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Archive - Staedtische Kinderraeume in Cheljabinsk - Comments

Anna Liesch - 16.03.2007 19:50
Liebe Larisa Konovalova

Das Projekt finde ich spannend, was mir aufgefallen ist, ist, dass im
ersten Abschnitt von Gender die Rede ist, nachher aber nur noch von
Kindern, Gender finde ich aber einen ausgesprochen wichtigen Aspekt bei
so einer Forschung, ausserdem finde ich die lebensgeschichtlichen
Interviews sehr zentral, sie dьrften nicht nur als Eventuell bei Punkt
zehn erscheinen. Ausserdem ist die Studie meiner Meinung nach zeitlich
nicht genau definiert, beginnt sie mit dem Tauwetter, und dann, wo hцrt
sie auf, erst heute?

Aber ich denke, ich wьrde eine solche Studie mit Interesse lesen.

Herzliche Grьsse

Anna Liesch

Heiko Haumann - 09.03.2007 11:12
Hier ein paar Bemerkungen zu dem Text ueber staedtische Kinderraeume in
Celjabinsk. Grundsaetzlich finde ich das Vorhaben sehr gut und wichtig,
die Vorgehensweise scheint mir angemessen zu sein. Vertiefen wuerde ich
die Einbettung in den historischen Kontext, also in die Geschichte der
Jugend und auch der Strassenkinder in der Sowjetunion. Hierzu koennten wir
noch zwei Titel erwaehnen, die in unserem Umfeld entstanden sind:
Sowjetjugend 1917-1941. Generation zwischen Revolution und Resignation.
Hg. von Corinna Kuhr-Korolev u.a. Essen 2001; Corinna Kuhr-Korolev:
"Gezaehmte Helden". Diformierung der Sowjetjugend 1917-1932. Essen 2005.
Bei den Themenfeldern scheint mir zwischen dem Alltag in den
Kinderraeumen und in Grenzen der Kinderraeume noch der Aspekt des
unmittelbaren Umfeldes - Eltern, Bekannte usw. - zu fehlen. Die Autorin
koennte hier fragen, inwieweit es in diesem "Raum" einen "Eigen-Sinn" und
Unterschiede zu den herrschaftlichen Raeumen gab. Bei den Quellen waeren
vielleicht noch Autobiographien von Personen heranzuziehen, die ueber
ihre fruehere Kindheit berichten.

Carmen Scheide, Basel - 08.03.2007 18:00
Liebe Larisa Konovalova,

das skizzierte Forschungsprojekt ueber staedtische Kinderraeume ist ambitioniert und interessant. Ich moechte einige Ueberlegungen, die eher Fragen sind, dazu anfuehren. Obwohl der Untersuchungszeitraum in den 1960er Jahren liegen wird, erscheint mir die Entwicklung des sowjetischen Kindheitsdiskurses als Vorgeschichte, nicht als Teil einer eigenstaendigen Forschungsleistung, wichtig. Meines Erachtens wurde Kindheit durch bolschewistische Erziehungs- und Gesellschaftsentwuerfe im breiten Stil nach 1917 definiert, da Kinder in der baeuerlichen Gesellschaft bereits frueh mit dem Arbeitsleben und sogar dem Erwerbsleben anfangen mussten. Entweder uebernahmen sie Aufgaben innerhalb der Familienwirtschaft oder verdienten ihren Lebensunterhalt als Dienstboten in anderen Familien.
Kindheit ist von daher eng gekoppelt an Schulbildungskonzepte.

Bei der Beschreibung von Kinderraeumen versus Herrschafts- und Erwachsenenraeumen moechte ich die Frage nach spezifisch sowjetischen und allgemein anthropologischen Bedingungen stellen: Das Spielen auf der Strasse, die Bildung von Banden und das Betreten ?verbotener? Zonen wie Baustellen durch Kinder kennen wir aus anderen Gesellschaften auch. Es ist eine Abgrenzung von der Generation der Eltern, eine Form des Lernens durch Erfahrung, die Weiterentwicklung des kindlichen ?Ichs?, das Ausprobieren von Grenzen. Aber wie stellt sich dieses Verhalten in bezug auf die wohl behueteten sowjetischen Kinder dar, die oftmals als einziges Kind einer Familie aufwuchsen? Welche Rolle spielen die Grossmuetter als zentrale Personen der Kindererziehung fuer die Weitergabe von Normen, Regeln und Rollenvorstellungen? Wie wirkt sich die ?Feminisierung? der Erziehung auf Maedchen und besonders Jungen aus?


Ich wuensche Ihnen viel Erfolg fuer die Arbeit und bin an weiteren Ergebnissen sehr interessiert.



Klaus Gestwa (Tuebingen) - 02.03.2007 21:04
Als einer der Tuebinger Historiker, der Larisa bei der Abfassung ihres Projekts beriet, habe ich die Internet-Diskussion mit Aufmerksamkeit verfolgt. Es faellt auf, dass die Kommentatoren bei ihrer Kritik oftmals ausser acht lassen, dass es sich bei Larisas Text um eine nur leicht veraenderte Fassung eines Antrags handelt, den sie bei einer deutschen Stiftung eingereicht hat, um sich fuer ein mehrmonatiges Stipendium zu bewerben. Wer sich einmal auf die Antragsstellung eingelassen hat, wird sicherlich aus eigener Erfahrung wissen, dass ein Projektantrag eine ganz besondere Textart ist, die spezifische Spielregel folgen muss. Es gilt, auf knappen Raum den interpretativen Rahmen zu skizzieren, die Relevanz und Aktualitaet des Themas moeglichst eingaengig zu erlaeutern und zugleich eine breite sowie originelle Quellenbasis zu umreissen. Das fuehrt zu einer sehr besonderen ?Antragslyrik?, die vor allem darauf zielt, nicht zu verdeutlichen, was letztlich praktisch gemacht wird, sondern was rein theoretisch gemacht werden koennte. Jeder Projektantrag atmet darum den Geist eines ?wishful thinking? und weist den Hang zur ?Gigantomanie? auf. Fuer Oksana, die diesen Kritikpunkt formuliert hat, duerfte diese Einsicht keineswegs ueberraschend sein.

Der Vorwurf der ?Gigantomanie? bezieht sich in den Kommentaren besonders auf die vielen unterschiedlichen Quellen, die Larisa zu sichten gedenkt. Die Diskutanten verlieren dabei oft aus den Augen, dass es sich bei den angegebenen Bestaenden nicht um sich hoch auftuermende Aktenberge handelt, die zu erklimmen einem akademischen Drahtseil gleich kaeme. Wer einmal mit Archivmaterialen der untersten lokalen Verwaltungsebene gearbeitet hat, wird wissen, dass es sich hier oft nur um einen spaerlichen Bestand handelt, der sich schnell durcharbeiten laesst. Die archivalische ?Gigantomanie? entpuppt sich nicht selten als Zwergenaufstand. In Novosibirsk habe ich mit lokalem Archivmaterial der ?Rayon-Ebene? zu den 1950/60er Jahren gearbeitet. Die meisten Akten konnte ich sofort wieder zurueckgeben, weil sie belanglos waren. Aber vereinzelt fand ich ausfuehrliche Stenogramme von Gewerkschafts- und Komsomolsitzungen, in denen Klartext geredet wurde. Diese Dokumente gaben mir interessanten Aufschluss darueber, mit welchen Problemen die Amtstraeger vor Ort kaempfen mussten angesichts einer Politik, die viel forderte, aber nur wenig Mittel bereitstellte. Ein anderes Mal fand ich eine ueber 200seitige Akte, in dem MVD-Berichte und Beschwerdebriefe gesammelt waren, die hochinteressanten Aufschluss darueber gaben, wie unterschiedlich Lehrer und Schueler auf die antisemitsche Hetze der Pravda Anfang 1953 im Rahmen der Inszenierung des sogenannten ?AErztekomplotts? reagierten. Die Lektuere dieser Unterlagen erwies sich als ausserordentlich anregend und gab einen hervorragenden Einblick in den spannungsgeladenen Schulalltag. Es sind solche herausragende Einzelfunde, die den Historiker dazu anhalten, sich auf unterschiedliche, breite Quellenbestaende einzulassen. Es macht keinen Sinn, schon zu Beginn eines Projektes Stopp-Schilder aufzustellen. Larisa sollte einen Versuch wagen, um dann anhand der tatsaechlichen Quellenlage zu entscheiden, wieviel Arbeit sie in das jeweilige Aktenstudium investiert.
Diejenigen, die meinen, Schularchive haetten keine Aussagekraft, seien auf das ausgezeichnete Buch von Larry Holmes verwiesen, der, ausgehend von einem Schularchiv, eine faszinierende Fallstudie zu einer Moskauer Schule in den 1930er Jahren vorlegte. Weit mehr als jede sozialhistorische Strukturgeschichte und kulturhistorische Diskursgeschichte zeigt sie, wie Schueler und Lehrer den Stalinismus erfuhren.
Im uebrigen: nach Igor Narskijs interessanten Ausfuehrungen zur Kanalisation und zum Toilettenwesen im Ural waehrend der Revolutions- und Buergerkriegszeit hatte ich den Eindruck gewonnen, die juengere historische Forschung in Cheljabinsk zeichne sich dadurch aus, dass versucht wird, nicht nur dem historiographischen Mainstream zu folgen, sondern auch das Risiko einzugehen, von auf den ersten Blick abseitigen Quellen und randstaendigen Themen her einen neuen frischen Blick auf das historische Geschehen zu werfen und damit neue Einsichten zu eroeffnen. Larisas Projekt scheint mir von diesem innovativen, risikofreudigen Cheljabinsker Geist durchdrungen zu sein.

Was die Frage nach der Aussagekraft lebensgeschichtlicher Interviews betrifft, so hatte ich waehrend der Gespraeche mit Larisa nicht den Eindruck gewonnen, dass sie ein aufwendiges ?oral history program? plant. Diese Umsetzung wuerde sicherlich zu weit fuehren und tatsaechlich mehr ueber memorative Praktiken als ueber die kindlichen Lebenswelten in der Tauwetterperiode aussagen. Kindheitserinnerungen waeren ein eigenstaendiges Forschungsthema, durchaus interessant und aussagekraeftig, aber fraglos ?beyond the scope?. Larisa wird sich sicherlich von den lebenden Zeitzeugen viel anhoeren muessen, wie sie ihre Kindheit erfahren haben. Diese Aussagen duerfen keineswegs als authentische Zeitzeugnisse behandelt werden, aber sie schaerfen doch die Sensibitaet fuer bestimmte Ereignisse und Orte und helfen, die archivalischen Funde besser einzuordnen bzw. Larisas Ortungssysteme fuer relevante Themen und Quellen zu schaerfen. Aus eigener Forschererfahrungen kann ich Larisa nur raten, ihre Ohren nicht aus Durchzug zu stellen, wenn ?aeltere Semester? ueber ihre Kindheitserinnerungen berichten. Sie sollte die an sie herangetragenen lebensgeschichtlichen Informationen nicht ueberwerten, aber auch nicht ausser Acht lassen. Ach ja: Informationen zur ?gorodskoj detskij fol?klor? (ein Aspekt, der in den Kommentaren eingefordert wurde) koennen sicherlich nur unter Zuhilfenahme muendlicher Ueberlieferungen zusammengetragen werden.

Zu den visuellen Quellen ist zu sagen, dass die Durchsicht dieser Dokumentenbestaende nicht unbedingt viel Zeit erfordert. Es stellt sich dann nur die Frage, wie man Fotos oder womoeglich Wochenschauberichte in die Darstellung und Interpretation einbezieht. Bildquellen tragen in jedem Fall zur besseren Illustration des Themas bei. Auf sie zu verzichten, waere deshalb recht unsinnig. Ich kann mich an einen Vortrag von Igor Narskij erinnern. Ausgehend von einem fotographischen Kinderportraet entwarf er ein faszinierendes Bild von der ?langsamen Geschichte? sowjetischer Familien in den 1960er Jahren. Das Foto bot einen Ausgangs- und Orientierungspunkt, um den Ausfuehrungen einen Rahmen zu geben. Mir scheint also, dass man in Cheljabinsk durchaus weiss, wie mit Bildquellen umzugehen ist. Voller Optimismus hoffe ich, dass Larisa kundige akademische Anleitung bekommt, wie sie in ihrem Projekt beim mittlerweile modisch gewordenen ?visual turn? mitmachen kann.

Rosalija?s Kommentar gegen Larisas sozialkonstruktivistische Definition von Kindheit scheint mir weiter hinter den aktuellen Forschungsstand zurueckzufallen. Die Geschichte der Kindheit wird seit zwei bis drei Jahrzehnten breit diskutiert worden. Als allgemeiner Konsens gilt dabei, dass Kindheit kein dem Menschen von Natur und Gott gegebenen Urzustand, sondern eine Erfindung der modernen Gesellschaft und damit einem staendigen historischen Wandel unterworfen ist. In der Genderforschung zweifelt doch auch niemand an dem erkenntnisleitenden Begriff vom ?sozialen Geschlecht?. Rosalijas Verweis auf die Biologie und Genetik und damit auf deterministisch-substantivistische Konstanten fuehrt in die Irre und laesst sich bei Larisas Projekt kaum produktiv forschungspraktisch umsetzen.

Die Periode des Tauwetters ist gegenwaertig der in der internationalen Forschung am intensivsten diskutierte Zeitabschnitt der Sowjetgeschichte. Es ist dabei weithin ueblich, das Tauwetter auf die Regierungszeit Chruschtschows zu beziehen. Aber natuerlich haben schon vorliegende Studien herausgestellt, dass er fuer einzelne Themen und Regionen spezielle Chronologien gibt, die nicht mit den Eckdaten 1953 und 1964 uebereinfallen. Die von Larisa in den Blick genommenen Urbanisierungsprozesse werden vermutlich erst gegen Ende der 1950er Jahre in Иeljabinsk an Dynamik gewonnen und dann weit ueber 1964 hinaus ihre Wirkung entfaltet haben. Das Signalwort Tauwetter scheint mir deshalb von Larisa benutzt worden zu sein, um zeitliche Abgrenzungen und thematische Zuspitzungen deutlich zu machen. So geht es im Projekt nicht um Nachkriegsentwicklungen, sondern um den sozialen Wandel einer Industriegesellschaft, die sich nicht zuletzt durch den Wechsel des Parteifuehrers im Umbruch befindet. Zugleich macht der Begriff Tauwetter deutlich, dass der Untersuchungszeitraum keineswegs bis in die 1970er Jahre hinein ausgedehnt werden soll. Diese zeitliche Begrenzung ist angesichts der vielfaeltigen Themenfelder nur zu verstaendlich, um gigantomanische Auswuechse zu verhindern.
Die thematische Zuspitzung sehe ich darin, dass Larisa in ihrem Projekt explizit eine Forschungsfrage aufgreift, die zum besseren Verstaendnis des Tauwetter gegenwaertig kontrovers diskutiert wird. So hat Kharkhordin (und mit ihm juengere Historiker wie Juliane Fuerst und Brian LaPierre) darauf verwiesen, dass die unter Chruschtschow eingeleitete Liberalisierung des sozialkulturellen Lebens und die neuen Partizipationsangebote nur als sekundaere Folge des bemuehten Strebens der neuen Parteifuehrung zu interpretieren sind, mehr Systemeffizienz zu erreichen. Die politische Praerogative lag weiter darin, den gesellschaftlichen Wandel zu lenken und zu kontrollieren. Diese neuen kritischen Studien wenden sich darum dezidiert gegen die Bezeichung der Tauwetterperiode als ?interval of freedom?. Zwar sei nach 1953 zunehmend Politik an die Stelle von Gewalt und Terror getreten, aber ?the profound extension of a system of communal enslavement? haette grossen Konformitaetszwang auf die Sowjetmenschen ausgeuebt und vielfach tiefer in die Lebensfuehrung des Einzelnen eingegriffen als die vorherigen stalinistischen Repressionen. Chruschtschow Traeume von einer umfassenden sozialen Disziplinierung seien darauf ausgerichtet gewesen, ein ultimatives Ziel des Stalinismus endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Ihm ging es vor allem um die Schaffung eines ?fine-tuned and balanced system of total surveillance, firmly rooted in people as policing each other in an orderly and relatively peaceful manner.? In wichtigen Politikbereichen sei deshalb sogar eine ?intensification of Stalinist ideas and campaigns? zu beobachten gewesen. Die fuer das Tauwetter verwandten Begriffe Reform und Liberalisierung erweisen sich folglich als inadequat.

Larisas Kindheitsthema bietet zweifellos einen interessanten Testfall, ob sich diese kritische Sicht auf die Tauwetterpolitik wirklich bestaetigt. Wenn sich der Blick deshalb auf Hausmeister als gesellschaftliche Funktionstraeger richtet, die sich anmassen, gegenueber Kindern als Autoritaeten und Paedagogen aufzutreten, dann wird mit dieser Ausweitung der Akteursgruppe das wachsende Mass der sozialen Disziplinierung und der Interventionen in das Alltagsleben problematisiert, das damals als politischer Koenigsweg gesehen wurde, um, wie es das 3. Parteiprogramm 1961 proklamierte, die Sowjetgesellschaft in den Kommunismus zu fuehren. Natuerlich ist es fraglich, ob sich ueber Archivquellen die Aktivitaeten von niederrangigen Funktionstraegern wie Hausmeistern tatsaechlich naeher nachzeichnen lassen. Wir wissen allerdings von einer enormen Flut an Instruktionsliteratur, Broschueren und publizierten Verhaltensanweisungen, mit denen die Sowjetmenschen zugedeckt wurden, um sie in die allgemeine Disziplinierungs- und UEberwachungspolitik einzubeziehen. Diese Publikationen zu sichten und zu besprechen, ist sicherlich der Muehe wert. Larisas Hoffnung, ueber das Kindheitsthema etwas Interessantes ueber die interventionistische Chruschtschowsche Gesellschaftspolitik aussagen zu koennen, scheint mir so durchaus berechtigt zu sein.

Larisa bemueht sich auch, ihr Thema mit den grossen Narrativen des Kalten Krieges in Verbindung zu bringen, die gegenwaertig mit dem Aufstieg der sogenannten transnationalen Forschung wachsende Aufmerksamheit finden. Mittlerweile ist hinlaenglich bekannt, dass sich das Sowjetsystem nicht allein nur aus sich selbst heraus entwickelt, sondern auch stets in eifersuechtiger Abgrenzung vom Westen, um sich gegenueber der Sowjet- und Weltoeffentlichkeit als die eigentliche, bessere Moderne des 20. Jahrhunderts zu praesentieren. Wer nach dem kulturpolitischen Design der Sowjetkindheit als ?svetloe budushchee? fahndet, wird zwangslaeufig fuendig werden, dass bei dieser Konstruktion eines optimistischen Welt- und Zukunftsbildes die Konkurrenzsituation der Kalten Krieges als formativer Faktor gewirkt hat. Wie der sowjetische Frauen- und Familiendiskurs entwickelte sich der sowjetische Kindheitsdiskurs als dialektische Entgegensetzung auf die Prozesse und Praktiken jenseits des Eisernen Vorhangs. Im offiziellen Diskurs lassen sich zahlreiche offene oder verdeckt angesprochene Querverweise und diskursive Bezuege erkennen. Zwischen der lokalen Konstruktion von urbanen Kinderraeumen in Cheljabinsk und der globalen Topographie des Kalten Krieges gibt es mehr Schnittstellen als manche skeptisch argwoehnen. Es ist an der Zeit, das oft aufgeworfene Paradigma der Verwobenheit der Modernen endlich auch in die Forschungspraxis umzusetzen. Im Rahmen von Larisas Projekt werden die diskursiven Resonanzen und Wechselwirkungen durch den Eisernen Vorhang hindurch nicht im Mittelpunkt stehen, sondern eher beilaeufig behandelt. Es waere aber schade, sie auszugrenzen.

Die Kritik von Aleksej Bogomolov am Begriff der ?marginalen Gruppen? entspringt offensichtlich der Unkenntnis der aktuellen Forschungslage. Schon gegen Ende der 1990er Jahre hat der Novosibirsker Historiker Sergej Krasil?nikov die ?Marginalen im Stalinismus? als aufschlussreiches Thema entdeckt und dazu wichtige konzeptionelle UEberlegungen und Begriffsklaerungen zur Diskussion gestellt. Des weiteren haben Golfo Alexopolos und Paul Hagenloh wegweisende Studien zu ?Stalin?s Outcasts? vorgelegt. Larisa greift offensichtlich diese Vorarbeiten auf, um mittels eines Blicks vom Rand der Gesellschaft deren zentralen Konstruktionsprinzipien zu erschliessen. Gegenwaertig arbeitet die Moskauer Historiker Elena Zubkova in Kooperation mit Kollegen der Universitaeten in Tuebingen zu den marginalen Gruppen in der Sowjetgesellschaft waehrend der 1950er Jahre. Damit ergibt sich fuer ein Larisa ein interessanter Forschungskontext, in denen sie sich einbringen kann.

Die Identifizierung von marginalen Kindergruppen hat in Larisas Projekt augenscheinlich die wichtige Funktion, die Grenzen der herrschaftlich konstruierten Kinderraeume aufzuzeigen und damit mehr um die damals wirksamen Inklusions- und Exklusionsmechanismen auszusagen. Es waere von ihr sicherlich zu viel verlangt (Achtung: Gigantomanie!), einen Gesamtkatalog aller marginalen Gruppen zu erstellen und ausfuehrlich ihre Lage zu beschreiben. Larisa sollte sich von den verfuegbaren Quellen leiten lassen, um anhand einiger ausgewaehlter, ihr charakteristisch erscheinender marginaler Kindergruppen die fuer das Thema erforderlichen sozialraeumlichen Ab- und Eingrenzungen vorzunehmen. Die im Text angefuehrte Gruppe der Sektantenkinder halte ich fuer ein gutes Beispiel, weil sich gegen Ende der 1950er Jahre die Chruschtschowsche Gesellschaftspolitik erneut einem militanten Atheismus verschrieb. Es waere darum interessant, auf lokaler Ebene zu verfolgen, wie sich religioese Dissensgruppen unter enormen politischen Druck eigene soziale Orte abseits des herrschaftlichen kontrollierten Raeume schufen und wie die Partei- und Staatsorgane darauf reagierten. Das gibt dem Kindheitsthema eine politische Spannung, die seine Relevanz aufwertet.

Der Verweis auf die marginalen Kindergruppen belegt, dass sich Larisa der sozialen Heterogenitaet der urbanen Kinderwelten in Cheljabinsk durchaus bewusst ist. Dafuer spricht nicht zuletzt die von ihr im Titel gewaehlte Pluralform (detskie prostranstva). Die berechtigte Frage, wie sie mit dem Heterogenitaetsphaenomen umzugehen gedenkt, laesst sich damit beantworten, dass ihr sozialraeumlicher Zugang gegenueber herkoemmlichen Ansaetzen einige konzeptionelle Vorteile hat. Diejenigen, die sich gegenwaertig um ein ?spacing history? bemuehen, sehen im Raum als Materialisation symbolischer (An)Ordnungen nicht nur einen "metasozialer Kommentar" der Gesellschaft ueber sich selbst, sondern auch eine "gelebte Oertlichkeit" (Regina Bormann). Im Raum sind zahlreiche soziale Strukturen, Grenzziehungen und Differenzierungen eingelagert. Der Raum wirkt in einer "Art Synopsis der einzelnen Orte, durch die das oertlich getrennte in einen simultanen Zusammenhang, in ein raeumliches Bezugssystem gebracht werden." (Dieter Laepple) Der Raum fuehrt also zusammen, was in herkoemmlichen Studien haeufig auseinander dividiert wird. Er rahmt soziale Handlungen und schafft Moeglichkeiten fuer soziale Interaktionen zwischen unterschiedlichen Gruppen. Larisa sollte sich bei ihrem Projekt darum handlungs- und nicht schichtungsorientiert vorgehen. Als ?settings of action? laesst sich anhand der Kinderraeume gut aufzeigen, wie die einzelnen Gruppen der urbanen Gesellschaft miteinander umgegangen oder wie sich sich voneinander abgrenzten, bzw. sich womoeglich sogar bemuehten, bestimmte Raeume fuer sich zu monopolisieren. Statt einem starren strukturgeschichtlichen Stratifikationsmodell koennte so am Ende ihrer Arbeit ein dynamisches Handlungsmodell stehen, das viel darueber aussagt, wie sich die unterschiedlichen Sozialgruppen teils miteinander, teils gegeneinander urbane Raeume aneigneten. Wer den Fokus auf die Interaktionen legt, bekommt Spannung und Dynamik in sein Projekt und laesst die urbane Gesellschaft als einen vielschichtigen, quicklebendigen Sozialorganismus erscheinen. Das liegt eine Chance von Larisas Projekt, die nicht leichtfertig verspielt werden darf.

Olgas Kritik, dass der Urbanisierungsgrad in Иeljabinsk von Larisa womoeglich ueberschaetzt wird, sollte unbedingt bedacht werden. Deutsche Historiker unterscheiden zwischen dem quantitativen Prozess der Verstaedterung, also der Ansiedlung einer wachsenden Einwohnerzahl an einem Ort (Bevoelkerungsagglomeration), und dem qualitativen Prozess der Urbanisierung, bei dem es um die kulturelle Ausgestaltung und soziale Differenzierung der staedtischen Raums gehen. Anhand der Konstruktion urbaner Kinderraeume laesst sich fuer Cheljabinsk also anschaulich machen, wann (und ob) im Verlauf der 1950/60er Jahre die Verstaedterung in Urbanisierung umschlug. So gesehen, erhaelt die traditionelle sowjetische Stadtgeschichte einen interessanten sozialraeumlichen Kick und neuen Schwung. Dem abgestandenen Begriff der Sowjethistoriographie - kul?turnoe stroitel?stvo ? laesst sich so neues Leben einhauchen.

Larisas Projekt erhebt zum einen selbstbewusst den Anspruch, den Standards der internationalen historischen Forschung gerecht zu werden. Es setzt zum anderen seinerseits Standards, weil es zeigt, wie junge russische Nachwuchswissenschaftler ihre Projekte konzipieren muessen, um international anschlussfaehig zu werden und eine realistische Chance auf Foerderstipendien zu haben. Bei der Abfassung des Projekts haben wir in Tuebingen Larisa nachhaltig dazu gedraengt, aktuelle Forschungsfragen aufzugreifen und sich das Ziel zu setzen, darauf in einer lokalhistorischen Fallstudie Antworten zu geben. Es geht also darum, theoretische Expertise und empirisches Lokalwissen miteinander zu verbinden. Larisa hat durch ihre lebensweltliche Naehe zu ihrem Forschungsgegenstand einen ungeheuren Standortvorteil, den es zu nutzen gilt. Sie kann vor Ort in die Welt der Archive eintauchen und sich verstreute Informationen besorgen, um sich auf diese Weise an eine mehrdimensionale Forschungsarbeit wagen, die auslaendische Historiker zeitlich einfach ueberfordert. Larisas Projekt scheint mir darum nicht gigantomanisch, sondern ehrgeizig und kompatibel zu sein. Die skizzierten Themenfelder beeindrucken, und die Vorgehensweise klingt vielversprechend. In jedem Fall handelt es sich dabei um kein kleinformatiges Vorhaben, das sich innerhalb weniger Monate in Wochenend- oder Teilzeitarbeit realisieren laesst. Das Projekt ist von seiner Anlage her als mehrjaehriges Forschungsvorhaben konzipiert und erfordert Konzentration und Konstanz. Larisa stehen nun erst einmal mehrere Monate intensivster Literatur- und Archivrecherchen bevor, um auf das ambitioese konzeptuelle Skelett empirisches Fleisch zu bringen. Der in diesem Forum vorgelegte und diskutierte Text stellt eine Sammlung interessanter Ideen und aufschlussreicher Strategien dar, kann aber noch keinerlei Ergebnisse vorweisen.

Aus wohlwollender Tuebinger Ferne hoffe ich zuversichtlich, dass Larisa zum einen die erforderliche finanzielle und akademische Foerderung erhaelt, um mit ihrem spannenden Projekt voran zu kommen. Zum anderen ist es nun an ihr zu beweisen, ob sie die erforderliche harte Arbeitsdisziplin aufbringt und ueber das Reflexionsvermoegen verfuegt, um ihr Vorhaben praktisch zu bewaeltigen. Ich halte es fuer unbedingt notwendig, dass Larisa nach der Sichtung und Auswertung erster Literatur- und Archivbestaende in einem halben Jahr in diesem Internet-Forum weiterfuehrende Auskunft ueber ihre Fortschritte und Probleme gibt. Dann laesst sich ihrem Projekt durch Akzentierungen und Zuspitzungen ein konkreteres Format geben. Zudem zeigt sich dann, ob Larisa dem anspruchsvollen Projekt tatsaechlich gewachsen ist oder ob es in ihren Haenden zu einer akademischen Ruine wird.





Christian Teichmann - 01.03.2007 14:43
Im Anschluss an die anderen Diskussionsbeitraege moechte ich sagen, dass das vorliegende Projekt spannend und vielversprechend ist. Beim Lesen einiger Diskusionsbeitraege habe ich nicht verstanden, warum die allgemein anerkannte Periodisierung "1953-64" kritisiert wurde - insbesondere, weil im vorliegenden Projekt Raeume im Vordergrund stehen sollen und die Chronologie eine untergeordnete Rolle spielen wird. Richtig finde ich den Vorschlag, nicht zu viel Zeit in die Rekonstruktion staatlicher ideologischer Vorstellungen von Kindheit zu investieren bzw. diese Vorstellungen in eine Perspektive zu bringen, aus der man sieht, was tatsaechlich "unten ankam".

Wie an den Diskussionsbeitraegen der Cheljabinsker Kolleginnen und Kollegen deutlich wurde, ist das "lebensgeschichtliche Interview" eine der besten Methoden, sich der komplexen Thematik naehren. Wie an den Studien zur Stalinperiode klar geworden ist, ergeben Archivrecherchen immer nur die eine, offizielle Haelfte der Geschichte (selbst die Geheimdienst-Berichte zur Stimmungslage der Bevoelkerung). Es waere daher wichtig, Interviews zu fuehren, um ein Bild der Stadt in den fuenfziger und sechziger Jahren erhalten und die Alltagsperspektive gruendlich auszuleuchten. Interessant waere zum Beispiel die Frage, ob ueberhaupt und wenn wie Kinder die "Banden" und die "Gefahren des urbanen Lebens" wahrnahmen und wie erfolgreich die staatlichen Bemuehungen waren, kindliche Raeume einzuhegen und ideologisch zu durchdringen. Wie bei jeder anderen Quellengattung ist auch bei der Auswertung der Interviews immer Quellenkritik angebracht.

Die wesentlichen westlichen Forschungsbeitraege zur Kindheitsgeschichte sind in den sechziger und siebziger Jahren angeregt worden, als "Emanzipation" und "Selbstbestimmung" zentrale Themen der intellektuellen Diskussion ueber Gesellschaft waren. Die Frage ist, ob sich diese Forschungsansaetze eignen, um heute Kinder und kindliche Sozialisation zu beschreiben. Muesste man, wenn diese Fragen gestellt werden sollen, nicht eher Familien und die "Geschichte des privaten Lebens" untersuchen (soziale Einheiten oder Prozesse, die tatsaechlich ein Emanzipationspotential haben)?

Wie stark nach Meinung der Autorin die staatliche Durchdringung der Kindheit war, wird durch die Struktur ihres Projekts deutlich. Sie beginnt mit einer Aufzaehlung einer Vielzahl von staatlichen Institutionen, geht dann auf den Alltag (Familie und Konsum) ein und danach auf die Grenzbereiche und marginalisierten Gruppen. Durch diese Herangehensweise sind schon wesentliche methodologische Vorentscheidungen getroffen. Interessant ist dabei, dass die staatlichen Institutionen mit "Schutz" assoziiert werden, die den "verbotenen Orten" mit ihren Gefahren gegenueberstehen. Hier stellt sich die Frage, ob der Kindergarten und die Schulen nicht auch als Gefahrenzonen gesehen werden koennen (Sanktionen durch Lehrer und Gewalt durch Mitschueler). Sind die Grenzen zwischen "Staat" und "Gesellschaft" so klar zu ziehen?

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