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Staedtische Kinderraeume in Cheljabinsk

22.03.2007, 14:05

Staedtische Kinderraeume in Cheljabinsk waehrend der Tauwetterperiode,
1953-1964.

Larisa Konovalova (Cheljabinsk)

Themenstellung
Nachdem Philippe Aries sein monumentales Werk Geschichte der Kindheit schon im Jahr 1962 publiziert hatte, entwickelte sich die Kindheitsgeschichte im Verlauf der 1980er Jahre immer mehr zu einem produktiven Zweig der Geschichtswissenschaften (1). Heute sehen zahlreiche Vertreter der modernen Sozial- und Kulturgeschichte in ihr ein interessantes Forschungsfeld, dessen Untersuchung sich an Studien zur Geschlechter-, Familien-, Stadt-, Mentalitaets- und Bildungsgeschichte anschliesst und sich vielfach mit ihnen ueberschneidet (2). Kindheitsgeschichte ist laengst kein Modetrend mehr. Die Sozialwissenschaftler sehen bei der Betrachtung der kultur- und zeitspezifischen Ausformung von Kindheit den Weg zum Verstaendnis wichtiger Gewalt- und Machtverhaeltnissen. Einer der wichtigsten Kriterien von Modernisierungs- und Zivilisationsprozessen ist der gesellschaftlicher Umgang mit Kindern und seine Veraenderung. Kinder werden nicht geboren; sie werden durch Staat, Gesellschaft und Familie geformt und so zu Maedchen und Jungen gemacht (3). Wer den Veraenderungen kindlicher Sozialisation und Identitaetsformung nachgeht, eroeffnet sich Moeglichkeiten zur ?Entschluesselung von Gesellschafts-geschichte?(4). Die Kindheitsgeschichte besitzt zum einen auf ein innovatives Potential, weil sie ueblicherweise von Historikern selten beruecksichtigte Themen in Mittelpunkt stellt und damit neue Perspektiven erschliesst. Zum anderen enthaelt sie integratives Potential als ein Prisma, dadurch sich zahlreiche Grundfragen buendeln und unterschiedliche Forschungsmethoden produktiv zu einer Gesamtanalyse verbinden lassen.

Kindheit fand im Zeitalter der industriellen Moderne des 20. Jahrhunderts im wachsenden Mass in Grossstaedten statt. Das vorliegende Projekt nimmt darum urbane Kinderraeume in den Blick. Darunter verstehen wir die lebensgeschichtlichen, als auch dauerhaft erfahrungsvorgepraegten gesellschaftlichen Handlungsraeume, in denen Kinder sich sozialisieren und ihre Identitaet ausbilden. Dazu gehoeren erstens oeffentliche, vielfach speziell fuer Kinder zugeordnete Lern- und Lebensraeume, zweitens private bzw. halboeffentliche Rueckzugsraeume (familiaer-nachbarschaftlich orgnisierte Orte) und drittens ? soziale Grenzraeume, die weitgehend dem staatlichen Zugriff entzogen sind und in denen Kinder auf marginale Gruppen treffen und die Schattenseite der offiziellen Weltbild beobachten und ihre eigenen Erfahrungen davon machen. Dabei geht es nicht um eine harmonisierende Vorstellung von einer in sich abgeschlossenen Kinderwelt, die der Welt der Erwachsenen, dem Gesellschafts- und Herrschaftssystem entgegen gestellt wird. Die Forschungsinteresse liegt vielmehr in der Richtung von vielfaeltigen Verbindungen und Einbindungen kindlicher Handlungsorte in das allgemeine gesellschaftliche und politische Leben.
Ziel des Projektes besteht darin, um sowjetische Kindheitsgeschichte als Stadtgeschichte zu schreiben (5). Urbanisierung wird deshalb als umfassender gesellschaftlicher Veraenderungsprozess verstanden, in dem sich durch die bauliche Expansion und Verdichtung des staedtischen Lebensraums die Bedingungen fuer soziales Handeln massgeblich veraenderten. Laut staedtischen Bau- und Sanierungsplaenen wurde eine neue modernisierte Stadtlandschaft geschaffen, in der der urbane Raum in spezialisierte und klar voreinander abgetrennte Teilraeume geordnet wurde. Wesentliche Offenbarung dieses Prozesses war die ?Vertreibung der Kinder von der Strassen der grossen Staedte?(6). Die Lebenswelt der Kinder wurde zunehmend in besonders geschuetzte Raeume hineinverlagert, um die Kindern einerseits vor allen Gefahren des Grossstadtlebens zu sichern und andererseits an diesen verinselten Orten besser kontrollieren und erziehen zu koennen.

Anhang der sowjetischer Geschichte will das Projekt ueberpruefen, wie weit und auf welchen Wegen der Prozess ?vom Strassenkind zum verhauslichten Kind? (7) waehrend der Tauwetter-Periode vorangeschritten war. Angesichts des in der Sowjetunion stark ausgepraegten kollektiven Sozialisationsstils, dem Vorgang der Kollektiv- vor der Familienerziehung waere es auch interessant die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West zu zeigen, damit die historisch- kulturelle Variationsbreite von Kindheit in den Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts naeher zu bestimmen.

Das Projekt sieht in Kinder nicht blosse Objekte der staatlichen und gesellschaftlichen Formung, sondern eigenstaendig handelnde Subjekte und historische Akteure, die ihre Interessen und Beduerfnisse auf ihre besondere Art und Weise verfolgten. Natuerlich erlebte soziales Handeln von Kindern einen indirekten Einfluss. Innerhalb des gesellschaftlich gesetzten und paedagogisch vorstrukturierten Rahmens ertrotzten sich Kinder aber oftmals bemerkenswerte Spielraeume und Handlungskompetenzen.

Unser Projekt st eine Lokalstudie, die auf die Geschichte der im suedlichen Ural gelegenen Industriestadt Cheljabinsk eingeht. Dank der kriegsbediengten Ostverlagerung der Fabrikproduktion stieg Cheljabinsk waehrend der 1940er Jahre zu einem bedeutenden Standort der sowjetischen Ruestungs- und Schwerindustrie auf. Die Einwohnerzahl stieg von 273.000 ? in 1939 auf 689.000 ? in 1959 (8). In der Tauwetterperiode erlebte die Stadt einen weiteren massiven Urbanisierungsimpuls durch die forcierte Zuwanderung zahlreicher Landbewohner. Cheljabinsk ist besonders fuer eine Fallstudie forschungsattraktiv, weil sich an seiner Geschichte lokale Besonderheiten hinaus typisch fuer zahlreiche sowjetische Industriezentren beschreiben lassen. Waehrend der 1950er und 1960er Jahren ging in Cheljabinsk die forcierte Industrieproduktion mit einem beschleunigten Massenkonsum, einen expandierenden Wohnungsbau und einer immer ausgepraegteren staedtischen Kultur- und Dienstleistungsarbeit einher. In diesen beiden Jahrzehnten nahm das urbane Cheljabinsk weitgehend Gestalt an. Zentralisierte Ent- und Versorgungssysteme, ein ausgreifendes oeffentliches Nahverkehrsystem, der Bau von Sport-, Kultur- und Ausbildungsstaetten schufen neue Lebensraeume und leiteten unter den ideologischen Vorzeichen des ?umfassenden Aufbaus des Kommunismus? allmaehlich den Uebergang zu einer erziehungsintensiven Wissens- und Leistungsgesellschaft ein (9).

Forschungskontexte

Das vorliegende Projekt will sowohl einen Beitrag zur Geschichte sowjetischen Kindheit, als auch einen zu den neuen Forschungen zur Entstalinisierung und Tauwetterperiode leisten. Fuer die Zeit der 1920er und 1930er Jahre liegen einige gute Einzelstudien zur Geschichte sowjetischer Kinder vor (10). Es gibt ausserdem zeitlich uebergreifende Darstellungen, die sich vor allem mit allgemeinen politischen Fragen, der sowjetischen Paedagogik, mit Schule, Familie und Freizeit beschaeftigen (11). Zeitgenossische Forscher versuchen auch kindliche Lebenswelten in der Sowjetzeit und nach dem Zerfall des Sowjetimperiums zu erfassen, der trotz Zugaenge der neusten Kindheitsforschung und lebensgeschichtlicher Interviews vieles offen laesst. Recht gut erforscht ist die sowjetische Kinderliteratur (12). Zudem haben zahlreiche Angehoeriger der sowjetischen ?Tauwetter-Generation? in publizistischer Form ihre Kindheitserinnerungen veroeffentlicht. Einzelne Aspekte sind interessant; aber diese Kindheitszeugen stellen eigene Vergangenheit doch mit nostalgischem Idealisierungsgefuehl dar, so dass vieles verklaert wird (13).

Die Geschichte der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft und der Entstalinisierung steht seit einigen Jahren im Mittelpunkt der Sowjet-Forschung (14). Dabei haben einige Arbeiten gezeigt, dass sich ueber die Jugend- und Kindheitsgeschichte ein interessanter Blick auf die sowjetische Gesellschaft und Kultur waehrend der 1950er und 1960er Jahre eroeffnet. Er macht mehrere Aspekte der Chruschtschowschen Politik deutlich, die bislang nicht in Betracht bei Historiker gezogen waren. Das ist vor allem die Frage des Eingriffsniveaus des sowjetischen Parteistaats waehrend dieser Reformzeit mit seiner ?interventionstischen? Sozialpolitik in de Lebenswelten seiner Untertanen ergreifen wollte, um das ?verwaltete und organisierte Sowjetkind ? als Vorstufe des ?neuen Menschen der kommunistischen Gesellschaft? zu erschaffen (15).

1. Themenfeld: Herrschaftliche Konstruktion von Kinderraeumen
Bei diesem ersten Themenfeld geht es darum zu zeigen, durch welche Disziplinanstalten und Sozialisationstechniken, ideologische Diktate und diskursive Strategien kindliche Lebenswelten in
Cheljabinsk organisiert und paedagogisiert wurden, wie der sowjetische Parteistaat unter den Vorzeichen der Tauwetterpolitik seine Autoritaet und Macht anwandte, um umfassenden Zugriff auf die Kinder und zugleich ihrer Eltern zu erhalten. Zuerst sind die staatlichen, parteilichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen zu beschreiben, die Kinderraeume schufen und damit auch die soziale Regel ueberwachten, die weitgehend die Tagesroutine der Kinder bestimmten. Dazu zaehlten:
1. die Schule nicht nur als Bildungsanstalt, sondern auch as umfassender Organisator des ausserschulerischen Freizeitlebens;
2. die ?Oktobristen? (oktjabrjata) und ?Jungen Pioniere? (pioneri) als die Nachwuchsorganisation der kommunistischen Partei, die mit ihrem moralischen Kodex die Verhaltensmustern und Zukunftsorientierug der Schulkinder beeinflusste und Loyalitaet zu den Zielen der Partei erzwingen sollte. Die Ortsgruppen der ?Oktobristen? (oktjabrjata) und ?Jungen Pioniere? (pioneri) waren tief in die Schulorganisation eingedrungen, um so zahlreiche Kinderaktivitaeten koordinieren zu koennen. Mittelpunkte des staedtischen ?Pionierleben? waren die in Cheljabinsk zumeist waehrend der Nachkriegszeit gegruendeten ?Haeuser der Pioniere?;
3. die Fabriken, die als umfassender social organizer mit ihren Gewerkschaftskomitees, Kulturpalaesten (dworci kulturi), Klubs, Sportstaetten, Erholungsheime (Pionierlager) und weitere Freizeiteinrichtungen fuer Kinder unterhielten;
4. die ausserschulerischen Bildungszirkel (krugki) wie z. B. ?Klub junger Techniker?, der ?Klub der zukuenftigen Kosmonauten? und der ?Klub der jungen Naturalisten?, die zahlreiche engagierte Mitglieder hatten, weil sie angeleitet von erfahrenen Paedagogen uber finanzielle Mittel verfuegten, um den Kindern interessante Freizeitangebote zu machen;
5. die gesellschaftlichen Organisationen wie ?Elternkomitees?, ?Frauenkomitees? und ?Hofkomitees?, die waehrend der Tauwetterperiode immer mehr Kompetenzen bekommen hatten, um eigenverantwortlich als Nachbarschaftsverband die Gestaltung von Kinderraeumen wie Spielplaetzn zu uebernehmen. Dabei bildeten sich ?lokale Waechters-gruppen? (16) aus. Erwachsene Funktionstraeger wie Hauswarte und Komiteevorsitzende (oftmals Rentner, Hausfrauen, aeltere Schueler und Studenten) haben sich selbst berechtigt, Kinder in ihrem naeheren Umkreis massregeln und bestrafen zu duerfen. Sie vermitteln den Kindern oftmals in handfester Weise die Normen des erwachsenen Zusammenlebens. In Auseinandersetzung mit ihnen erfuhren die Kinder oftmals ihr Ausgeliefertsein an die erwachsene Uebermacht. Zugleich kam es zu Formen kindlicher Solidaritaet und subversiver Kooperation, um selbstherrliche ?Raumwaechter? auszutricksen und sich ueber Verbote hinweg zu setzen (17).
Im weiteren wird das diskursive Feld der sowjetischen Kinderpolitik naeher zu erforschen. Der Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung der Medien und Vermittlungsstrukturen, der Sprache, Bilder und Symbole, mit denen der sowjetische Parteistaat Kinder zur Anpassung erziehen und Einfluss auf ihre Identitaetsformung nehmen wollte. So gab es in Cheljabinsk wie in anderen sowjetischen Grossstaedten zum einen fortgesetzte moralische Kampagnen. Sie zielten darauf, mit Prozessen Hygienisierung neue Masstaebe fuer Sauberkeit und Gesundheit zu setzen und Kinder sowie Eltern zu einer modernen staedtischen Lebensweise, zu einer ?kultivierten Erholung? in urbanen Raeumen anzuhalten. Andererseits wurden die Kinder unter den Vorzeichen des Kalten Kriegs immer wieder in offizielle politische Initiativen wie ?Friedens- ? und ?Freundschaftskampagnen? eingebunden (18). Diese Integration in die offizielle Politik ausdruckte die steigenden Erwartungen und Anforderungen des sowjetischen Parteistaats an das soziale Verhalten der Kinder. Zudem erkannten die Eltern die bestimmten Verhaltensstandards, die ihren Kindern den zukuenftigen gesellschaftlichen Aufstieg ermoeglichten und denen auch sie sich nachzufolgen hatten. Die verbesserte Sorge um das Kind uebte so gleichfalls starken Konformitaets- und Disziplinierungsdruck auf die Elterngeneration aus. Der offizielle Diskurs um das ?Wohl des Kindes? zielte im gleichen Masse darauf, Kinderraeume herrschaftlich zu konstituieren wie die Welt der Erwachsenendurch neue kulturelle Selbstverstaendlichkeiten zu ordnen.

2. Themenfeld: Der Alltag in den Kinderraeumen

Hier geht es um die Beschreibung der Lebensbedingungen der Kinder in Cheljabinsk, wie die im pulsierenden, oftmals chaotisch gestalteten urbanen Raum die Konstruktion kindlicher Lebenswelten sowohl als Bedrohung als auch als Chance empfunden wurde. Der alltagsgeschichtliche Blick zeigt, dass der realer staedtische Kinderalltag gepraegt von zahlreichen Defiziten und Missstaenden war. Obwohl die offizielle Propaganda stets verkuendete, die Sowjetkinder erlebten die gluecklichste Kindheit auf der Erde, stellte sich die Wirklichkeit in Cheljabinsk voellig anders dar. Viele Familien erlebten oftmals den Mangel an Kinderkleidung und Kindernahrung; die in herrschaftlich gestalteten Kinderraeumen als nebenseitige Kleinigkeiten oder als oertliche Schwierigkeiten dargestellt wurden. Angesichts zahlloser Probleme und knapper Mittel wurden die ehrgeizigen Bildungs-, Kultur- und Sozialprogramme nur teilweise realisiert. Kinder und Eltern ausserten zunehmend ihren Unmut, dass der Parteistaat seinen Versprechungen nicht nachkam und sie vielfach sich selbst ueberlassen blieben. Am Kinderalltag lassen sich nicht nur anschaulich die ersten Erfolge und die fortgesetzten Unfertigkeiten sowjetischer Urbanisierung darlegen, sondern auch aufzeigen, welche Strategien Kinder und Eltern entwickelten, um die draengenden Probleme des Alltags zu loesen und sich in der expandierenden Industriestadt Cheljabinsk zurecht zu finden.

3. Themenfeld: Die Grenzen der Kinderraeume

So wichtig die herrschaftlich konstruierten Kinderraeume waren, Sozialwissenschaftler und Historiker fragen stets danach, wie sich Kinder ohne Anweisung von den Erwachsenen und von ihnen geschuetzten Handlungsorte, eigensinnig staedtische Aktionsraeume angeeigneten, die kaum fuer Kinderspiele gestalten und damit voller Gefahren und Herausforderungen waren. In den raschentwickelnten Industriestaedten der Nachkriegsjahrzehnten draengten Kinder aus den beengten Wohnungen nicht nur in die Hoefe und auf die Spielplaetze, sondern auch zu den noch verwilderten, unbebauten Grundstuecken in der Umgebung ihres Wohnorts. Dort koennten sie ohne den kontrollierenden Blick der Erwachsenen handeln. Dabei machten sie in diesen herrschaftlich kaum durchdrungenen und erschlossenen Raeumen vielfaeltige auch widerspruech-liche Erfahrungen mit sozialen Randgruppen, die kaum in das offizielle Welt- und Gesellschaftsbild passten. Hier erwarben Kinder nicht nur neue Handlungskompetenzen, sondern oftmals auch moralisch zweifelhaftes Wissen und eigneten sich verwerfliche Gewohnheiten (Fluchen, Trinken, Rauchen etc.). Das bereitete Eltern, Paedagogen und den Behoerden des Parteistaats grosse Sorge, so dass sie versuchten, diese Form ungewollter Kontaktaufnahme zu unterbrechen.

Zu den kindlichen Grenzerfahrungen gehoerte auch die Strasse. Sie war in den Staedten ein prinzipiell gefaehrlicher fuer Kinder Lernort und Erfahrungsquelle, wie man sich mit den Risiken der urbanen Alltagsleben umzugehen muss. Auf der Strasse waren Kinder kleine Stadtbewohner, die sich in die Welt der Erwachsenen behaupten, sich ihren Beduerfnissen und Interessen anzupassen hatten. Die Strasse bot aber stets auch einen Raum zum selbstbestimmten Spielen und neu-gierigem Herumstreifen. Oftmals bildeten sich hier spontan, ohne aeusseren Einfluss kindliche Gemeinschaften (?Banden?), die nach eigenen Regeln funktionierten und fuer das Selbstverstaendnis der Kinder von grosser Bedeutung waren und auf primaerer Autoritaet besassen.

Jenseits der herrschaftlich geordneten Kinderraeume lebten marginale Kindergruppen, die vom offiziellen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren bzw. eine Randexistenz fuehrten. Dazu zaehlten in Cheljabinsk waehrend der 1950er und 1960er Jahre beispielweise die Kinder als sektanty gebrandmarkter deutschstaemmiger Familien, die sich zu den damals von den Stadtbehoerden heftig bekaempften evangelikanischen Glaubensgemeinschaften (Pjatidesjatniki) bekannten (19). Zu den marginalisierten Kindergruppen gehoerten auch Waisenkinder und Kinder aus sozial gefaehrdeten Familien, deren Eltern vielfach die Erziehungsbereichtigung entzogen worden war. Dem weiteren gab es in Cheljabinsk ?Kinderbanden?, die sich als Unruhestifter und Randalierer des ?Hooliganismus? schuldig machten und deshalb strafrechtlich verfolgt wurden. Diese doppelte Sicht von unten, aus der Sicht von Kindern und von Angehoerigen staedtischer Randschichten eroeffnet einen interessanten Blick auf Schattenseiten staedtischen Lebens, um nicht nur die begrenzten Kinderraeume, sondern auch die Grenzen politischer Macht und Herrschaft naeher zu bemessen.

Quellen
Das Projekt ist der Versuch, erstmals anhand einer breiten Quellenbasis eine empirisch dichte Beschreibung lokaler staedtischer Kinderwelten vorzulegen. Ausgewertet werden sollen
6. lokale Zeitungen und Zeitschrifften wie Cheljabinskij Rabochij, Stalinskaja Smena,1957 unbenannt in Komsomolec (Zeitung des Komsomol), Vogatij (Zeitung der Pionierorganisation) und Semja i Schkola;
7. Werke lokaler Schriftsteller;
8. Memoiren und Erinnerungen von Paedagogen und Funktionstraegern;
9. offizielle Anweisungsliteratur;
10. publizierte und unpublizierte Fotos;
11. Dokumente aus dem Staatlichen Archiv des Gebiets Cheljabinsk (abgekuerzt OGAChO), hier vor allem die Bestaende der Partei-, Komsomol- und Pionierorganisationen, Akten zur Stadtplanung und zur Kulturarbeit;
12. Dokumente aus dem Archiv des ?Zentralen Hauses der Pioniere und Schueler namens Krupskaja? in Cheljabinsk;
13. Dokumente aus Zeitungsarchiven (bes. Auswertung der Leserbriefe);
14. Dokumente aus verschiedenen Schularchiven (Wandzeitungen, Protokolle von Elternsitzungen, Korrespondenz der Schule und Schueler mit anderen Behoerden und Personen);
15. evt. lebensgeschichtliche Interviews.

Anmerkungen

1. Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, Muenchen 2003 (Erstausgabe 1976).
2. So schon Juergen Schlumbohm, Geschichte der Kindheit ? Fragen und Kontroversen, in: Geschichtsdidaktik 8 (1983) S. 305-315. Zuletut A. R. Collin, A History of Children. A Socio-Cultural Survey Across Millenia, Westport 2001; Colin Heywood, A History of Childhood. Children and Childhood in the West from Medival to Modern Times, Cambridge 2001; Paula Fass (Hg.), Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society. 3 Bde, New York 2004.
3. Donata Elschenbroich, Kinder werden nicht geboren. Studien zur Entstehung der Kindheit, Bensheim 1980; Bodo von Borries, ?Wie Maedchen gemacht und Frauen geformt wurden?. Geschlechtsspezifische Erziehung und weiblicher Charakter im buergerlichen Zeitalter, 1763-1914, in: ders./Klaus Bergmann/ Gerhard Schneider (Hg.), Kindheit in der Geschichte I. 19. ud 20. Jahrhundert ? Unterrichtsentwuerfe, Quellen und Materialien, Duesseldorf 1985, S. 19-69.
4. Bodo von Borries, Vom Nutzen der Kindheitsgeschichte fuer historisches Lernen und kindliche Identitaet, in: ders./Bergmann/ Schneider (Hg.), Kindheit in der Geschichte, S. 7-18, hier S. 8.

5. Wichtige Orientierungen geben Imbke Behnken/ Manuela du Bois-Reymond/ Juergen Zinnecker, Stadt und Quartier als Lebensraum von Kindern, Juegendlichen und ihren Paedagogen. Eine historisch-interkulturelle Studie, Wiesbaden-Leiden 1900 bis 1980, Wiesbaden 1983; Imbke Behnken/ Manuela du Bois-Reymond/ Juergen Zinnecker, Stadtgeschichte als Kindhetsgeschichte. Lebensraeume von Grossstadtkindern in Deutschland und Holland um 1900, Opladen 1989; Juergen Zinnecker, Stadtkids. Kinderleben zwischen Strasse und Schule, Weinheim/Muenchen 2001.
6. Philippe Ariлs, Das Kind und die Strasse ? von der Stadt zur Antistadt, in: Freibeuter 60 (1994), S. 75-94.
7. Juergen Zinnecker, Vom Strassenkind zum verhaeuslihten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozess der Zivilisation, in: Imbke Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozess der Zivilisation, Opladen 1990, S. 142-162.
8. Bolshaja Sowetskaja Enzyklopedia, Moskwa,1978, Bd. 29, S. 57.
9. Zur Stadtgeschichte Иeljabinsk vgl. M.Ja. Ivancova, Cheljabinsk, Cheljabinsk, 1961; Salmina M.S., Geschichte des suedlichen Urals, Cheljabinsk, 2004; Cheljabinsk. Geschichte meiner Stadt, Cheljabinsk, 1999.
10. Larry E. Holmes, The Kremlin and the Schoolhouse. Reforming Education in Soviet Russia, 1917-1931, Bloomington 1991; Alan M. Ball, And now my soul is hardened. Abandoned children in soviet Russia, 1918-1930, London, 1994; Lisa F. Kirschenbaum, Small Comrades. Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917-1932, New York 2001.
11. Deana Levin, Leisure and Pleasure of Soviet Children. London 1966; Deana Levin, Soviet Education Today. New York 1966; Avis George (Hg.), The Making of the Soviet Citizen: Character Formation and Civic Training in Soviet Education, New York 1987; Oskar Anweiler, Geschichte der Schule und Paedagogik in Russland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Aera. Berlin 1964; Uwe Bach, Kollektiverziehung als moralische Erziehung in der sowjetischen Schule 1956-1976, Berlin 1986; Jenny Brine u. a. (Hg.), Home, School and Leisure in the Soviet Union. Boston 1980; Judith Harwin, Children of the Russian State, 1917-1995, Aldershot 1996.
12. Felicity O?Dell, Socialization through Children?s Literature. The Soviet Example, New York 1978; Evgeny Steiner, Stories for Little Comrades. Revolutionary Artists and the Making of the Early Soviet Children?s Books, Seattle 1999; Catriona Kelly, Comrade Pavlik. The Rise and Fall of a Soviet Boy Hero, London 2005; Catriona Kelly, ?Thank You for the Wonderful Book?. Soviet Child Readers and the Management of Children?s Reading, 1950-1975, in: Kritika 6 (2005), S. 717-753.
13. Vgl. bes. P. Vajl /A. Genis, 60-e. Mir sovetskogo cheloveka, Moskva, 1998, S. 112-122.
14. Gute Ueberblicke bei Jurij Aksjutin, Chruschevskaja ?ottepel? i obschestwennie nastroenija v SSSR v 1953-1964, Moskva, 2004; Elena Ju. Zubkova, Poslevoennoe sovetskoe obchestvo. Politika i povsednevnost 1945-1953, Moskva, 1999; Nina B. Lebina/ A.I. Chistikov, Obivatel I reformi. Kartini povsednevnoj gizni gorogan, Sankt-Peterburg 2003; William Taubman, Khrushchev. The Men and his Era, New York/London 2003; Manfred Hildrmeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. Mьnchen 1998; Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 5: 1945-1991. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart 2001-4; Polly Jones (Hg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Socal Change in the Khrushchev Era, London/New York 2006.
15. Vgl. bes. die Beitraege von Ann Livschiz, De-Stalinizing soviet Childhood. The Quest for Moral Rebirth, 1953-1958, in: Jones (Hg.), Dilemmas of De-Stalinization, S. 117-134; Juliane Fuerst, The Arrival of Spring? Changes and Continuities in soviet Youth Culture and Policy between Stalin and Khrushchev, in: ebd., S. 135-153.
16. Imbke Behnken/ Manuela du Bois-Reymond/ Juergen Zinnecker, Stadt und Quartier als Lebensraum von Kindern, Juegendlichen und ihren Paedagogen. Eine historisch-interkulturelle Studie, Wiesbaden-Leiden 1900 bis 1980, Wiesbaden 1983, S. 28.
17. Am Beispiel der Erfahrungen in Иeljabinsk wurde so ein Buch mit Anweisungen und Instrukrtionen publiziert, wie sich das Leben im Hof von Erwachsenenkomitees mittels nachbarschaftlich organisierten ?Kinderklubs? kontrollieren laesst. Vgl. M. Ivanova, Klub vo dvore, Moskva, 1960.
18. Im Maerz 1961 organisierte das ?Zentrale Haus der Pioniere namens Krupskaja? in Иeljabinsk eine gross angelegte Solidaritatsaktion, bei Kinder zahlreiche Geschenke sammeltn, die sie an Familie des zuvor ermordeten Premierministers der Republik Kongo, Patrice Lumumba, versandten. Siehe dazu den Artikel in der Tageszeitung Cheljabinskij Rabochij, 1. Mai 1961, S. 4.
19. Vgl. die Zeitungsartikel Aleksandr Kalkopf, Pochemu my s otsom perestali posetschat sektu, in: Cheljabinskij Rabochij, 8. Juni 1958, S. 2.; Kalechit` detej ne pozvolim, in: ebd., 1. April 1962, S. 4.


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