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Archive - Der Ural im russischen Buergerkrieg - Comments

Igor Narskij - 23.10.2007 13:45
Liebe Teilnehmer des Internet-Seminars,

ich freue mich sehr, dass mein Text eine rege Diskussion hervorrief, und bedanke mich vom Herzen fuer mehrere anregende Bemerkungen und Fragen. Dass meine Antworte mit einer unverschaemten Verzoegerung kommen, bitte ich, mir zu verzeien. Das liegt teilweise daran, dass es fuer mich nicht nicht einfach war, Ihre Fragen eindeutig zu beantworten. Vor mehreren Fragen stehe ich bis jetzt ratlos. Ich versuche weiter die Fragen und Kritik zu summieren und aufsolche Weise einige Themen kurz einzugehen, die ich sehr wichtig finde.

Das erste Thema betrifft das Problem der Gewalt. Ich betrachte Gewalt ? egal, ob ?von oben? oder ?von unten? ? als ein Instrument der Identitaetsstiftung, als eine Moeglichkeit, zwischen dem ?Eigenen? und ?Fremden? zu unterscheiden und das Wahrnehmen und (gewalttaetige)Verhalten zu legitimieren.

Ein autonomes Thema bildet die Gewaltkultur. Dieser Begriff scheint unsinnig, solange man von der normativen ?hohen Kultur? ausgeht. Wenn man aber Kultur soziologisch und ethnologisch als ein Instrument der Sinnstiftung betrachtet, das das alltaegliche Verhalten konstituiert, kann dieser Begriff fuer die Gewaltforschung effizient benutzt werden. Leider war das in meinem Text nicht der Fall. Ich sehe ganz klar, dass meine These von der baeuerlichen Rueckstaendigkeit und Brutalitaet dem alten Diskurs der (nicht nur russischen) Intellektuellen gehoert, sehe aber bis jetzt keinen Ausweg aus dieser ?intellektuellen Gefangenschaft?.

Ein wichtigen Diskussionspunkt machten meine drei Kategorien Aktivisten, Mitlдufer und Aussenseiter aus. Die sind nicht neu und wahrscheinlich fuer jede Gesellschaft - auch in einem friedlicheren Zustand als der russische Buergerkrieg ? anwendbar, scheinen mir aber im russischen Fall effizient den ozialen Chaos zu beschreiben. Ich bin weit davon entfernt, irgendeine professionelle oder ethnische Gruppe fest einer von drei Kategorien zuzuschreiben. Die Grenzen zwischen Aktivisten, Mitlдufer und Aussenseiter waren durchlaessig und Individuen und Gruppen pendelten staendig zwischen den Positionen.

Das Verhaeltnis zwischen den Individuen und Strukturen blebt eine offene Frage, die seit Jahrzehnten zur Kampfparole fuer Anhaenger der Sozial- und Kulturgeschichte wurde. Meine Vorwiegenden Aufmerksamkeit zum Individuellen erklaert sich sowohl durch die Fragestellung und Umfang des Textes. Ich bin Anhaenger des Gleichgewichtes des Individeullen und Strukturellen. Ich gehe davon aus, dass die objektive Wirklichkeit der Instituten und die subjektive Wirklichkeit des Wahrnehmen und Verhalten einander konstituieren und unterstuetzen. Aus diesem Grund ist es wenig produktiv, die beiden Bereiche einzeln zu betrachten und getrennt zu forschen.

Zum Schluss moechte ich nochmals meinen herzlichen Dank den Teilnehmern der Diskussion aussprechen. Ich habe daraus viel gelehrnt. Einen ausfuehrlicheren Verlauf der Diskussion finden Sie auf der russischsprachigen Seite.

Arbeitsgruppe (Basel) - 04.09.2007 15:25
Lieber Igor
Die Diskussion mit den Studenten und Joern ueber Deinen Text ?Der Ural im russischen Buergerkrieg. Gewaltformen und UEberlebensstrategien? war sehr interessiert und spannend. Bevor ich auf die Diskussionspunkte eingehe, moechte ich als allgemeinen Eindruck von den Studierenden festhalten, dass ihnen Dein Text gut gefallen hat, vor allem der Ansatz, den Buergerkrieg als Geschichte ?von unten? zu betrachten. Einige der Studierenden fanden den Text etwas schwierig, da ihrer Meinung nach relativ viel Vorwissen notwendig war, um alles verstehen zu koennen.
Als erstes haben wir in der Diskussion danach gefragt, was Gewalt ueberhaupt ist und welche Faktoren Gewalt sowie ihre Reproduktion beguenstigen. Als Gewalt ausloesende und reproduzierende Faktoren wurden der Erste Weltkrieg, die fehlende Ordnung und das Verschwinden der Polizei als UEberwachungs- und Ordnungsorgan identifiziert. Daran anknuepfend kamen wir ueberein, dass, wenn der Staat schwach oder inexistent ist, die Menschen auf sich selbst angewiesen sind. Der Wegfall der staatlichen und polizeilichen Ordnung hat eine Verrohung der Menschen zur Folge. Gewalt kann somit als im Gegensatz zur staatlichen und polizeilichen Ordnung stehend verstanden werden. Gewalt hat einen positiven wie auch negativen Charakter: Positiv als staatlich legitime Gewalt, welche gewisse Ordnung schafft und garantiert. Negativ als unkontrollierte und grausame Gewalt, um eine andere Meinung, Ordnung und Macht durchzusetzen. Stimmten wir in der Diskussion mehrheitlich darueber ein, dass kollektive Gewalt von den Individuen ausgeht, so gab es heftige Debatten, inwiefern es moeglich ist, in extremen Bedingungen aufgrund von ethischen Grundsaetzen auf Gewalt nicht mit Gegengewalt zu reagieren. Ein anderer umstrittener Punkt bildete die Frage, wo der Kreislauf der Gewalt beginnt. Einige der Studierenden stimmten Deiner vorgebrachten These, dass die gewalttaetigen Verhaltensmuster vor allem vom Lande kamen und von den Bauern getragen wurden, zu. Andere Studierende argumentierten hingegen, dass die Brutalisierung nicht einzig auf die Bauern zurueckzufuehren sei, sondern dass auch beim Adel Gewaltpotential und gewalttaetige Verhaltensmuster vorhanden gewesen seien. Andere meinten wiederum, dass die groessere Gewaltbereitschaft nicht nur bei den Bauern zu finden gewesen sei, sondern allgemein in den Unterschichten. Daran anknuepfend diskutierten wir auch den Begriff der Gewaltkultur. In diesem Zusammenhang stiessen wir relativ schnell auf das Problem, wie der Begriff Kultur zu definieren sei. Die einen Studierenden verstanden Kultur als etwas Althergebrachtes, Traditionelles. Wenn von Gewaltkultur gesprochen wird, so setze dies eine gewisse Kontinuitaet und Tradition von Gewalt voraus. Aus diesem Grund wuerden sie den Begriff Gewaltkultur eher ablehnen. Andere Studierende verstanden hingegen Kultur auch als situativ. Dementsprechend fanden sie den Begriff Gewaltkultur gut anwendbar.
Ein weiterer interessanter und rege diskutierter Punkt bildete die Definition der drei Kategorien Aktivisten, Mitlaeufer und Aussenseiter. Die Studierenden bemerkten dabei, dass die Kategorien einerseits durch die soziale Stellung und Herkunft (Nationalitaet), andererseits durch die politische Haltung und Aktivitaet definiert sind. Diesen Aspekt fanden sie sehr spannend, gut anwendbar und sinnvoll. Das Raster (Aktivisten, Mitlaeufer, Aussenseiter) koenne, so die uebereinstimmende Meinung in der Diskussion, auch sehr gut zur Analyse menschlichen Verhaltens in anderen Situationen/ Laendern verwendet werden. Ein Punkt, der uns in der Diskussion besonders interessierte, war die Frage nach der Durchlaessigkeit dieser drei Kategorien. Inwiefern war es zum Beispiel moeglich, von der Kategorie Aktivisten zur Kategorie Mitlaeufer zu wechseln? Wie eindeutig ist die Einteilung in eine Kategorie? Ist eine Person eindeutig einer Kategorie zu zuordnen oder ist sie nicht je nach Situation einer anderen Kategorie zugehoerig?
Als letzten Punkt diskutierten wir ueber die Perspektive der Geschichtsschreibung ?von unten?. Alle Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass die Geschichtsschreibung ?von unten? etwas sehr spannendes sei, aber dass die Verbindung zwischen Individuum und Strukturen unbedingt notwendig sei. Die Betrachtung der Geschichte ?von unten? eroeffne neue Perspektiven und trage zum Verstehen der Strukturen bei, aber, so die uebereinstimmende Meinung, das Handeln der Individuen sei nur verstaendlich, wenn auch die Strukturen bekannt seien.

Heiko Haumann - 04.09.2007 15:19
Igor' Narskijs Aufsatz zeigt in beeindruckender Weise, wie der Blick vom Menschen aus zur Differenzierung historischer Betrachtung beitraegt. Deutlich wird, wie sehr Gewalt und Leid den Alltag beherrschen. Doch wesentlich praeziser als bei Studien, die von der Gewalt als einem Strukturmerkmal der Geschichte Russlands ausgehen, erfahren wir die Vielschichtigkeit der Gruende, die zur Gewalt fuehrten. Methodisch koennen wir von diesem Beitrag viel lernen.

Insgesamt finde ich die Ausfuehrungen einleuchtend. Weitere Forschungen halte ich fuer notwendig, um zu klaeren, in welchem Ausmass gewalttaetige Verhaltensmuster vom Land in die Staedte kamen (S. 9-10). Aufgrund der traditionell regen Fluktuation zwischen Stadt und Land waere zu ueberpruefen, ob es hier nicht laengerfristige Wechselwirkungen gegeben hat. Ebenso muessten vertiefende Forschungen noch den Zusammenhang von patriarchalischen Traditionen der Unterschichten und Gewalt praezisieren (S. 14).

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