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Archive - Ordnung schaffen in Zentralasien - Comments

Zentrum - 30.04.2009 10:59
Liebe Alle! Wir bedanken uns bei Euch fuer Euren aktiven Teilnahme an der Diskussion. Besonderen Dank - an Julia Obertreis, fuer Ihren interessanten Beitrag, ausfuerliche Antworten und Sorgfaeltigkeit in der Durchfuehrung der Diskussion!
Wir laden Euch alle zu unserer naechsten Session ein.

Mitarbeiter des Zentrums

Julia Obertreis - 20.04.2009 21:29
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Teilnehmende des Internetseminars,


zunaechst moechte ich mich bei allen herzlich bedanken, die meinen Text gelesen und Ihre Gedanken dazu geaeussert haben. Vieles davon finde ich sehr anregend und angemessen. Unter geschaetzten Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Laendern mit unterschiedlichen akademischen Kulturen erlaube ich mir folgende kritische Bemerkung: Bei den Kommentaren aus Tscheljabinsk haette ich mir eine Wuerdigung meines Textes zu Beginn gewuenscht. So kam ich mir beim Lesen vor wie in einem deutschen Kolloquium, in dem selten lobende Stimmen zu hoeren sind und man stattdessen gleich damit beginnt, den Beitrag des oder der Vortragenden „auseinanderzunehmen“.

Wie Igor Narskij dankenswerterweise bemerkt, hat der Aufsatz ein bestimmtes Format, von dem man nicht alles erwarten kann. Er hat ihn als „guten Antragstext“ bezeichnet; ich wuerde ihn eher als Essay mit Fussnoten bezeichnen. Mir kam es darauf an, einige der grossen Linien aufzuzeigen, die ich in meinem Projekt herauszuarbeiten hoffe, dafuer musste manche Differenzierung unter den Tisch fallen. Das Buch, das das Endprodukt meiner Forschung sein wird, wird natuerlich anders aussehen.

Ich kann aus verschiedenen Gruenden nicht auf jede der vielen vorgetragenen Nachfragen, Einwaende und Anregungen angemessen antworten. Daher moechte ich allen versichern, dass ich alle Beitraege genau gelesen und zur Kenntnis genommen habe. Ich bitte um Verstaendnis dafuer, dass ich mich im Folgenden auf einige Punkte konzentriere.

Forschungsansatz „von oben“
Es ist richtig, dass meine Forschung in erster Linie Eliten untersucht, naemlich Wissenschaftler und Experten, Ingenieure und politisch Verantwortliche. Mir geht es nicht darum, den Eigensinn der Bauern bzw. der oertlichen Bevoelkerung zu erforschen. Dazu fehlen (mir) die Quellen, und es wuerde das Projekt auch sprengen. Allerdings sollen die Reaktionen der Bevoelkerung vor Ort durchaus in den Blick kommen, wo es moeglich ist. Wer meine Dissertation kennt, weiss, dass ich fuer Geschichte „von unten“ durchaus offen bin. Allerdings bin ich nicht der Meinung, dass bei jedem Thema diese Perspektive im Vordergrund stehen muss. Zentralasien im 19. und 20. Jahrhundert ist generell und speziell aus der Sicht einer neueren Kolonialismus- und Imperiumsforschung (ganz zu schweigen von Umweltgeschichte) bislang wenig untersucht. Schon allein deshalb ist es meines Erachtens legitim und notwendig, sich den Eliten und ihren Diskursen zuzuwenden.

Diskurse erforschen
Ich verstehe den Einwand von Christian Teichmann nicht, dass mit Wahrnehmungsmustern und diskursiven Mustern zu argumentieren ahistorisch sei (bei seinem Punkt 3). Demnach muessten solche Muster etwas ganz Statisches sein, das nicht historischem Wandel unterliegt. Offenbar werden sie hier als etwas verstanden, das irgendwo in irrelevanten Hoehen (oder Tiefen?) schwebt. Ich finde die Kontinuitaet der Diskurse nicht nur auffaellig, sondern auch sehr aussagekraeftig. Sie haben politisches Handeln nicht nur begleitet und gespiegelt, sondern auch begruendet. Allerdings ersetzt die Diskursanalyse natuerlich nicht die genaue Analyse konkreter Politik (sondern ist ein Teil von ihr), die ich punktuell leisten moechte und von der ich hoffe, dass Christian sie mit seinem Projekt fuer die Zwischenkriegszeit kohaerenter leisten kann.

Der zeitliche Endpunkt meines Projekts
Wie im ersten Satz meines Beitrags vermerkt, bleibt meine Untersuchung nicht in den 1960er Jahren stehen, sondern wird die gesamte sowjetische Periode bis 1991 erfassen und einen Ausblick auf die Zeit der Unabhaengigkeit Turkmenistans und Usbekistans beinhalten. Wie Aleksandr Fokin zu Recht bemerkt, sind die 1970er und 1980er Jahre eine spannende Zeit, in die eine oekologische und spaeter auch politische Krise der unter Chruscev und Breznev etablierten stabilen Herrschaft in den Republiken fiel. Die Umleitung der sibirischen Fluesse nach Zentralasien ist ein Projekt aelteren Ursprungs gewesen, das besonders seit Ende der 1970er Jahre wieder von Moskau und Taschkent favorisiert wurde. Bis heute ist diese Idee unter Ingenieuren und politisch Verantwortlichen in Usbekistan und Russland virulent, und sie dient mir in der Untersuchung als Gradmesser fuer die Staerke und Durchsetzungskraft derjenigen, die an der traditionellen sowjetischen Infrastruktur- und Erschliessungspolitik festhielten.

Kolonialismus und zarische Politik
Die Fragen von Rozalija Tscherepanova nach meinem Kolonialismusbegriff und den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen russischem und englischem oder franzoesischem Kolonialismus sind sehr weitgreifend. Was eine theoretische Bestimmung des Kolonialismusbegriffes betrifft, halte ich mich nach wie vor an die des deutschen Historikers Juergen Osterhammel (1). Allerdings hat sich dieser in Bezug auf Kolonialismus zu Russland wenig geaeussert. Die Diskussion, worin russischer Kolonialismus dem „westlichen“ gleicht und sich unterscheidet, ist allgemein noch ganz am Anfang. Soweit ich sehe, gibt es noch keine systematischen Vergleiche in dieser Richtung. Es ist zudem sehr fraglich, inwieweit eine Ost-West-Gegenueberstellung traegt und ob stattdessen nicht eine Perspektive eingenommen werden muss, die mindestens auch asiatische Imperien einbezieht. (2)
Von meiner Forschung ausgehend kann ich als Besonderheiten des russischen Kolonialismus zum einen bezeichnen, dass er an die traditionelle Nationalitaetenpolitik des Russischen Reiches anknuepfte; Beispiele sind hier die Toleranz gegenueber der Religion der unterworfenen Voelker und die relative Toleranz gegenueber dem nomadischen Lebensstil. Der Paternalismus der Autokratie im Russischen Reich hatte fuer die Einheimischen vor Ort einige Seiten der Milde und der Fuersorge. Dazu passt auch der Eindruck Igor Narskijs, dass die zarischen Beamten weniger rigoros die russlaendische (europaeische, moderne) gegen die einheimische (traditionelle) Welt abgrenzten als dies spaeter in der (fruehen) Sowjetunion haeufig geschah.
Zudem scheint mir fuer den russischen Kolonialismus kennzeichnend, dass der russlaendische Staat eine besondere Haltung zum Kapitalismus einnahm, was sich auch auf die Kolonie Turkestan auswirkte: privatwirtschaftliche Unternehmen wurden hier durchgaengig von Teilen der Eliten sehr skeptisch betrachtet, seien es die der Einheimischen oder russischer oder westlicher Provenienz. Generell scheint das Russische Reich den privaten Unternehmern deutlich weniger Raum gegeben zu haben, und das Verhaeltnis zwischen staatlicher Politik und privatwirtschaftlichem Engagement, das auch etwa im Falle des British Empire in Indien unterschiedliche Phasen durchlief, scheint ein anderes gewesen zu sein, wobei sich in Turkestan ab etwa 1900 der Staat, vor allem in Gestalt des Landwirtschaftsministeriums, aktiver als vorher einbrachte.
Eine Gemeinsamkeit zwischen russlaendischem Kolonialismus und „westlichem“ liegt, zunaechst einmal ganz allgemein, in der Existenz von, wie es Osterhammel formuliert, „sendungsideologische(n) Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Ueberzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Hoeherwertigkeit beruhen.“ (3) Es geht hier um Zivilisierungsmission und „kulturelle Homogenisierung“. Diese hatte im Russischen Reich allerdings die besondere Note, dass dessen Vertreter sich als Beauftragte Europas verstanden, die im Orient zivilisatorisch taetig werden mussten. Dass diese Haltung bei der russlaendischen Regierung mit den Erfahrungen der traditionellen „Steppenpolitik“ einherging, macht den russischen Fall so interessant.
Bezogen auf mein Thema sehe ich zudem Parallelen in der Erforschung der Kolonien durch westliche Wissenschaftler und Experten, im Erwerb des colonial knowledge sowie im Transfer von „europaeischer“ Technik in die Kolonien. Dabei hat juengere Forschung betont, dass es nicht nur um die Verbreitung eines vom europaeischen Zentrum ausgehenden Wissens in „Peripherien“ ging und auch nicht nur um die reine Ansammlung von Wissen ueber die Kolonie zur Unterstuetzung staatlichen Herrschaftshandelns. Wir haben es stattdessen mit einem komplexen Prozess von gegenseitiger Beeinflussung zu tun, der auf laengere Sicht die Aneignung von europaeischer Technik und Wissenschaft durch die Einheimischen beinhaltet. (4)
Letztlich haben viele russische zeitgenoessische Autoren des 19. und fruehen 20. Jahrhunderts das Russische Reich im Wettstreit mit anderen Kolonialmaechten, v.a. mit dem British Empire, gesehen; die Perspektive der Zeitgenossen legt also den Vergleich der Kolonialherrschaften nahe. Dabei galt ihnen zum einen der britische Kolonialismus in Indien als Massstab sowie als Ansporn zu kolonialen (technischen, infrastrukturellen) Leistungen, zum anderen grenzte man sich von diesem ab, um die behauptete Humanitaet der russlaendischen Herrschaft herauszustellen. (5)
Weitere Forschung zu den men on the spot, zur Auspraegung kolonialer Herrschaft vor Ort sowie zum Selbstverstaendnis der Kolonialisierer und zu deren politisch-administrativen Karrieren im Russischen Reich wird zeigen muessen, wie wir den russischen Kolonialismus in vergleichender Perspektive einordnen koennen. Ich bin mir sicher, dass diese naehere Charakterisierung ein wichtiger Impuls fuer die allgemeine Kolonialismus- und Imperienforschung sein kann.

1917 als Zaesur
Es ist sicher richtig, dass 1917 in Zentralasien nicht die gleiche Zaesur darstellte wie in Russland, und ich danke den Baslern fuer diesen wichtigen Hinweis. Trotzdem bleibt die Oktoberrevolution ja eine Epochenzaesur allgemeiner Art, die man nicht ignorieren kann, und als solche habe ich mich hier auf sie bezogen. Fuer mein Thema und in der Region selbst war ein wichtiger Einschnitt wohl vielmehr die Zeit des sich anschliessenden Buergerkriegs, die in Turkestan von schwerer Hungersnot begleitet war. Nach bisheriger Darstellung in der Literatur stellte sich jetzt erstmals das ein, was die russlaendischen zarischen Verwalter mit Erfolg hatten vermeiden koennen: eine Hungersnot infolge des UEbergangs zur Monokultur Baumwolle. Angesichts der versiegenden Getreidelieferungen aus Russland mussten die Bauern in Turkestan jetzt auf bittere Weise feststellen, dass man Baumwolle nicht essen kann. Sie kehrten zeitweilig wieder zum Getreideanbau zurueck, was die Erfolge der Zentralmacht beim Baumwollanbau zunaechst zunichte machte.

(Sowjetische) Moderne
Vladimir Kovin schlaegt vor, von der Zeit der „Grossen Aufklaerung“ (

Christian Teichmann, Berlin - 12.03.2009 10:01
Kommentar zu Julia Obertreis „Ordnung schaffen in Zentralasien“
23.02.2009

Liebe Julia,
da ich neben Klaus Gestwa zu denjenigen gehoere, die Dein Projekt ueber Moderne und Bewaesserung in Zentralasien von Anfang an verfolgt haben und sich zu verwandten Themen Gedanken machen, ist es ein wenig paradox, nun um eine schriftliche Stellungnahme gebeten zu werden, die sich explizit mit Deinen Ideen auseinandersetzt, von denen ich viel gelernt und profitiert habe. Aber Wissenschaft lebt, wenn ueberhaupt, von Diskussion und Meinungsaustausch. Also will ich zu drei Thesen Deines Papers kurz Stellung beziehen und nachfragen:
1. Kontinuitaet 1917. Was sagt die Betonung der Kontinuitaet des Scottschen „Lesbarmachens“ ueber den Umbruch von 1917 aus, wenn „staatliche und obrigkeitliche Politik schon immer danach gestrebt hat, nicht nur Menschen, sondern auch Zustaende und Bedingungen zu unterwerfen und sie durch eigene Kategorien handhabbar zu machen“ (S. 1, 6)? Wenn dies immer gilt, erklaert es wenig. Zumindest die revolutionaeren Ereignisse und die Entwicklung des russischen Staats mit seiner Modernisierungspolitik im 20. Jahrhunderts betreffend traegt diese These wenig zu einem besseren Verstaendnis bei: Waehrend 1917 definitiv ein Bruch in der politischen Fuehrungselite stattfand, so gab es bei den professionellen Russlands Eliten eine Kontinuitaet bis zum Ende der zwanziger Jahre. Viele Projekte der Zarenzeit wurden weitergefuehrt und die Sprache, mit der ueber „Modernisierung“ gesprochen wurde, veraenderte sich nicht. Jedoch: Manche Plaene fuer Bewaesserungskanaele waren schon unter Peter I. im fruehen 18. Jahrhundert angedacht worden und wurden in der Nachkriegssowjetunion unter voellig anderen technischen Voraussetzungen umgesetzt, wie zum Beispiel der Karakum-Kanal. Was aber sagt das ueber die „die Moderne“ und „die Zaesur von 1917“?
2. Nationalitaetenpolitik. Zur Schaffung der nationalen Republiken in Zentralasien 1924 wird im Paper die Aussage gemacht, „mit der Gruendung der Sowjetrepubliken in Zentralasien brachten es die Kommunisten zustande, in der traditionell multikulturellen und multiethnischen Region die Sprachen, Ethnie und Gebiete auseinanderzudividieren und eindeutig einander zuzuordnen.“ (S. 3) Man koennte einwenden, dass der Versuch einer „eindeutigen Zuordnung“ der Bevoelkerungen trotz aller Muehen nicht erreicht werden konnte und die neuen Grenzziehungen mehr Konflikte hervorriefen, als die loesten. Aber gerade in der Zeit des Stalin-Regimes, das fuer seine Tendenz zur „Ausloesung von Ambivalenz“ bekannt ist, zeigten sich auch gegenlaeufige Entwicklungen: Koreaner wurden 1937 nach Usbekistan deportiert, weil sie dort nach Meinung der Moskauer Fuehrung genauso gut Reis anbauen koennten wie im Fernen Osten; die Evakuierungen waehrend des zweiten Weltkriegs brachten „Fremde“ auch in entlegensten Doerfer Usbekistans; die Deportationen von Deutschen und Kaukasiern waehrend der vierziger Jahre vervollstaendigten das Bild von ethnischer Vielfalt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde von Intellektuellen und auch von der Moskauer Fuehrung Taschkent als die Stadt in Zentralasien gefeiert, gerade weil die „multiethnisch“ war. Kurz gefragt: Eignen sich die Homogenisierungsphantasien der Herrscher als Maßstab zur Beurteilung der Lebensrealitaet der Beherrschten?
3. Natur, Baumwolle und Bewaesserung. Dass Natur gezaehmt und unterworfen werden muss, war in der „Moderne“ Konsens (fraglich nur, ob dies nicht auch schon fuer die „Vormoderne“ zutraf – wie in den großen Bewaesserungskulturen in Mesopotamien und am Nil). Dies galt fuer die Natur in den Kolonien ebenso wie in den Mutterlaendern, wie David Blackbourn und andere juengst gezeigt haben. Russland deswegen zu einer Kolonialmacht zu erklaeren (S. 7, 9), weil dort, wie ueberall auf der Welt, Natur kontrollierbar gemacht werden sollte, ist daher nicht zwingend. Die pauschale Abwertung der Arbeitstechniken und Anbaumethoden von turkestanischen „tuzemcy“ legten die russischen Eliten auch gegenueber den russischen Bauern an den Tag: auch die „mužiki“ wurden als „primitiv“ und ihre Arbeitstechniken als „veraltet“ kritisiert. Zweitens: Die „große politische Bedeutung“ der Bewaesserung (S. 8) schlug sich vor 1917 eher diskursiv als in konkreten Bauprojekten nieder. (Die Hungersteppe mit ihrem unter groeßten Muehen zwischen 1901 und 1913 gebauten Romanov-Kanal war in der Tat das einzige Großprojekt vor 1924 – und dieses Argument greift nicht „zu kurz“ (S. 9), denn Plaene machen und Projekte in die Wirklichkeit umsetzen, ist ein Unterschied.) Drittens: Dass „selbst die einheimischen Baumwollsorten nicht produktiv genug waren und durch auslaendische ersetzt werden sollten“ (S. 8) dachten auch die Bauern in Turkestan, denn die ertragreicheren amerikanischen Sorten traten in den 1880er Jahren einen atemberaubenden Siegeszug an. Die Frage ist: Was ist Kolonialismus in einer Situation, in der alle vom Wandel profitieren?
„Radikale Moderne“ und Kolonialismus koennen Hand in Hand gehen und sich gegenseitig ergaenzen (S. 9). Dafuer gibt es in der neuesten Geschichte einige Beispiele (Japan!). Nur sind die in dem Paper zusammengetragenen Argumente, die diesen Zusammenhang auf das russische und sowjetische Zentralasien zwischen 1865 und 1965 uebertragen, nicht schluessig: Dass „Wahrnehmungsmuster“ ueber revolutionaere Zaesuren hinaus bestehen blieben (S. 9), ist ein ahistorisches Argument, das diskursive Muster beschreibt, aber zur Erklaerung konkreten Wandels in einer spezifischen Situation nicht viel beitragen kann. Dass „einheimische“ Anbautechniken von staatlichen Akteuren usurpiert und schließlich verdraengt werden (S. 9), ist das Grundthema der „Gruenen Revolution“ des 20. Jahrhunderts. Dieses globale Phaenomen trifft auf die sowjetische Situation nur als ein weiteres Beispiel der weltweiten Standardisierung in der Landwirtschaft zu. Und schließlich: Warum trotz „Baumwollkult“ und O

Basler Gruppe des Seminars - 27.02.2009 14:04
Liebe Frau Obertreis,

mit grosser Freude haben wir im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft zur juedischen und osteuropaeischen Geschichte am Mittwoch, 3. Dezember 08 Ihren Text: „Ordnung schaffen in Zentralasien – russlaendische und sowjetische Nationalitaeten-, Landwirtschafts- und Infrastrukturpolitik im heutigen Usbekistan und Turkmenistan, 1870er bis 1960er Jahre“ diskutiert. Ihr Text hat sehr viel Zustimmung erfahren. Zentralasien ist uns dadurch naeher gekommen. Wir haben eine Menge gelernt ueber die dortige „Modernisierung“ und vor allem ueber die Bedeutung der Bewaesserung. Einige Diskussionsbeitraege, die wir im Folgenden zusammenfassen, verstehen sich als Anregung zum weiteren Nachdenken und auch zur Praezisierung der Argumentation.


- Beim Begriff der Nation waere vielleicht noch schaerfer zu trennen zwischen der auf Stalin zurueckgehenden Konstruktion, die Nation eng an ein Territorium, eine Sprache usw. zu binden, und Nationsverstaendnissen in der gegenwaertigen Geschichtswissenschaft. Auf diese Weise wuerde wohl noch deutlicher, welche Art von Kolonisation und staatlicher Disziplinierung der Einheimischen betrieben wurde.
- Korenizacija meinte nebst der „Rekrutierung von Einheimischen in Partei-, Staats- und Wirtschaftsposten“ (S. 8) auch einen Freiraum, der es den Einheimischen ermoeglichte, ueber die Anerkennung ihrer Kultur in die zu bildende klassenlose Gesellschaft hineinzuwachsen. Dies bedeutete zumindest in der Theorie ein relativ hohes Mass an Autonomie (s. z. B. Karelien). Der Zentralismus der stalinistischen Praxis musste als Bruch dieser Politik verstanden werden, selbst wenn nach wie vor lokale Eliten gefoerdert wurden.
- Die Revolution von 1917 wurde in Zentralasien moeglicherweise als eine weniger einschneidende Zaesur erfahren, als es auf den ersten Blick aussieht. Schon im Zarenreich wurden verschiedene Modernisierungsprojekte in die Wege geleitet, uebte die staatliche Politik Einfluss auf den Alltag und die Gesellschaft aus. Nach der Revolution stellten sich viele WissenschaflerInnen in den Dienst der Sowjetmacht, weil sie von ihr die Verwirklichung der Projekte erhofften. Auch ist der gewaltige Schub in der Technisierung, sind Fortschritte in der Medizin, Chemie und Physik in erheblichem Masse Folgen des Ersten Weltkrieges. Hier waeren die Kontinuitaeten von der Zarenzeit bis in den Stalinismus zu untersuchen.
- Ebenso sollten Kontinuitaeten und Brueche der „einheimischen Sichtweisen“ (S. 12) verstaerkt in den Blick kommen, um nicht nur die Politik der Zentrale und der Eliten zu sehen.
- Wenn die Bewaesserungspolitik als ideologiegeleitet verstanden werden soll, dann koennte das typisch Sowjetische daran, etwa das „think big“, klarer herausgearbeitet werden. Es waere zu fragen, was sie von aehnlichen Modernisierungsprojekten in anderen Regionen der Welt unterscheidet.
- Welche Moderne wird betrachtet, die sowjetische oder die Sowjetische? Hier koennten wir an die Diskussion am Studientag anknuepfen und eroertern, fuer welche Fragestellungen sinnvollerweise der Schwerpunkt der Arbeit von der Moderne und dem Blick „von oben“ ausgehen und fuer welche eher der Blick von den Menschen, ihren Lebenswelten und ihrem Handeln sowie den Folgen der Herrschaftstechniken, die ihnen gegenueber angewendet wurden, leitend sein sollte.
- Eine kleine Bemerkung zu Ihrem Schluss: Ist der Anspruch an irgendeine Politik, eine Weltsicht sofort zu ersetzen, nicht ueberhaupt vermessen?

Wir sind sehr gespannt auf Ihre weitere Forschungsarbeit.

Mit freundlichen Gruessen
Alle Teilnehmenden des Kolloquiums

URC FREEnet

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