regierungen markierten und ob die Bevoelkerung diese Unterschiede hierbei wahrnahm. Zweitens, in welchem Verhaeltnis Gewalt und Ueberlebenstechniken zueinander standen, auf welche Weise sie zusammenwuchsen? (6) Und drittens, welche kulturelle Vorpraegungen und aktuelle Umstaende zu der beispiellosen Gewaltexplosion beigetragen haben.

?Rote" und ?weisse" Gewalt - Antipoden oder Zwillinge?

Die Gewaltausuebung seitens der Kriegsparteien im Ural wie auch in anderen Randgebieten Russlands hatte unterschiedliche Auspraegungen. Der bolschewistische Terror wurde von den politischen Parolen des Klassenkampfes begleitet und war, vor allem auf die Erzwingung von Kooperation ausgerichtet. Die Gewaltanwendung erstreckte sich (mindestens theoretisch) auf Verwaltung, Produktion, Versorgung und Kultur. Dazu dienten alle Formen der Einschuechterung, bis zu Geiselnahme und Massenerschiessungen, aber vor allem die Versorgungsdiktatur und Militarisierung der Arbeit. Besonders belastend fuer die Bevoelkerung der Region waren die Zwangsmobilisierungen fuer Holzbeschaffung, die im Ural betrieben wurden, da die technologisch rueckstaendige Metallproduktion ohne Holz nicht funktionieren konnte. Aber die oekonomoschen Ueberlegungen standen den Bolschewiki nicht im Vordergrund. Wirtschaftlich erwiesen sich die Zwangsmobilisierungen als ineffizient, wie auch die 1. Revolutionaere Arbeitsarmee, die vor allem der Holzbeschaffung fuer die Industrie dienen sollte und von den Bolschewiki aus der 3. Armee der Ostfront im Jahre 1920 gebildet und erst im Fruehjahr 1922 ? ein Jahr nach dem Ende des Kriegskommunismus ? aufloest wurde. Zu den Besonderheiten der Situation im Ural gehoerte auch die spaetere und teilweise aus diesem Grund besonders brutale Durchsetzung der Distributionswirtschaft und der Versorgungsdiktatur, die von den antibolschewistischen Regimes seit dem Sommer 1918 gestoppt wurde und sich erst im Jahre 1920, ein halbes Jahr nach der Rueckkehr der Bolschewiki in die Region, wieder etablierte.
Im Unterschied zu den ?Roten? rechtfertigten die ?Weissen? die Gewalt mit patriotischen Parolen. Das sollte den Terror beschraenken, dem theoretisch nur die militant antipatriotisch gesinnten Bolschewiki ausgesetzt waren. Wie sich im Ural sehr anschaulich zeigt, war sich die Regierung Koltschaks der Tatsache vollkommen bewusst, dass es kein Zurueck in die Zeit vor 1917 mehr gab. Ihre Politik war eher gemaessigt. Der 8-Stunden?Arbeitstag war anerkannt, genauso wie Taetigkeit der Gewerkschaften in den Betrieben. Die Reprivatisierung der Industrie ging vorsichtig voran und wurde nur teilweise verwirklicht, nicht zuletzt wegen der pragmatischen Einstellung der ehemaligen Besitzer, die eindeutige politische Konstellation und eine guenstigere Konjunktur abwarten wollten. Das gleiche gilt fuer den Landbesitz.(7) Die klassischen Landgueter waren fuer den vorrevolutionaeren Ural nicht typisch, und das weisse Regime tolerierte die Folgen der Landumverteilung unter den Bauern, obwohl weitere Landaufteilungen verboten wurden. Man versuchte also, die Folgen der bolschewistischen Experimente und der Bauernrevolution eher in mehr oder weniger zivilisierte Bahnen zu leiten anstatt sie ruecksichtslos zu eliminieren. Selbst bei den feierlichen Zeremonien erwiesen sich die antibolschewistischen Behoerden nicht als restaurativ. So war es gestattet, den Jahrestag der Februarrevolution und den 1. Mai zu feiern.(8)
Trotz der oben erwaehnte Unterschiede wurden der ?rote" und ?weisse" Terror von der Bevoelkerung oft als Zwillingsbrueder wahrgenommen. Graeueltaten wie Geiselnahmen, Massendurchsuchungen und -verhaftungen, ungesteuerte Requirierungen und Pluenderungen, Folter und willkuerliche Mordtaten kennzeichneten alle Regimes. Dafuer gab es mehrere Gruende. Alle Kriegsparteien bezogen die Anwendung von Gewalt in ihre Programmatik mit ein. Vor allem sollte aber Gewalt die Schwaeche des Verwaltungsnetzwerkes kompensieren, die in den Ueberlappungen der Kompetenzen, in der Vorherrschaft der ausserordentlichen Machtorgane (9) sowie im Mangel an Organisationskraeften auf beiden Seiten ihren Niederschlag fand.
Das Verwaltungschaos spiegelt sich in unzaehligen Beschwerden der Insassen ?weisser" und ?roter" Gefaengnisse wieder. So schrieb im Herbst 1918, einige Monate nach der Uebernahme der inoffiziellen Hauptstadt Urals Ekaterinburg durch die antibolschewistischen Truppen, ein ehemaliger Staatsbeamter und Ingenieur an die Leitung der Ekaterinburger Kommandantur: ?In Ekaterinburg passieren grauenhafte, schreckliche Sachen: Aufgrund jeder beliebigen Denunziation, auch seitens Minderjaehriger, werden Massenverhaftungen angeblicher Bolschewiki durchgefuehrt. Als eine Illustration kann ich eine kurze Beschreibung der Personen anfuehren, die vom Kommandanten der Stadt in Haft genommen worden sind: ein des Lesens und Schreibens unkundiges 60 jaehriges altes Weib, das wegen der Phrase ?die alte Ordnung sei besser gewesen" denunziert wurde; ein blindgeborener Musiker und Klavierstimmer, der wegen der angeblichen Bueroarbeit bei den Bolschewiki von zwei Jungen denunziert wurde; ein belgischer Untertan, der wegen eines Fehlers in seinen Dokumenten inhaftiert ist; ein Offizier, der mit einem Teil seiner Schwadron Bolschewiki verlassen hat; ich, ein Ingenieur, der 20 Jahre lang dem Staat gedient hat und der nach zweijaehriger Arbeit im Militaerbetrieb in Zlatoust von Bolschewiki aus Rache hinausgeworfen und verhaftet wurde".(10) Dieser Brief wurde Ende zwanziger Jahre in der Sowjetunion veroeffentlicht, im Unterschied zu zahllosen und erst seit einigen Jahren zugaenglichen Beschwerden gegen Willkuer der roten Behoerden: dem sowjetischen Deutungsmuster des Buergerkriegs nach war die willkuerliche Gewaltanwendung nur fuer die ?weisse? Seite typisch.
Die Schwaeche der Staatsstrukturen wird auch in dem nicht systematischen, wellenartigen Einsatz der Gewalt deutlich. Seine Hoehepunkte erreichte der rote und weisse Terror waehrend der grossen Militaeroperationen an der Ostfront im Sommer und Herbst 1918 und im Sommer 1919. Nach der bolschewistischen Rueckkehr in die Region im Jahre 1919 nahm die Gewalt in den Staedten systematischeren Charakter an. Die permanente Bestrafung der sogenannten ?Freiwilligen", die entweder in der Weissen Armee gedient oder die Region mit Koltschak verlassen hatten und danach zurueckkehrten, wurde zur Routine des staedtischen Lebens.
Auf dem flachen Lande blieb der Terror nach wie vor unkalkulierbar. Er folgte den Rhythmen der landwirtschaftlichen Arbeit und nahm im Herbst 1920 und 1921 enorm zu, als das Getreide geerntet war und die Bauern zur Getreideablieferung beziehungsweise zur Naturalsteuerabgabe gezwungen wurden.
Die massiven Gewaltanwendungen seitens der aufeinanderfolgenden Regimes waren also unvermeidliches Produkt einer bizarren Kombination von ideologischen Konstrukten und der Schwaeche der Verwaltung. In der Mangelgesellschaft, zu der Russland immer mehr tendierte, ersetzte die Willkuer das Defizit an zivilisierten Steuerungsmitteln.

Gewaltanwendung und Ueberlebenstechniken

Um auf die weiteren Faktoren beziehungsweise Quellen der riesigen Gewaltexplosion zu kommen, sollen die Ueberlebensstrategien, die in komplizierten Wechselwirkungen mit dem Gewalteinsatz jeder Art standen, schematisch skizziert werden. Dabei gehe ich davon aus, dass die Haeufigkeit der Machtwechsel eine zweischneidige Erscheinung war. Einerseits foerderte sie den massiven Einsatz von Gewalt und die Risiken im Alltagsleben. Andererseits liegt es nahe zu vermuten, dass die haeufigen Abloesungen der Regimes im Ural einen viel groesseren Spielraum fuer die improvisierten und meistens illegalen Ueberlebenstechniken der Bevoelkerung beguenstigte, als im von den Bolschewiki mehr oder weniger kontrollierten Zentralrussland.
Die Bevoelkerung der Region laesst sich in diesem Sinn in drei Gruppen hierarchisieren, die ich als ?Aktivisten", ?Mitlaeufer" und ?Aussenseiter" bezeichnen werde.(11) Hinter den gruppenspezifischen Ueberlebensstrategien standen unterschiedliche Vorpraegungen, Erfahrungsfelder und Erwartungshorizonte. Diese Einteilung hat einen kuenstlichen Charakter und fuehrt unvermeidlich zu einer Vereinfachung. Wegen der chaotischen Zustaende politischer Institutionen und gesellschaftlicher Strukturen waren die Grenzen zwischen diesen Gruppen fliessend. Trotzdem wage ich diese Zuordnungen zu benutzen, um Ordnung in das soziale Chaos zu bringen.
Die ?Aktivisten" setzten sich intensiv mit den neuen Lebensumstaenden auseinander. Wer seine Lebensperspektive mit der intensiven Ausnutzung beziehungsweise Bekaempfung der radikal geaenderten Realitaet verband, kooperierte entweder mit den neuen Machthabern oder widersetzte sich ihnen, oder aber betrieb die organisierte, professionelle Kriminalitaet.
Diese Gruppe, wie auch die anderen, war sozial ausserordentlich bunt gemischt. Einige gemeinsame Merkmale lassen sich dennoch feststellen. Es waren in der Regel Maenner im wehrdienstpflichtigen Alter, die als Soldaten oder Unteroffiziere den Weltkrieg erlebt hatten, im Umgang mit Waffen geuebt und ambitioniert genug waren, um ihre Lebensperspektive selbststaendig zu formen und damit verbundene Risiken zu tragen. Einen bedeutenden Teil dieser Gruppe machten die Personen aus, die durch den Weltkrieg sozial entwurzelt waren. Man findet unter ihnen Fluchtlinge, die aus anderen Regionen mobilisierten Arbeiter, Kriegsgefangene, vor allem aber die Garnisonsodaten, Deserteure und demobilisierte Soldaten, die aus welchen auch immer Gruenden ihre Heimat nicht erreichen konnten oder unterwegs nach Hause in der Uralregion weilten.(12) Ihre Repraesentanten waren oder fuehlten sich fremd in den neuen geographischen und kulturellen Raeumen. Es waren vorwiegend Russen oder, viel seltener, Vertreter der in der Region nicht verwurzelten ethnischen Minderheiten wie Letten, Tschechen oder Juden. Die Entfremdung und Verunsicherung provozierte ihren Hang zu brutalen Gewaltaktionen und trugen offenbar dazu bei, dass sie sich auf die Seite der staatlichen Gewalt schlugen. Die kleinen Tyrannen auf der unteren Verwaltungsebene setzten haeufig Ordnung mit Militarisierung gleich und die Staatsmacht mit Privilegien, Gewalt und Amtsmissbrauch. Ihre Motive waren eher egoistischer als grosspolitischer Natur.(13) Fuer die Eskalation der Gewalt spielte vermutlich eine nicht unwichtige Rolle, dass sowohl die ?Roten? als auch die ?Weissen? ihre Organisationskraefte vor allem aus diesem Reservoir schoepfen mussten.
Die Aktivisten des Widerstandes waren im Gegenteil dazu meistens heimisch in der Region und ethnisch viel heterogener. Im Suedural waren das Kosaken sowie Baschkiren, Tataren, ukrainische und deutsche Siedler. Im Unterschied zu den Repraesentanten der staatlich gesteuerten Gewalt waren die Aktivisten des Widerstandes vermutlich dadurch frustriert, dass die durch die Revolution verursachte Situation ihre Erwartungen enttaeuscht hatte.
Diese aktive Gruppe praegte die ?grossen" Ereignisse im Ural. Das Jahr 1917 wurde von der massiven Gewaltanwendung ?von unten" gekennzeichnet. In den Staedten erreichte sie waehrend der Pluenderungen der Alkohollager in den letzten Monaten des Jahres 1917 ihren Hoehepunkt. Auf dem Lande kam es in den ersten Monaten im Jahre 1918 zur radikalen ?schwarzen Umverteilung". In beiden Faellen lag die Initiative bei den Soldaten beziehungsweise Bauern-Soldaten. Seit dem Sommer 1918 nahm die vom Staat nicht gesteuerte Gewalt immer deutlicher offensive Zuege an. Als Reaktion auf die improvisierten Versuche der Bolschewiki, die Versorgungsdiktatur einzufuehren, erhoben sich die Bauern und Arbeiter im ganzen Ural. Sie hatten einen erstaunlich raschen Zusammenbruch des bolschewistischen Regimes zur Folge. Unter den antibolschewistischen Regierungen wurden die kollektiven Protestaktionen gedaempft, was sowohl durch die repressiven Massnahmen als auch durch die Verbesserung der Lebensmittelversorgung zu erklaeren ist. Es kam gelegentlich zu Unruhen, die sich aber erst in Jahren 1920 - 1921 zu einem grandiosen Bauernkrieg entwickelten. Er stand im direkten Zusammenhang mit der bolschewistischen Versorgungspolitik und gipfelte in Massenaufstaenden der Bauern Ende 1919, 1920 und 1921, als die Requirierungen und Zwangsmassnahmen auf dem Lande besonders brutal wurden. Die Aktivisten der Guerilla, die desertierten Bauern-Soldaten, gaben der Gegengewalt seitens der Bauern spezifische Zuege: die Aufstaendischen kombinierten die archaischen militaerstrategischen Muster, die an die Pugatschev-Zeit zurueckdenken lassen, mit den Versuchen, systematische Mobilisierungen durchzufuehren, Schanzen zu bauen, regulaere Regimenter, Divisionen und Armeen zu organisieren, Staebe und Kommandanturen zu schaffen.(14)
Die Mehrheit der Bevoelkerung, einschliesslich der meisten in Russland verbliebenen Vertreter der ehemaligen Elite, hatte andere Ueberlebensstrategien und gehoehrte zu den ?Mitlaeufern". Ihr Verhaltensmuster stuetzte sich auf die passive Distanzierung von jedem Regime und sicherte vor allem das physische Ueberleben. Sehr wichtig war es fuer diese Gruppe, zur rechten Zeit unauffaellig zu werden. Die Jahre des revolutionaeren Umbruchs hatten jedem gezeigt, wie leicht jemand wegen einer vermeintlichen ?konterrevolutionaeren? bzw. probolschewistischen Taetigkeit zugrunde gehen konnte, Vermoegen und Leben einbuesste. Niemand konnte sein Zuhause verlassen und dabei sicher sein, dass man zurueckkehrte. Jeder war staendig dem Risiko ausgesetzt, der Zusammenarbeit mit einem feindlichen Regime beschuldigt zu werden. Es war deshalb ratsam, sich von der Macht ueberhaupt fern zu halten. Wer morgen regieren wuerde, wusste niemand.
Die ?Mitlaeufer? versuchten, ihre Einkommensquellen moeglichst breit zu faechern. Dazu diente die Kombination verschiedener produktiver und distributiver, legaler und illegaler Taetigkeiten, was eine eindeutige Unterscheidung zwischen den Formen des passiven Widerstandes und der passiven Anpassung betraechtlich erschwert.
Die Unterschichten waren auf den Daseinskampf in einer Knappheitsgesellschaft besonders gut vorbereitet. Die illegalen Handelsaktivitaeten der Schieber, das Nebeneinander von mehreren Taetigkeiten, das Pendeln zwischen Stadt und Land - all das waren Varianten der baeuerlichen Wanderarbeit (15). Besonders aktuell fuer den Ural seit dem 19. Jh. waren die Erfahrungen der Arbeiter, die in den Fabrik-Guetern zugleich von gewerblichen und landwirtschaftlichen Taetigkeiten lebten. Seit den 60-er Jahren des 19. Jahrhunderts erfasste eine strukturelle Krise die Metallurgie im Ural, und die Arbeiter sahen sich genoetigt, ihre Ueberlebenstechniken anzupassen, ohne die Bergbausiedlungen verlassen zu muessen. In den Jahren der Revolution war dieser soziale Atavismus zum Vorteil geworden. Die Positionierung zwischen Fabrik und Feld erwies sich waehrend des zivilisatorischen Zusammenbruchs als dermassen stabil, dass die Kommunisten Anfang der 20er Jahre keine bessere Loesung haetten finden koennen, als die alten Bergbaubezirke im Ural, die den Erbguetern aehnelten, anzuerkennen.
Die intensive Aneignung der baeuerlichen Lebensweise durch die anderen sozialen Gruppen springt in manchen Lebensbereichen ins Auge. Ich neige dazu, die Brutalisierung des staedtischen Lebens im spaeten Zarenreich, am Vorabend und waehrend der Revolution teilweise auf einen Lernprozess zurueckzufuehren. Die groessere Gewaltbereitschaft, die sich in der ueblichen Koerperzuechtigung der Kinder in der Bauernfamilie, in der Selbstjustiz der Bauerngemeinde und in den Faustkaempfen waehrend der baeuerlichen Feierlichkeiten manifestierte, gehoerte zum doerflichen Alltag. Die gewalttaetigen Verhaltensmuster kamen vor allem vom Lande und wurden von den Bauern getragen, die seit der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in die Staedte einwanderten.(16) Als im Maerz 1917 die Polizei abgeschaft war, wurden die staedtischen Raeume zu Orten der oeffentlichen Lynchjustiz. Und die Streitereien und Schlaegereien in den Schlangen vor den Lebensmittelgeschaeften sind seit der Spaetphase des 1. Weltkriegs fuer Jahrzente zur Routine der staedtischen Leben geworden.(17)
Den passiv Anpassenden kam sehr darauf an, angesichts der unsicheren Lebensperspektive ihre Leidensgenossen gegeneinander auszuspielen. Es scheint, dass gerade diese Gruppe mit den neuen Machthabern ihr eigenes Katz-und-Maus-Spiel fuehrte und nach Kraeften versuchte, den Staat fuer ihre eigenen Beduerfnisse auszunuetzen. Der soziale Neid, die Rache und banale Abrechnung mit persoenlichen Feinden dienten normalerweise als erfolgreiche Motive, weil der schwache Staat auf Denunziation jeder Art reagierte. Die Anzeigen wurden im Unterschied zu den 30er Jahren meist muendlich erstattet, teilweise weil Mehrheit der Bevoelkerung des Schreibens unkundig war. Die muendliche Denunziation machte den Terror zur reinen Willkuer.
Manches spricht dafuer, dass gerade diese Gruppe der Passiven besonders schwerwiegende Probleme fuer die Regime bereitete. Die ungesteuerte Gewalt der roten und weissen Behoerden wurde auch dadurch verursacht, dass sie sich mit den jeweils gleichen Reaktionen dieser eigensinnigen Bevoelkerungsgruppe konfrontiert sahen. Denn die absolute Mehrheit der Regionsbewohner blieb jeder Regierung gegenueber illoyal gestimmt und musste zum Gehorsam gezwungen werden.
Die zu Beginn der 20er Jahre zugespitzte wirtschaftliche Misere erschwerte fuer manche Bewohner dieser Region die oben erwaehnten Ueberlebensalternativen und trieb rasch die frueher angefangene Marginalisierung der Bevoelkerung voran. So entwickelte sich die Gruppe der ?Aussenseiter", die waehrend der Hungersnot 1921-1922 besonders stark wuchs. Die prekaere oekonomische Situation trieb die sozial Schwaecheren, vor allem aeltere Leute, Kinder und Frauen, aber auch die verarmten Bauern und arbeitslosen Arbeiter in Kriminalitaet, Bettelei und Prostitution. In dieser Gruppe waren die Nichtrussen besonders stark vertreten, vor allem Baschkiren, Wolgatataren und Votjaki (heutige Udmurten), die von der Hungersnot in Jahren 1921 ? 1922 besonders hart getroffen wurden.(18) Die Aussenseiter beteiligten sich an der Gewalt, indem sie sich den Widerstandsaktivisten oder kriminellen Banden anschlossen, vereinzelt oder kollektiv den Mundraub mit Mord begleiteten, beziehungsweise Kannibalismus praktizierten. In vielen Faellen wurden sie jedoch selbst zum Objekt der Selbstjustiz. Dass die Ueberlebenstechniken dieser Gruppe wenig erfolgreich waren, bezeugen die Hunderttausenden von Opfern der Hungerkatastrophe 1921-1922 im Ural, vor allem in den nichtrussischen Teilen der Region. Die rapide Zunahme der Gruppen von passiv Anpassenden und Aussenseitern fuehrte zur Laehmung der organisierten Gegengewalt und zur.Atomisierung der Gesellschaft.

Kultur der Gewalt im revolutionaeren Russland

Jede Antwort auf die Frage ueber Urspruenge, Quellen und Kultur der Gewalt im russischen Buergerkrieg enthaelt unvermeidlich Vereinfachungen. Die Gewaltexplosion hatte mehrere Gruende, deren Hierarchie, Verzahnung und Wechselwirkungen bisher umstritten bleiben. Im Folgenden beschraenke ich mich darauf, die Faktoren zu erwaehnen, die nach meiner Meinung beim Verstehen der Gewaltkultur des Buergerkrieges nicht ausgeklammert werden duerfen.
In diesem Aufsatz ist ein zivilisatorischer Zusammenbruch skizziert worden, der sich aus sozialer wie aus moralischer Sicht als eine humane Katastrophe beschreiben laesst. Allen humanen Katastrophen ist eine Eskalation der Gewalt eigen, die eine massive Aufloesung des sozialen Gefueges begleitet. (19) Ich gehe davon aus, dass die radikalen Veraenderungen der Lebensbedingungen im revolutionaeren Russland den Verhaltenscode der Menschen qualitativ umorganisiert haben. Den allgemeinen Trend dieser kulturellen Umstellung erlauben die Ueberlegungen von N. Elias ueber den funktionellen Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsgrad des stabilen (staatlichen) Gewaltmonopols einerseits und den Moeglichkeiten zur Planung menschlicher Taetigkeit andererseits effektiv zu beschreiben. Laut N.Elias steht die Bereitschaft zur Affektausbruechen und Gewaltanwendung in der umgekehrten Proportion zur Stabilitaet des Gewaltmonopols. (20) Diese These scheint mir fuer das Verstehen der Explosion von Gewalt im russischen Buergerkrieg einleuchtend. Waehrend der russischen Revolution haben der Zerfall der Machtzentren und die Atomisierung der Gesellschaft die Planung der individuellen Aktivitaeten enorm erschwert, was zur Eskalation der Affekte fuehrte. Die erhoehte Bereitschaft zum Gewaltanwendung praegte die Verhaltensmuster der Individuen innerhalb und ausserhalb der (para)staatlichen Institutionen, das Leben hatte den Charakter eines Gluecksspiels.
Dieser Hang zum Affekt und die Demonstration der verzweifelten Tapferkeit aeusserten sich beispielsweise waehrend der Pluenderungen der staatlichen Alkohollager im Herbst 1917, die praktisch in allen russischen Staedten stattfanden und das Mass an Misvertrauen der Bevoelkerung dem Staat gegenueber manifestierten. Die seit dem Antialkoholgesetz 1914 in den Staedten akkumulierten riesigen Alkoholmengen eigneten die Stadtbewohner gewaltsam an und kosumierten sie im Laufe von wenigen Tagen.(21) Diese Exzesse waren fuer ihre Teilnehmer nicht ungefaehrlich. Man konnte sich auf dem Gelaende des Alkohollagers in Zisternen mit den Spirituosen ertraenken, wie auch unter dem gebrochenen Eis an den Fluessen und Teichen, die die Behoerden fuer die vergebliche Vernichtung der riesigen Alkoholmengen benutzten; man konnte auch in den in Flammen stehenden Lagergebaeuden unter einer eingestuerzten Decke umkommen. Das alles konnte dennoch die Menge nicht vor der Versuchung zurueckhalten, die seit langem nicht mehr am Markt vorhandenen hochprozentigen Alkoholgetraenke zu beschaffen. Mehr noch: die Teilnehmer prahlten voreinander damit, dass sie alle Schwierigkeiten dafuer ueberwunden haetten.
Die anthropologischen Konstanten der Gewaltbereitschaft wurden von den Teilnehmern und Zeitgenossen des russischen Buergerkriegs auch ?ideologisch? untermauert. Trotz der Differenzen in den Motiven der prominenten Politiker unterschiedlichster Temperamente und der ?kleinen Leute?, die an der Sinnstiftung der Ereignisse in Russland mitarbeiteten, schoepften sie die Deutungsmuster aus demselben Reservoire und benutzten verwandte Sprachen. Das universelle Deutungsmuster war verschwoerungstheoretisch.(22) Die kaempfenden Kriegsparteien konkurrierten in dem Bemuehen, sich selbst und die Bevoelkerung von der Verantwortung fuer die Zustaende im Lande zu befreien und ihre politischen Widersacher fuer die Anarchie in Russland verantwortlich zu machen. Dabei wurde das Konspirationskonzept von allen Seiten ruecksichtslos ausgebeutet. Das im spaeten Zarenreich aeusserst populaere Bild der ?dunklen Maechte? nahm klarere Konturen an, bekam jedoch dabei irritierend viele Gesichter: ?bolschewistische Raeuber? und ?konterrevolutionaere Banditen?, die ?internationale Bourgeoisie? und der ?deutsche Spion? Lenin wurden gleichzeitig beschuldigt, das Land zu zerruetteln. Die ?einfachen Leute" benutzten andere, religioese Bilder, versuchten dabei dennoch genauso, die Verantwortung fuer die Missstaende fremden Kollektiven anzulasten, sei es Kapitalisten, Juden oder Atheisten.(23) Eine Instrumentalisierung dieser Deutungsschablone trug offensichtlich zur Legitimierung der Gewalt bei.
Das rasche Tempo der Aufloesung vormoderner gesellschaftlicher Strukturen und autokratischer politischer Ordnung spielte bei der Eskalation von Gewalt im Buergerkrieg eine anscheinend massgebende Rolle. Sie verursachte eine rapide steigende Verunsicherung bei der Mehrheit der Bevoelkerung, was das gewalttaetige Verhalten ansteigen liess. Zu bedenken auch ist, dass die russische Gesellschaft sich immer noch in der Anfangsphase der modernisierenden Umgestaltung befand. Die gewalttaetigen Traditionen - jede vormoderne Gemeinschaft wird mit Hilfe einer langen Peitsche und eines viel zu kleinen Zuckerbrots verwaltet - hatte sie noch nicht eingebuesst. Mit anderen Worten, die russische Gesellschaft war nicht imstande, die althergebrachten und neu entstehenden Interessengegensaetze friedlich und ?zivilisiert" zu bewaeltigen. Die nicht aufzuhaltende intensive Infiltration der Bauern (spaeter - der Bauernsoldaten) in das staedtische Leben des spaeten Zarenreiches und besonders des fruehen Sowjetrusslands trugen sowohl massenhafter Verunsicherung bei als auch erhoehter Bereitschaft zur Bewaeltigung von Problemen durch Gewaltanwendung.(24)
Aus dem Konstituierungsprozess der Gewaltkultur im revolutionaeren Russland ist auch der 1. Weltkrieg nicht wegzudenken (25). Ob die unmittelbaren Fronterfahrungen bei der Eskalation der Gewalt eine zentrale Rolle spielten, ist bis jetzt nicht klar und eher zweifelhaft. Es steht auf jeden Fall fest, dass der Massenkrieg zur weit verbreiteten Akzeptanz der militaerischen Gewaltanwendung als besonders effektiven Mittels fuer die Losung von Problemen und Konflikten beitrug. Der 1. Weltkrieg wurde fuer manche Frontsoldaten zu einem wichtigen zivilisatorischen und disziplinierenden Faktor. Die russische Armee kultivierte Feinde der ?veralteten? laendlichen Lebensweise, wie die beispiellose Brutalitaet der Bauernschaft gegenueber waehrend des Buergerkrieges und des bolschewistischen ?Kriegskommunismus? zeigt. (26)
Die folgenden Ereignisse der Revolution und des Buergerkrieges haben die Zerstoerung des geregelten Alltags beschleunigt. Der Zerfall der politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur, Mangel an organisatorischen Ressourcen, Defizit an Lebensmitteln und Ausbleiben von zuverlaessigen Informationen riefen die rasche Zunahme der Gewalt hervor, die sich als ein Bestandteil der Archaisierung der russischen Gesellschaft betrachten laesst. Die Gewaltkultur des Buergerkrieges gehoerte verschiedenen Epochen. Sie stammt sowohl aus den von der Mehrheit der Bolschewiki internalisierten partiarchalischen Traditionen der russischen und nichtrussischen Unterschichten,(27) als auch aus den inneffizienten buerokratischen Institutionen, die die Bolschewiki weder eliminieren noch effektiv instrumentalisieren konnten und deshalb die Buerokratie des 19. Jahrhunderts in der primitivsten und chaotischsten Auflage wiederaufgebaut hatten.(28) Die Ineffizienz der Verwaltung versuchte man durch die ausserordentliche Institutionen und Gewalttechniken kompensieren, die europaeische Staate in Kolonialkriegen um die Jahrhundertswende erprobten und im 1. Weltkrieg intensiv einsetzten.(29) Man kann die Gewaltkultur des russischen Buergerkriegs als eine explosive Kombination der (vorwiegend) vormodernen Verhaltens- und Deutungsmustern, der modernen (aber schlecht funktionierenden) Organisations- und Verwaltungsmitteln und der neuesten Mobilisierungs- und Repressionstechnologien verstehen.
***
Zusammenfassend laesst sich folgendes feststellen: Die Entlegenheit der Region von den Machtzentren, die Unterentwicklung der Infrastruktur, die langjaehrige Erfahrung des Ueberlebens in einer permanenten Krise und landschaftliche Besonderheiten beguenstigten im gleichen Masse die Schwaeche jedes Regimes, wie auch einen erstaunlich grossen Spielraum fuer die Gegengewalt und unzaehlige Ueberlebenstechniken. Die Mehrheit der Bevoelkerung lebte in einer ?grauen? Zone, wo die gesetzmaessigen und gesetzwidrigen Verhaltenmuster eng miteinander verwuchsen. Die Kommunisten brauchten noch 10 bis 15 Jahre, um den ?kleinen Leuten? eigene Spielregeln aufzuzwingen, was auch im nachhinein ziemlich problematische und oft genug unerwuenschte Folgen fuer die Machthaber hatte.
Die dauerhaften Auswirkungen der Buergerkriegserfahrungen im Ural auf die folgende Entwicklung sind schwer zu entschluesseln. Sie muenden nicht direkt in die spaetere Geschichte der Region und erlauben keine kausalen Linien zur Stalinzeit. Auf jeden Fall bestaetigten die Jahre des Buergerkriegs manche Stereotypen. Vor allem wurde die Dichotomie ?wir? und ?sie? in Beziehungen zwischen Staat und Bevoelkerung zementiert. Bei den Kommunisten wuchs der Verdacht, die Bevoelkerung sei hoffnungslos traege und rueckstaendig und muesse zum Sozialismus gezwungen werden. Die Bevoelkerung hatte ihrerseits neue Belege dafuer gefunden, dass der Staat immer von aussen kommt, als Raeuber auftritt und sich nur fuer Beute und Rekruten interessiert. Diese Deutungsschablone hat die spaetere Entwicklung Russlands enorm belastet. Sie hat immer wieder Gewaltwellen hervorgerufen, die mit illoyalen Anpassungsmustern erwidert wurden. Das Ausmass des stalinschen Terrors 30er Jahre spiegelte unter anderem den Verbreitungsgrad von der (im Buergerkrieg gefeilten) illoyalen Anpassung der Bevoelkerung wider, (30) die von den Bolschewiki als Klassenkampf interpraetiert und politisiert wurde. Das Gefuehl der Ohnmacht trieb die Bolschewiki immer wieder in die Gewalt. (31). Dieser Teufelskreis wurde viel spaeter und nur teilweise durchbrochen, als breite Kreise von aktiven oder passiven Traegern der Buergerkriegserfahrungen durch staatlichen Zwangseinsatz und partielle Ausrottung diszipliniert wurden und eine neue Generation der in einer ?friedlicheren" Zeit Sozialisierten, eine neue soziale Schichtung und neue kulturelle Codes entstanden. Das aber ist eine ganz andere Geschichte.

Anmerkungen

1. Osvobogdenie Rossii (Perm'), 12. Januar 1919.
2. D. Beyrau, Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, Muenchen 2001; C. Merridale, Steinerne Naechte. Leiden und Sterben in Russland, Muenchen 2001; J. Baberowski, Der Feind ist ueberall. Stalinismus im Kaukasus, Muenchen 2003; J. Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Muenchen 2004.
3. V. Buldakov, Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija, Moskva 1997; O. Figes, Die Tragoedie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998; O. Figes/B. Kolonitskii, Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917, New Haven 1999; A.J. Mayer, The Furies. Violence and Terror in the French and Russian Revolutions, Princeton 2000; I. Narskij: Zizn` v katastrofe: Budni naselenija Urala v 1917 - 1922 gg. Moskau 2001 P. Holquist, Making War, Forging Revolution. Russia?s Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge/Mass. 2002; D.J. Raleigh, Experiencing Russia?s Civil War. Politics, Society, and Revolutionary Culture in Saratov, 1917-1922, Princeton 2002.
4. C. Kuhr-Korolev, St. Plaggenborg, Monica Wellmann (Hg.): Sowjetjugend 1917 - 1941: Generation zwischen Revolution und Resignation, Essen 2001; P. Holquist, Making War, Forging Revolution; J. Baberowski, Der Feind ist ueberall.
5. W. Sofsky, Traktat ueber die Gewalt, Frankfurt/M. 1996; B. Liebich,(Hg.) Gewalt verstehen, Berlin 2003; J. Baberowski, Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Urspruenge des Stalinismus, Berlin 2005.
6. Nicht nur der verheerende Verlauf des Buergerkriegs im Uralgebiet, sondern auch seine vorrevolutionaere Praegungen machen die Region interessant fuer die Representation von UEberlebensstrategien. Der wirtschaftlichen, sozialen und ethnischen Struktur nach war der Ural sehr bunt gepraegt. Dem ?industriellen? und vorwiegend russischen Gouvernement Perm' standen die polyethnischen Territorien des ?baeuerlichen? Vjatka, des ?adligen? Ufa und des ?Kosakengouvernements? Orenburg gegenueber. Ural wurde in zwei Schueben - unter Iwan dem Schrecklichen im 16. Jh., Peter dem Grossen und seinen Nachfolgern im 18. Jh. erobert und kolonisiert. Seit der Mitte des 18. Jhs. wurde ihre Kolonisierung vom Staat nach einem einheitlichen Programm massiv vorangetrieben. So war ein System geschlossener Bergbaubezirke geschaffen worden, die von ihrer Typologie her adligen Erbguetern aehnelten. In der ausgehenden Zarenzeit hatte sich der Ural in eine der problemreichsten und vernachlaessigsten Regionen Russlands verwandelt. Seine Position in der Wirtschaft Russlands wurde von einem maechtigen jungen Konkurrenten - dem industriellen Sueden - betraechtlich geschwaecht. Sowohl die Buntheit der nebeneinander existierenden Lebensbedingungen und Lebensweisen als auch die AEngste der Bevoelkerung wegen der aus ihrer Sicht kontinuierlichen Verschlechterung der Lebensbedingungen erzeugten eine breite Palette der Uеberlebenstechniken, die im Buergerkrieg weitertradiert oder neu modifiziert wurden.
7. N. Katzer, Die weisse Bewegung in Russland: Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Buergerkrieg, Koeln u. a 1999.
8. Naš Ural (Ekaterinburg), 11., 14. Maerz, 3. Mai 1919, Osvobogdenie Rossii, 13, Maerz 1919.
9. Die ausserordentlichen Organe, naemlich die Militaerisch-Revolutionaere Komitees, wurden im Ural, wie auch in anderen von den Bolschewiki 1919 - 1920 zurueckgewonnenen Gebieten, in Unmasse reanimiert. Nach Angaben der letzten Forschungen funktionierten zu dieser Zeit nur im Suedural circa 2000 MRK. Das bildet das Zehnfache der Groessenordnung, mit der die Historiker noch vor 10 Jahren operierten. Vgl. N. F. Bugaj: Chrezvychajnye organy Sovetskoj vlasti: revkomy 1918 - 1921. Moskau 1990, S. 290 - 293; V. S. Kobzov, E. P. Siginskij: Gosudarstvennoe stroitelstvo na Urale v 1917 - 1921 gg. Cheljabinsk 1997, S. 125.
10. Kolchakovtschina na Urale (1918 - 1919 gg.): Dokumenty i materialy, Sverdlovsk 1929, S. 33.
11. Diese Einteilung hatte keine Entsprechungen in der Sprache der Zeitgenossen und soll mit den spaeteren offiziellen politischen Kategorien ?vydvigency", ?poputtschiki" und ?lischency" nicht verwechselt werden, die vom Staat fuer Privilegierung und Ausgrenzung instrumentalisiert wurden.
12. Zu diesen Gruppen waehrend des Wesltkrieges und der Revolution in Russland sieh: V. Buldakov, Krasnaja smuta. S.81 ? 102, 119 - 139;P. Gatrell, A Whole Empire Walking. Refugees in Russia During World War I, Bloomington/Ind. 1999; E. Lohr, Nationalizing the Russian Empire. The Campaign Against Enemy Aliens During World War I, Cambridge/Mass. 2003; R. Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918 : Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt/M. 2004.
13. Einen extremen Fall, aber keineswegs eine Ausnahme bildete der Militaerkommissar und Leiter des Kreiskomitees der Kommunistischen Partei im Kreis Sarapul (Gouvernement Vjatka) I. Sedelnikov - ein junger Mann aus einer wohlhabenden Schusterfamilie und ehemaliger Unteroffizier. Er notierte in sein Tagebuch im Sommer 1918 in Moskau waehrend der Konferenz der Militaerskommissaren und zwei Monate vor seiner Hinrichtung durch die aufstaendischen Arbeiter: ?Unsere Regierung faengt an zusammenzubrechen. UEbrigens, zum Teufel die ganze Politik. Wie gerne wuerde ich reich sein, um mindestens einige Tage lang die Umarmungen der schoenen Frauen zu geniessen, die ich durch mein Fenster sehe. Ich schaffe das. Ich werde reich. Nur schnell weg aus Moskau, sobald diese dumme Konferenz vorbei ist. Da, im Sumpf der Provinz, werde ich mich schnell bereichern, und wenn es mir schlecht geht, - veranstalte ein Abenteuer mit Geld, wie der Militaerkommissar von Tambov. So ein Glueckspilz: er hat 12 Mio. kassiert. Ich kann das auch, und dann verschwinde ich. Ich fliehe dorthin, wo mich niemand kennt, nehme einen neuen Namen und werde das Leben geniessen". Zitiert nach: I.Narskij, Gizn? v katastrofe, S.446.
14. Podschivaliv: Gragdanskaja bor?ba na Urale. 1917-1918 (Opyt voenno-istoritscheskogo issledovanija), Moskau 1925, S. 178.
15. O. Figes, Die Tragoedie eines Volkes, S. 638-662; I. Narskij, Gizn? v katastrofe, S. 461 ? 497.
16. O. Figes, Die Tragoedie eines Volkes, S. 100 ? 122; D.J. Raleigh, Experiencing Russia?s Civil War, S. 312-347.
17. I.Narskij, Gizn? v katastrofe, S. 389, 495 ? 496.
18. Ebenda, S. 107, 124, 367, 358 ? 361, 368, 371, 372, 365, 366, 490, 556.
19. H. Haumann, Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang, in: C. Kuhr-Korolev, St. Plaggenborg, M. Wellmann (Hg.): Sowjetjugend 1917 - 1941, S. 28 ? 30..
20. N. Elias, Uеber den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1997, Bd. 2, S. 332 ? 333.
21. Narskij, ?Pjanaja revolucija": naselenie i alkogol? na Urale v 1917 g., in: Ural v sobytijach 1917 ? 1921 gg.: aktualnye problemy izu&tschenija, Cheljabinsk 1999, S. 193 - 212.
22. Dieter Groh: Die verschwoerungstheoretische Versuchung oder Why do bad things happen to good people? In: Ders. (Hg.): Anthropologische Dimension der Geschichte. Frankfurt/M. 1992, S. 267 - 304.
23. Allmaehlich beherrschte die Bevoelkerung das bolschewistische Vokabular, was ein unerwuenschtes Ergebnis fuer die Machthaber verursachte. In den Jahren nach dem Buergerkrieg war in breiten Schichten die Idee populaer, das die Sowjets und die kommunistische Partei von den Weissgardisten beherrscht sei. Sieh I. Narskij, Buergerkrieg ? zur Konstruktion eines Gruendungsmythos im fruehen Sowjetrussland (Ural 1917-1922), in: N. Buschmann/D. Langewiesche (Hrsg.) Der Krieg in den Gruendungsmythen europaeischer Nationen und der USA, Frankfurt am Main 2003, S. 320-330.
24. J. Neuberger, Hooliganism : Crime, Culture and Power in St. Petersburg, 1900 ? 1914, Berkeley, Calif. 1993.
25. D. Beyrau, Der Erste Weltkrieg als Bewaehrungsprobe. Bolschewistische Lernprozesse aus dem ?imperialistischen? Krieg, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 96-123.
26. Narskij, Frontovoj opyt russkich soldat 1914-1916 gg., in: Socium i vlast? 4 (2004). S 102-110.
27. J. Baberowski, Der rote Terror, S. 204 ? 207.
28. H. Altrichter, Staat und Revolution in Sowjetrussland : 1917 - 1922/23. 2. Aufl. . - Darmstadt 1996.
29. P. Holquist, Making War, Forging Revolution; D. Beyrau, Der Erste Weltkrieg als Bewaehrungsprobe, S. 96-123
30. I.Narskij, Gizn? v katastrofe, S. 567.
31. J. Baberowski, Zivilisation der Gewalt, S. 5.

Read comments (3)

URC FREEnet

coordinators of the project: kulthist@chelcom.ru, webmaster: