Archive Buergerkrieg ? zur Konstruktion eines Gruendungsmythos im fruehen SowjetrusslandDie Mythisierung bekam im revolutionaeren Russland eine besonders ausgepraegte Aktualitaet, weil sie nicht nur erlaubte, Sinn im sinnlosen Leben zu finden, sondern half, selbst die zweifelhaftesten und abscheulichsten Seiten des zerstoerten Alltagslebens 07.06.2004, 12:39 Igor Narskij
Buergerkrieg ? zur Konstruktion eines Gruendungsmythos im fruehen Sowjetrussland
(Ural 1917-1922)
Im November 1922 wurde in Sowjetrussland das fuenfjaehrige Jubilaeum der Oktoberrevolution ausgiebig gefeiert. Die seit Fruehjahr 1917 ueblichen Demonstrationen und Kundgebungen wurden diesmal um ein symptomatisches Element erweitert, naemlich um Erinnerungsabende (veиera vospominanij), die in verschiedenen Werken und Dienststellen, in Theatern und Kinos stattfanden. Dort erzaehlten die Teilnehmer, wo und wie sie die Revolution und den Buergerkrieg erlebt und was sie persoenlich fuer den Sieg der Sowjets und Roten Armee geopfert und geleistet hatten. Die Redner waren aufgeregt, das Publikum hoerte gespannt zu. Die Vergangenheit trat in heroischen Gewaendern auf. Der Alltag und heikle Themen wurden dabei ausgeklammert. So war weder von der allgemeinen Begeisterung fuer die Februarrevolution 1917 die Rede, noch wurden die Alkoholexzesse oder die Pogrome um die Zeit der Oktoberrevolution erwaehnt. Von der Massenkriminalitaet und -armut nach 1917, von den sanitaeren Zustaenden und Massenepidemien, von den Ueberlebenstechniken, die praktisch jeder erprobt hatte, wurde auch nicht gesprochen.
Diese Episode, die zeitlich am Ende meiner Darstellung steht, spricht dafuer, dass die Oktoberrevolution 1917 und der Buergerkrieg 1918-1920 zu diesem Zeitpunkt, also bereits 1922, schon zu den Gruendungsmythen des jungen Sowjetstaats gehoerten. Aus der Perspektive der spaeteren Entwicklung der Sowjetunion mag diese Tatsache banal und selbstverstaendlich erscheinen, nicht jedoch in der Wahrnehmung derer, welche die Ereignisse gerade erst miterlebt und ueberlebt hatten.
Die staatliche Produktion der Gruendungsmythen als Instrument der Konsolidierung, Mobilisierung und Manipulation der Bevoelkerung ist seit einiger Zeit zu einem wichtigen Forschungsfeld der neueren russischen Geschichte geworden (1). Dabei wird aber oft die These suggeriert, dass vor allem der Staat daran interessiert war, Gruendungsmythen zu schaffen, und die Mythenproduktion zentralisiert ?von oben? organisiert wurde.
Vieles spricht aber dafuer ? das ist die zentrale These des Aufsatzes ?, dass die Zeitgenossen, Teilnehmer und Augenzeugen der Ereignisse, sich an der Konstruktion des Gruendungsmythos Buergerkrieg intensiv beteiligten. Mit anderen Worten, die Mythisierung bildete im fruehen Sowjetrussland einen dezentralisierten und massiv ?von unten? gesteuerten Prozess (2).
Von dieser These leite ich meine Fragestellung ab. Es ist zu fragen, welche Faktoren die Mythisierung der Anfaenge der Sowjetzeit beguenstigten und beschleunigten, warum der Buergerkrieg zum stabilen Bestandteil der sowjetischen Gruendungsmythen wurde, wie und aus welchen Gruenden die Machthaber und die ?einfachen? Leute daran teilnahmen.
Jeder tiefere Kontinuitaets- und Traditionsbruch kann zu neuen Vergangenheitsbildern fuehren, die von Gruendungsmythen organisiert werden. Diese Einsicht, die von der neueren Kulturgeschichte vertieft wurde (3), dient hier dazu, den zeitlichen Rahmen bei der Untersuchung von kollektiver Erinnerung im fruehen Sowjetrussland festzulegen. Die Bevoelkerung Russlands hat in den Jahren der Revolution und des Buergerkrieges zwei solcher Brueche erlebt. Die erste Zaesur markiert das Fruehjahr 1917, als das vorrevolutionaere Leben auf einmal zur Vergangenheit wurde, der zweite Bruch zeichnet den Herbst 1922 aus. Nach der guten Ernte, die seit langem zum erstenmal nicht von massiven Erpressungen und Repressivmassnahmen auf dem Lande seitens des Staates begleitet war, wurde die Differenz zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwaertigen fuer die Leute deutlich. Die revolutionaere Zeit wurde zur Vergangenheit und verlangte dringend nach einer Umdeutung. Diese zwei Daten bilden den zeitlichen Rahmen des Aufsatzes.
Die mnemonischen Prozesse werden hier aufgrund der Entwicklungen in der Uralregion skizziert. Sie bestand vor der Revolution aus vier Gouvernements: Vjatka, Perm?, Ufa und Orenburg, die sich zwischen Wolgagebiet, dem russischen Norden, Sibirien und der kasachischen Steppe erstreckten. Dabei umfasste sie fast 800.000 Quadratkilometer und hatte am Vorabend der Revolution ueber 13 Millionen Einwohner. Waehrend der Revolutionsjahre war sie zu einem der Epizentren des Buergerkriegs geworden. Im Sommer 1918 wurde der Ural, wie auch weite Teile des Wolgagebiets und Sibiriens, von den Truppen der gegen die Sowjets rebellierenden Tschechoslowakischen Legion beherrscht, die aus den Kriegsgefangenen fuer den Einsatz an der Westfront aufgebaut wurde und auf dem Weg nach Amerika ueber die Transsibirische Eisenbahn zu dem klaeglichen Fall der Bolschewiki in der ganzen Region zwischen Penza und Vladivostok massgeblich beitrugen. Die im Sommer 1918 im Uralgebiet entstandenen regionalen Regierungen mit Residenzen in Ekaterinburg, Orenburg und Ufa wurden im spaeten Herbst 1918 durch die Provisorische Allrussische Regierung in Omsk unter der Leitung von Admiral A.V. Kolиak ersetzt. Die Offensiven und Gegenoffensiven der ?weissen? und ?roten? Truppen im Oktober-Dezember 1918 und Maerz-Juli 1919 erzeugten ausserordentlich bewegliche Frontlinien mit mehrmaligen Machtwechseln in vielen Orten. Erst im spaeten Sommer 1919 wurde die Uralregion dank den Erfolgen der Roten Armee wieder unter die (formale) Kontrolle der Bolschewiki gestellt.
I. Beschleunigungsfaktoren der Mythisierung im revolutionaeren Russland.
Es ist davon auszugehen, dass die Gruendungsmythen im Russischen Reich zu heterogen waren, um erfolgreich eine konsolidierende Funktion im gesamten Zarenreich ausueben zu koennen. Das ist der erste Faktor, der die Konstruktion neuer Gruendungsmythen beguenstigte. Die offizielle Ideologie und Politik der russischen Autokratie stuetzten sich im 19. Jahrhundert ? im Zeitalter des Nationalismus ? auf supranationale, dynastische und staendische Prinzipien. Nationale Identitaetsbildung galt als eine ernste Gefahr fuer die Stabilitaet des Reiches (3). Die Erinnerungskultur des offiziellen Russlands gehoerte dem fundierenden Typ an und konstruierte die Vergangenheit so, dass sie die Gegenwart legitimieren sollte (4). Die Erinnerungen der russischen und nichtrussischen nationalen Bewegungen wurden im Gegensatz dazu konstruiert; sie benutzten die unvermeidlich sehr unterschiedlichen Gruendungsmythen als Instrumente zur oppositionellen Mobilisierung. Selbst das kulturelle Gedaechtnis der russischen Nation war ausserordentlich heterogen. Die russische Intelligenz sozialistischer und liberaler Praegung suchte die Wurzeln der russischen Geschichte entweder in der Bauerngemeinde oder in schoepferischen Aktivitaeten des Staates. Sie schwankte zwischen der moskowitischen und Petersburger Periode der russischen Geschichte, zwischen der Europaeisierungs- und Russifizierungsperspektive des Landes hin und her. Die Mehrheit der russischen Bevoelkerung ? das Bauerntum ? distanzierte sich von diesen fremdartigen Identitaetsangeboten der Intellektuellen. Die baeuerlichen Gruendungsmythen waren nicht national, sondern reichspatriotisch und konfessionell gepraegt.
Der zweite Faktor laesst sich als partielle oder teilweise auch totale Zersetzung der alten Mythen definieren. Das Land hatte waehrend der Revolution nicht nur eine beispiellose politische und wirtschaftliche Katastrophe erlebt. Die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen, welche die Aussendimensionen des kollektiven Gedaechtnisses bilden, hatten sich in wenigen Jahren dermassen radikal geaendert, dass die Bevoelkerung einen kulturellen Schock erlitt, der einem traumatischen Gedaechtnisausfall nahe kam. Manche der alten Mythen hatten ihre UEberzeugungs- und Bindungskraft verloren. Staat und Bevoelkerung sahen sich erneut mit der Frage nach dem Wesen, dem Ursprung und der Bestimmung des Kollektivs konfrontiert. Dieser Identitaetsverlust verschaerfte die Notwendigkeit, neue Gruendungsmythen zu produzieren.
Den dritten Faktor bildete der Zusammenbruch des ?normalen? Alltags. Unter dem Druck der immer akuteren alltaeglichen Probleme wurden die ?lebendigen? Erinnerungen an Revolution und Buergerkrieg verdraengt. Jede traumatische Begebenheit blendete die frueheren Erlebnisse aus.
Einen zentralen Aspekt bei der Zerstoerung der ?normalen? Lebensbedingungen und einen entsprechend wirkungsmaechtigen Verunsicherungsfaktor bildete der Informationsmangel. Die Bevoelkerung hatte ? besonders seit Ende 1917 ? sehr bescheidene Moeglichkeiten, sich ein vollstaendiges Bild von den ?grossen? Ereignissen im Land zu machen. Russland verwandelte sich zu dieser Zeit in einen Archipel selbstaendiger Regionen, von denen jede einzelne von der uebrigen Welt isoliert war. Im Dezember 1917, als im Suedural bereits der nicht erklaerte Buergerkrieg tobte, stellte eine Orenburger Zeitung fest: ?Die Ereignisse haben uns von der ganzen Welt abgeschnitten. Wir leben wie auf einer Insel in einem stuermischen Meer. Die Eisenbahn musste seit jener Minute ausser Betrieb bleiben, als die bolschewistischen Militaerzuege sich auf Orenburg zu bewegen anfingen. Post und Telegraph sind auch nicht mehr imstande, uns mit der Welt zu verbinden, weil die Telegramme frueher ueber Samara kamen. Wir begnuegen uns mit Geruechten, und diese Geruechte kommen ueber zufaellige Personen, denen es gelingt, sich ueber die Frontlinie durchzuschleichen? (6).
Der Informationsmangel, an dem die Einwohner der Staedte litten, war besonders gross auf dem flachen Land und im Bergbaurayon. Jedes Dorf, jede Bergbausiedlung war zu einer hermetisch isolierten Welt geworden oder tendierte dazu. Die unueberpruefbaren Nachrichten ueber die einzelnen Ereignisse leisteten jeder Verallgemeinerung Widerstand. Man konnte nicht sicher sein, was und wo etwas passierte. Das Leben der meisten Zeitgenossen dieser Jahre hatte den Charakter eines langweilig grauen, vernachlaessigten Feldes ohne Marksteine. Dieses Vakuum musste ausgefuellt werden. Die Basis fuer die Implantation der Gruendungsmythen war vorbereitet.
II. Warum konnte der Buergerkrieg zum Gruendungsmythos werden?
Es gibt keinen Zweifel, dass die Buergerkriegsrhetorik des Klassenkampfes den Stimmungen des radikalen Fluegels der russischen Sozialdemokraten entsprach, der im autokratischen Russland illegal agiert hatte. Buergerkriegsbilder waren fuer Lenin und seine Anhaenger ein wichtiges Instrument der Sinnstiftung und Selbstpraesentation schon lange vor der Revolution 1917 (7). Zudem waren die Bolschewiki von Anfang an ueberzeugt, der Buergerkrieg sei ein unumgaenglicher Bestandteil der Revolution und zugleich ihr Hoehepunkt.
Nach der bolschewistischen Machtergreifung erweiterte sich der symbolische Inhalt des Buergerkrieges massiv. Er vereinigte die Mythen vom Aufbruch, von der legitimen Gewalt, vom gerechten Krieg und von der lichten Zukunft. Der Buergerkrieg als Gruendungsmythos war in jede Richtung ausdehnbar und deshalb politisch nuetzlich, er hatte Angebote sowohl fuer Konsolidierungsstrategien als auch fuer Ausgrenzung und Feindmarkierung.
Die Buergerkriegsentwurfe der ?Roten? und der ?Weissen? aehnelten sich in verblueffender Weise. Sie spalteten die Welt fast manichaeisch in Gut und Boese, wobei die eigene Partei glorifiziert und heroisiert, die feindliche Seite hingegen daemonisiert wurde. Die unterschiedlichen Vergangenheitsvorstellungen wurden der Gegenwart radikal entgegengesetzt, die Ereignisse im Umfeld der Revolution als Neuanfang gedeutet. Alle Kriegsparteien erklaerten den Buergerkrieg zum Volkskrieg und stilisierten sich zum einzigen Vertreter der werktaetigen Klassen bzw. der Nation.
Dieser Mythos konnte sich aber nur etablieren, wenn er in der Bevoelkerung Akzeptanz fand. Aus zwei Gruenden entsprach er der Stimmung, die unter vielen Augenzeugen der Revolution herrschte. Der Buergerkrieg stand, erstens, im kollektiven Gedaechtnis seiner Augenzeugen und Teilnehmer stellvertretend fuer die Ereignisse seit dem Anfang des Ersten Weltkrieges. Die Periode zwischen 1914 und 1922 ? die Zeit des Ersten Weltkriegs, der Revolution, des Buergerkriegs und der Hungersnot ? wurde von den russischen Zeitgenossen als Kontinuum eines ?siebenjaehrigen Krieges? empfunden, dessen Hoehepunkt die Jahre 1918 bis 1920 bildeten. Der Erste Weltkrieg war fuer Russland nicht offiziell beendet, sondern nahtlos in einen Buergerkrieg uebergegangen, der den erfolglosen Krieg in die tieferen Schichten der kollektiven Erinnerung verdraengte. Die Bauernaufstaende in den Jahren 1919 bis 1921 und die Hungerkatastrophe 1921 bis 1922 wurden als direkte Folgen des (Buerger)Krieges wahrgenommen. So geriet der Buergerkrieg zum allumfassenden Ereignis und universellen Deutungsmittel nicht nur der fruehen Sowjetzeit, sondern auch der letzten Jahre des Kaiserreiches. In den zeitgenoessischen Erinnerungen ?von unten? verdraengte der Buergerkrieg anscheinend sogar die bolschewistische UEbernahme der Macht in Petrograd im Oktober 1917. Zweitens vermittelten die Buergerkriegsdeutungen der Bevoelkerung den Eindruck, die Zerstoerung des Alltags ?von unten? sei Resultat einer Verschwoerung feindlicher Maechte. Das schuf wichtige Voraussetzungen fuer die Zusammenarbeit der Bevoelkerung und des Regimes beim Aufbau des neuen Gruendungsmythos ? und damit eine der wenigen Bruecken ueber die Kluft, die weite Teile der Bevoelkerung von den Machthabern trennte.
Diese Voraussetzungen fuer die erfolgreiche Mythisierung des Buergerkrieges wurden im Uralgebiet durch die besondere Rolle der Region im Buergerkrieg gestaerkt. Die Militaeroperationen der Roten Garde gegen die rebellierenden Orenburger Kosaken hatten bereits im November 1917 begonnen ? ein halbes Jahr vor der offiziellen Erklaerung des Buergerkrieges. Danach, in den Jahren 1918 und 1919, entwickelte sich der Ural zum zentralen Konfliktraum, in dem die Rote Armee gegen die Tschechoslowakische Legion, die Weisse Armee des Admirals Kolиak und die zeitweise mit ihm alliierten baschkirischen Militaertruppen kaempfte. Und schliesslich dauerte der Buergerkrieg im Uralgebiet weit ueber das offizielle Ende des Buergerkriegs hinaus: Statt des Friedens kamen Terror und der ?Bauernkrieg? der Jahre 1920-1921, der auf seinem Hoehepunkt das Ausmass des beruehmten baeuerlichen Aufstandes Antonowtschina im Gouvernement Tambow weitaus uebertraf.
Zudem kam der Region in diesen Jahren eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung zu. In der ausgehenden Zarenzeit hatte sich der Ural in eine der vernachlaessigten Gebiete des Reiches verwandelt. Seine Position in der russischen Wirtschaft wurde von einem maechtigen jungen Konkurrenten ? dem industriellen Sueden ? betraechtlich geschwaecht. Als die Ukraine mit ihrem industriellen und landwirtschaftlichen Potenzial durch die Frontlinien des Welt- und Buergerkriegs von Russland abgeschnitten wurde, entwickelte sich die Uralregion fuer das bolschewistische Zentralrussland zu einem wichtigen Reservoir der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion (8). In den zwanziger Jahren nutzten die regionalen Behoerden den Buergerkriegsmythos dazu, Moskau auf die Probleme der Region zu lenken (9).
III. Buergerkriegsmythos als staatliche Veranstaltung
Jedes Regime im revolutionaeren Russland versuchte seine Taetigkeit als Schoepfung einer richtigen Ordnung aus dem Chaos der Anarchie zu legitimieren. Die Vergangenheit wurde so entweder eliminiert oder offiziell normiert. Unter solchen Bedingungen konnte die beilaeufige Bemerkung, es sei frueher besser gewesen, als ein ernstes Verbrechen gedeutet werden und sowohl bei den ?Weissen? als auch bei den ?Roten? zu einer Gefaengnisstrafe fuehren, unabhaengig von Status, Geschlecht oder Alter der Beschuldigten.
Die Einwirkung der verschiedenen Behoerden auf die mnemonischen Prozesse im Land beschraenkte sich jedoch nicht nur darauf, unerwuenschte Erinnerungen zu unterdruecken. ?Rote? und ?Weisse? versuchten auch, die Erinnerungen zu filtern und neue Orientierungsmuster zu schaffen. Die Versuche der unterschiedlichen Regime, die Bevoelkerung zu indoktrinieren, litten allerdings an ideologischer Gigantomanie. Die Propaganda war nicht flexibel genug und wurde zu radikal, auf militaerische Art gefuehrt. Selbst die unbedeutendsten Erscheinungen wurden in ein dichotomisches Deutungsraster eingeordnet, das aus Begriffspaaren wie revolutionaer/konterrevolutionaer oder patriotisch/verraeterisch bestand. Durch diese ideologischen Siebe wurden auch die Erinnerungen gefiltert.
Das universelle propagandistische Deutungsmuster war in den Kategorien einer Verschwoerungstheorie verfasst. Die kaempfenden Kriegsparteien konkurrierten in dem Bemuehen, sich selbst und die Bevoelkerung von der Verantwortung fuer die Zustaende im Lande zu befreien und ihre politischen Widersacher fuer die Anarchie in Russland verantwortlich zu machen. Dabei wurde das Konspirationskonzept von allen Seiten ruecksichtslos ausgebeutet. Das im spaeten Zarenreich aeusserst populaere Bild der ?dunklen Maechte? nahm klarere Konturen an, bekam jedoch dabei irritierend viele Gesichter. Zugleich wurden ?bolschewistische Raeuber? und ?konterrevolutionaere Banditen?, die ?internationale Bourgeoisie? und der ?deutsche Spion Lenin? der Zerruettung des Landes beschuldigt.
Viel effizienter als die direkte politische Indoktrinierung war die mythische Symbolisierung durch die einander abloesenden Regimes. In einem Land, in dem die Vergangenheit als Vorgeschichte der Revolution umgedeutet wurde, waren die neuen Machthaber aller politischen Richtungen daran interessiert, die Desorientierung der Bevoelkerung nicht nur auszunutzen, sondern schliesslich auch zu ueberwinden. Ohne neue Gruendungsmythen war es kaum moeglich, den Zusammenhalt der Gesellschaft herzustellen, die Anarchie zu ueberwinden und die Loyalitaet der Bevoelkerung zu sichern.
Es ist kein Wunder, dass sowohl bolschewistische als auch antibolschewistische Regierungen jeden Anlass auszunutzen suchten, das Vergangene zu mythisieren. Die Haeufigkeit der Feiertage und ihre UEppigkeit waehrend der Revolution und des Buergerkriegs standen in einem krassen Gegensatz zu den kargen Existenzbedingungen der Bevoelkerung und den bescheidenen materiellen Mitteln der Behoerden fuer ihre Durchfuehrung.
Die Wichtigkeit der zeremoniellen Kommunikation fuer die Legitimierung des Regimes, ihren normativen und formativen Charakter bestaetigt die exakt reglementierte Festinszenierung. Seit den ersten Tagen der Revolution 1917 suchten die neuen Behoerden die Feierlichkeiten detailliert festzulegen. Ort, Zeit und Reihenfolge der feierlichen Massnamen teilten die ersten Spalten der offiziellen Zeitungen ausfuehrlich und im voraus mit. In dieser Reglementierung der Feste spiegelte sich offensichtlich neben den autokratischen Traditionen die massive Militarisierung des Bewusstseins in den Kriegsjahren und die Angst vor dem zunehmenden Chaos in der Verwaltung und im Alltag. So beschrieb das Exekutivkomitee des Rats der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Ordnung des am 12. Maerz 1917 bevorstehenden ersten ?Feiertags der Revolution? im Vjatka wie folgt:
?Um 11:30 sammeln sich am Domplatz alle Gruppen und Organisationen, die am Feiertag teilnehmen, und treten nach den Instruktionen der Mitglieder des Garnisonskomitees an. Um 12 Uhr haelt Bischof Nikanor, zusammen mit allen Geistlichen und Kirchenchoeren der Stadt, einen Gottesdienst ab. Anschliessend wird fuer das mehrjaehrige Wohl des gesegneten russischen Staates, seiner Regierung und seines Heeres und fuer das ewige Andenken aller im Kampf fuer die Freiheit Gefallenen gebetet.
Der Trauermarsch. Die Marseillaise. Die Parade der Garnison und aller teilnehmenden Organisationen. ... Die Parade wird von dem Standortaeltesten, dem Gouvernementskommissar und dem Exekutivkomitee abgenommen.
Nachdem die Parade zu Ende ist, begibt sich die Prozession ueber die Moskowskaja-, Wladimirskaja- und Kukarskaja-Strasse an den Alexanderdom-Platz, geht um den Dom herum und tritt vor dem Balkon des roten Gebaeudes der Kirchenschule an. Hier wird das Exekutivkomitee vor allen Versammelten drei Sprueche verkuenden: den ersten fuer das befreite Volk, den zweiten fuer die Armee und Marine und den dritten fuer unsere ruhmvollen Alliierten. Jedem Spruch geht ein Fanfarensignal voran und nach jedem Spruch klingt die Marseillaise. Nach allen Spruechen spielt das vereinigte Orchester wieder die Marseillaise, dann geben die Fanfaren ein Schlusssignal, nach dem die Feierlichkeit beendet wird?(10).
Es faellt auf, dass die neuen Feste zugleich Trauertage waren. Die neuen Obrigkeiten versuchten, einen neuen Ahnenkult zu schaffen. Die Bevoelkerung sollte sich nicht mit den Generationen der loyalen Untertanen der russischen Krone identifizieren, sondern mit den Rebellen gegen die Selbstherrschaft, mit den Vorkaempfern der Freiheit oder der neuen Ordnung. Die Wuerdigung der gefallenen ?Helden? stand in keinem Widerspruch zu der Schaendung der Leichen und Graeber der Feinde ? Vorfaelle, die waehrend der Revolution und des Buergerkriegs sehr verbreitet waren.
IV. Instrumentalisierung des Gruendungsmythos ?von unten?
Die durch die Revolutionswirren an die Macht gekommenen Regierungen aller politischen Richtungen hatten also gleich mehrere Gruende, sich um die rituelle Kommunikation und andere Mittel der Beeinflussung von mnemonischen Prozessen zu kuemmern. Es bleibt jedoch die Frage offen, welche Rolle der Bevoelkerung dabei zukam. Zahlreiche Belege bezeugen, dass sie an den Feiertagen unter jeder Regierung sehr gern teilnahm. Die ?Roten? priesen dieses Interesse als Manifestation des reifen ?revolutionaeren Bewusstseins?, die ?Weissen? deuteten es als ?Geburt des neuen Staatsbuergers?. Solche Interpretationen spiegelten jedoch nur die Wunschvorstellungen oder auch naiven Vorurteile der politischen Akteure ueber die Stimmungen innerhalb der Bevoelkerung wider, die aber ihre eigene Gruende hatte, aktiv an den feierlichen Zeremonien teilzunehmen. Der Alltag in der Revolutionszeit war dermassen von Leiden und Chaos gepraegt, dass das Leben bedeutungslos zu sein schien. Im Gegensatz zu den alltaeglichen Sorgen verkoerperten die Feste die fehlende Ordnung und stifteten einen ansonsten nicht vorhandenen Sinn.
Die Mythisierung bekam im revolutionaeren Russland eine besonders ausgepraegte Aktualitaet, weil sie nicht nur erlaubte, Sinn im sinnlosen Leben zu finden, sondern half, selbst die zweifelhaftesten und abscheulichsten Seiten des zerstoerten Alltagslebens sowie der individuellen Erfahrung und Biographie umzudeuten, ob es sich nun um den Dienst bei den unterschiedlichen, miteinander verfeindeten Regimes oder die durch die materielle Not erzwungenen grossen und kleinen Verbrechen unter der jeweiligen Regierung handelte. Diese Aufgabe wurde draengend aktuell, als das bolschewistische Regime sich mit der Durchsetzung der Neuen OEkonomischen Politik stabilisierte und die Periode der akuten Not zu Ende zu sein schien. In diesem Kontext sind die Bemuehungen sowohl des Staats als auch der Zeitgenossen verstaendlich, aus dem zur Vergangenheit gewordenen Buergerkrieg ein Fazit und Lehren fuer die Zukunft zu ziehen. Zu Beginn der zwanziger Jahre wurden die Erinnerungsabende zu einem unentbehrlichen Bestandteil der Jahrestage der Oktoberrevolution und des Buergerkriegs, das Sammeln von Memoiren avancierte zum staatlichen Grossprojekt.
Die Obrigkeit kam dem Wunsch der Bevoelkerung entgegen, den grauen Alltag durch markante Bilder auszuwechseln, zweifelhafte Aktivitaeten zu Heldentaten umzudeuten und die UEberlebenstechniken als Kampf fuer die ?helle Zukunft? zu interpretieren. Die Matrix fuer eine solche Heroisierung boten die Minimalkonzepte, welche die Obrigkeit den Menschen als Leitfaden fuer die Erinnerungen, welche sie ueber die Revolution und den Buergerkrieg schrieben, an die Hand gaben. Sie enthielten Fragen, die ausschliesslich der Mitwirkung in bolschewistischen Organisationen oder der Teilnahme an allrussischen, fuer die Bolschewiki besonders wichtigen ?grossen? Ereignissen gewidmet waren (11).
Diese mehr oder weniger eintraechtige Zusammenarbeit des Staates und der Bevoelkerung hatte jedoch ihre Kehrseite. Die ?kleinen Leute? beherrschten allmaehlich das bolschewistische Buergerkriegsvokabular, und das hatte ebenso unerwartete wie unerwuenschte Folgen fuer die Machthaber. So glaubten in den Jahren nach dem Buergerkrieg breite Bevoelkerungsschichten, die Sowjets und die kommunistische Partei seien von den Weissgardisten beherrscht.
Der Buergerkriegsmythos erwies sich also als vieldeutig und deshalb auch fuer die oppositionelle, kontrapraesentische Sinnstiftung nuetzlich. Im Uralgebiet naehrte er beispielsweise die Erinnerungen der Kosaken und der Baschkiren an den Buergerkrieg als eine Zeit der Freiheit und des Kampfes fuer ihre Selbststaendigkeit (12). Und weiten Teilen der Bevoelkerung gab dieser Gruendungsmythos einen Instrument der Kritik an den sowjetischen Obrigkeiten.
V. Fazit
Die Anfaenge der Sowjetzeit ? so laesst sich zusammenfassend festhalten - veraenderten sich in der Erinnerung der Zeitgenossen binnen weniger Jahre bis hin zur Unkenntlichkeit. Staat und Bevoelkerung waren daran, wenn auch aus verschiedenen Motiven, gleichermassen beteiligt. Das biographische Gedaechtnis wurde dabei gefiltert, deformiert und fragmentiert. Seine UEberreste wurden mit dem bunten Mosaik eines heterogenen Buergerkriegsmythos geschmueckt.
Dieser Mythos war universal, weil er Vergangenheit und Gegenwart organisierte und eine prometheische Vision der Zukunft entwarf. Er rechtfertigte die Militarisierung von Politik und Sprache, machte die Armee zum Modell der wirklichen Ordnung und spielte eine wichtige Rolle sowohl bei der offiziell gesteuerten Selbstidentifizierung, Konsolidierung und Feindmarkierung als auch bei der alternativen, gegen die Sowjets gerichteten Sinnstiftung.
Anmerkungen
1. Sheila Fitzpatrick, The cultural front: power and culture in Revolutionary Russia, Ithaca/London 1992; Stephen Kotkin, Magnetic mountain. Stalinism as a civilisation, Berkeley 1995; Orlando Figes, A people`s tragedy. The russian revolution 1891 - 1924, London 1996; Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Koeln/Weimar/Wien 1996; Helmut Altrichter, Russland 1917: ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn/Muenchen/Wien/Zuerich 1997; Vasilij P. Buldakov, Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revolucionnogo nasilija, Moskau 1997; Benno Ennker, Die Anfaenge des Leninkults in der Sowjetunion, Koeln/Weimar/Wien 1997; Vladimir N. Brovkin (Hg.), The Bolsheviks in Russian Society. The revolution and the Civil War, New Haven 1997; Elizabeth A. Wood, The Baba and the Comrade. Gender and Politics in Revolutionary Russia, Bloomington 1997; Orlando Figes/Boris Kolonitski, Interpreting the Russian Revolution: the language and Symbols of 1917, Yale 1998; Dietrich Beyrau, Petrograd, 25. Oktober 1917: die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, Muenchen 2001.
2. In meinem Buch ьber den Alltag im Uralgebiet wдhrend der Revolution und dem Bьrgerkrieg interpretiere ich die Mythisierung der ?grossen? Ereignisse als eine der Ьberlebensstrategien der Bevцlkerung im ?ideologischen? Bereich. Vgl. Igor Narskij, Zhizn? v katastrofe: Budni naselenija Urala v 1917-1922 gg., Moskau 2001, 386 ? 442.
3. ?Jeder tiefere Kontinuitaets- und Traditionsbruch kann zur Entstehung von Vergangenheit fuehren, dann nдmlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird. Neuanfдnge, Renaissance, Restaurationen treten immer in der Form eines Rьckgriffs auf die Vergangenheit auf? (Jan Assmann, Das kulturelle Gedдchtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identitaet in frьhen Hochkulturen, Muenchen 1999, 32).
4. Andreas Kappeler, Russland als Vielvoelkerreich: Entstehung ? Geschichte ? Zerfall, 2. Aufl. Mueьnchen 1993.
5. Jan Assmann, Das kulturelle Gedaechtnis, 68 ff.
6. Juzhnyj Ural, 30.12.1917.
7. Im Jahre 1901 stilisierte Lenin den radikalen Fluegel der russischen Sozialdemokraten zu einer Kampfgemeinschaft im Einsatz: ?Wir schreiten als eng geschlossenes Haeufchen, uns fest an den Haeдnden haltend, auf steilem und muehevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und mьssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren? (Wladimir I. Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1955, 364).
8. So konzentrierte sich im Uralgebiet 1920 ca. 70 Prozent der Metallproduktion Russlands, was dem Anteil der Uralindustrie an der russischen Produktion von Metallen in sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts entspricht. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs produzierte der Ural nur noch 20 Prozent des Eisens, wobei der Anteil der Ukraine auf 65 Prozent stieg. Vgl. dazu Sergej G. Strumilin, Izbrannye proizvedenija. Istorija иernoj metallurgii v SSSR, Moskau 1967; Viktor S. Golubcov, Иernaja metallurgija v pervye gody Sovetskoj vlasti (1917 ? 1923 gg.), Moskau 1975.
9. Es ist sicherlich kein Zufall, dass zu Beginn der zwanziger Jahre, als die Regionen Russlands Patrone im politischen Zentrum suchten und ihre Kulten steuerten, der ehemalige Kriegskommissar L. Trotzki in der Uralregion eine kultische Figur blieb.
10. Vjatskaja rech. 12.03.1917.
11. Das vereinigte staatliche Archiv des Cheljabinsker Gebiets, Bestand 596, Inventarheft 1, Aktenmappe 2, Bogen 50-51, 70, 71.
12. Vgl. Dmitrij A. Safonov, Velikaja krest?janskaja vojna 1920-1921 gg. I Juzhnyj Ural, Orenburg 1999, 270-307.
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