Archive Schafe, Skifahrer, Sozialisten. Die Tatra als Naturraum nach 194531.12.2011, 14:38 Bianca Hoenig, Basel
In der Sueddeutschen Zeitung vom 18. August dieses Jahres erschien ein Artikel mit dem Titel ?Angriff auf ein Paradies?. Darin schildert der Autor Klaus Brill einen Konflikt um die Zukunft des slowakischen Wahrzeichens, des Gebirges der Hohen Tatra. Bisher habe die Natur der Tatra sich von Menschen weitgehend unangetastet entwickeln koennen, sodass sich das Gebirge seinen urspruenglichen Charakter, eben als ?Paradies?, bewahren konnte. Zwanzig Jahre nach der Systemtransformation jedoch sei es mit der Ruhe vorbei, denn die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen dringen auch in diesen verlassenen Winkel des ehemaligen Ostblocks vor. Immer mehr Menschen haetten in den vergangenen Jahren die Berge fuer sich entdeckt, von denen sie sich eine Auszeit aus dem Alltag, das Erlebnis von Landschaftspanoramen sowie Sport- und Erholungsmoeglichkeiten versprechen. Das wachsende oeffentliche Interesse gehe einher mit dem Bau von Strassen und Bergbahnen, Hotels und Skipisten. Das sich daraus ergebende Dilemma ist uns aus anderen Gegenden, etwa den Alpen, wohlbekannt [ZITAT]: ?Naturschuetzer und Wissenschaftler streiten mit Investoren und Kommunalpolitikern darum, wie viel Naturschutz unumgaenglich und wie viel Freizeitvergnuegen hinnehmbar ist.?
Die Interpretation, die uns Brill hier vorlegt, schliesst unter umgekehrten Vorzeichen an diejenigen Argumentationen an, die wir letztes Mal diskutiert haben. Eigentlich, so Ivan Volgyes, muesste sich das sozialistische System mit starkem Staat und ohne wirtschaftliche Partikularinteressen viel besser eignen, um die Umwelt zu schuetzen, als der Kapitalismus. Dennoch seien die Umweltschaeden in Osteuropa gravierend, und dies wegen des ruecksichtslosen und ungebremsten Industrialisierungsprozesses. Dieser, um an Victor Ferkiss anzuknuepfen, steht in der Tradition marxistischen Denkens, die Natur als dem Menschen unterworfenes, formbares Element zu verstehen. Die Industrialisierung werde deshalb als Vervollkommnung der Natur verstanden, die ihren symbolischen und propagandistischen Hoehepunkt in Grossbauwerken wie Staudaemmen und Industriekombinaten findet. In unserem Zeitungsartikel ueber die Tatra, das von Touristen und Immobilieninvestoren bedrohte Paradies, findet sich das argumentative Gegenstueck dazu: Waehrend im Sozialismus volkswirtschaftlich bedeutende Regionen ruecksichtslos umgestaltet und ausgebeutet wurden, seien fuer die Industrie uninteressante Gebiete gar nicht erst in den Blick der Nomenklatur gekommen. Die Tatra sei so im Sozialismus in einen Dornroeschenschlaf gefallen, den erst der Einzug von Demokratie und Marktwirtschaft in der Slowakei beendet habe.
Diese Deutung des Staatssozialismus als unbewusstem Naturschuetzer aus Ignoranz ist weit verbreitet und findet sich nicht nur in Bezug auf die Tatra und im SZ-Feuilleton. Sie bildet die Kehrseite zu der Aufmerksamkeit, die die sozialistischen Grossbaustellen und die Umweltzerstoerung in Osteuropa sowohl im zeitgenoessischen Diskurs als auch in der Historiographie erhalten haben. Mich interessiert jedoch keines dieser beiden Felder, sondern eben das vermeintliche Naturparadies Tatra. An diesem Beispiel untersuche ich, wie sozialistische Gesellschaften im Alltag mit Natur umgingen.
In meinem Dissertationsprojekt interessiere ich mich besonders fuer die verschiedenen Vorstellungen und Ideen, wie das Gebirge alltaeglich und massenhaft genutzt werden sollte. Konkret handelte es sich um folgende Arten, mit Natur umzugehen: Tourismus, Sport, Naturschutz und wissenschaftliche Erforschung, Landwirtschaft, medizinische Aufenthalte (also Kuren). Diese Konzepte von der Nutzung des Naturraums Tatra standen in vielfaeltigen und wechselhaften Beziehungen zueinander: Sie konnten sich ergaenzen, bedingen, miteinander konkurrieren oder einander ausschliessen. Ihnen allen gemein war aber, dass die Vertreter dieser Interessengruppen die Relevanz der jeweiligen Nutzungsvorstellung plausibel machen mussten, um oeffentliche Akzeptanz zu erlangen. Die Natur der Tatra verstehe ich also als knappe Ressource, um die verschiedene Interessen konkurrierten.
Indem ich die Bemuehungen der verschiedenen Nutzergruppen, gesellschaftliche Relevanz geltend zu machen, und die Aushandlungsprozesse zwischen den Anhaengern konkurrierender Nutzungskonzepte untersuche, moechte ich die zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Bedeutungen freilegen. Die Frage, wer gesellschaftlich anerkannt Natur wie fuer sich nutzen darf, verweist auf die in einer Gesellschaft akzeptierten Ideen von AEsthetik und Gerechtigkeit. Durch die Analyse der Beziehungen und Konkurrenzen von Schafen, Skifahrern und anderen Tatranutzern hoffe ich, Aussagen ueber diese grundlegende Ebene sozialistischer Gesellschaften treffen zu koennen. Auf diesem Weg strebe ich eine ?Normalisierung? des Bildes vom Naturumgang im Sozialismus an.
Ich gehe dabei davon aus, dass das gewaehlte Fallbeispiel es mir erlaubt, die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse in Bezug auf Natur in besonderer Deutlichkeit zu erkennen. Inhaltlich gibt es dafuer aus meiner Sicht drei Argumente: Zunaechst handelt es sich bei der im Grenzgebiet von Polen und der heutigen Slowakei gelegenen Tatra um das ?kleinste Hochgebirge der Welt?. Ihr Relief wie auch die dortige Flora und Fauna sind einzigartig. Aus diesem Grunde war hier die Nutzungskonkurrenz besonders pointiert, einfach da das Gebirge klein und die Natur begehrt war [dies insbesondere in Abgrenzung zur Sowjetunion, wo Natur einfach grossflaechiger strukturiert war]. Zweitens ist die Tatra in beiden Laendern ein Nationalsymbol, sodass der Umgang mit ihr symbolisch besonders aufgeladen war [Hymne, Flagge, Kunst]. Drittens war die Tatra ein ziemlich belebtes Stueck Natur, das bereits im 19. Jahrhundert als Reiseziel entdeckt worden war und dessen Bedeutung nach dem Zweiten Weltkrieg noch zunahm. Methodisch kommt noch ein Argument hinzu, naemlich die Moeglichkeit, mit einer Studie ueber eine zusammenhaengende Region zwei Laender zu betrachten. Es handelt sich somit weniger um einen symmetrischen Vergleich von A und B, sondern um die kombinierte Anschauung der zwei Teile einer Grenzregion, wobei etwa auch Fragen von direkten Kontakten verhandelt werden. Da ich mir hier bereits zwei staatssozialistische Laender anschaue, kann ich hoffentlich verallgemeinerbare Feststellungen fuer den Ostblock treffen.
Wenn ich nun die Systemfrage stelle, gilt es zu klaeren, ob mein Untersuchungsgegenstand spezifisch sozialistisch war oder generelle Zuege des modernen Umgangs mit Natur aufwies. Meine derzeitige Antwort darauf ist ein entschiedenes Jein. Waehrend es Bereiche gab, die ich eindeutig im Kontext sozialistischer Staatlichkeit verorten wuerde, sind die Konvergenzen und Kontinuitaeten nicht zu uebersehen, die die Tatra zwischen 1945 und 1989 mit den politischen Vorgaengerordnungen und der kapitalistischen Konkurrenz verbanden. Im Folgenden moechte ich drei Felder unter diesem Blickwinkel betrachten. Zuerst widme ich mich der allgemeinen Problematik von Nutzungskonkurrenzen in Naturraeumen. Dann wende ich mich explizit meinem Fallbeispiel zu und untersuche den Diskurs ueber die legitime Nutzung der Tatra. Am Ende werde ich anhand eines Beispiels die Nutzungspraxis in der Tatra illustrieren. Ich gehe dabei umgekehrt vor, wie mein Titel lautet. Waehrend ich zunaechst die Sozialisten in den Mittelpunkt ruecke, geht es anschliessend schwerpunktmaessig um Tourismus, also u. a. um die Skifahrer. Schliesslich stehen dann die Schafe im Mittelpunkt.
Entsprechend der jeweiligen Ebene unterscheidet sich die Quellenbasis, die ich herangezogen habe: Im ersten Abschnitt stelle ich anhand der Sekundaerliteratur den Forschungsstand zum Thema Naturbild und -nutzung dar. In Bezug auf mein Fallbeispiel verwende ich publiziertes Material, um den oeffentlichen Diskurs vorzustellen. Hier werte ich populaerwissenschaftliche Publikationen sowie die Formate Bildband, Reisefuehrer und Werbematerial/Broschueren aus. Fuer die Ebene der Praxis werde ich auf ein Beispiel aus den Bestaenden des Slowakischen Nationalarchivs in Bratislava zurueckgreifen. Generell beziehe ich mich im Folgenden auf die Nachkriegszeit bis zum Ende der 50er Jahre. Entwicklungen im Spaetsozialismus blende ich hier aus.
I. Das Dilemma von Naturbewahrung und Naturnutzung ? Natur als knappe Ressource moderner Gesellschaften
Jedem, der sich ab und zu in der Natur bewegt, sind solche Schilder wohlvertraut: In abgegrenzten Kaestchen jeweils eine kleine Zeichnung. Jedes Symbol entspricht einer Verhaltensmassregel, die der Besucher in der Natur beachten sollte: Kein Feuer machen, nicht die Wege verlassen, keine Pflanzen abreissen u. s. w. Solche Hinweise werden in Naturschutzgebieten aufgestellt, um den Umgang mit Natur zu steuern. Damit sollen verschiedene Interessen vereinbart werden, die sich grundsaetzlich kontraer gegenueberstehen: Auf der einen Seite existieren verschieden geartete gesellschaftliche Ansprueche auf den natuerlichen Raum. Er verheisst Erholung von Alltagsstress und Stadtluft, bietet Moeglichkeiten zum spazieren gehen, wandern, bergsteigen, schwimmen oder Ski fahren (je nach Naturraum, der in den Blick geraet), aesthetischen Genuss, Erbauung, wie auch immer. Dem entgegen steht die Absicht, die Natur vor einem allzu grossen menschlichen Zugriff zu schuetzen und sie vor Zerstoerung zu bewahren. Dies kann durch aesthetische, wissenschaftliche, oekologische oder andere Gruende motiviert sein. Das Schild mit den Geboten und Verboten stellt nun den positiv gewendeten Versuch dar, diese verschiedenen Forderungen miteinander zu vereinbaren, indem der Besuch des Gebiets zwar gestattet, aber auf bestimmte Nutzungsarten reduziert und mit Verhaltensmassregeln versehen ist.
Die Problematik zwischen der Oeffnung eines Naturraums fuer gesellschaftliche Belange und seiner Abschottung vor einem ungebremsten menschlichen Zugriff ist eine Konstante moderner Gesellschaften in ihrer Beziehung zur Natur. Wir haben dies bereits letzte Woche angesprochen: Mit der ?Entdeckung? von Waeldern, Straenden und Bergen als ?Landschaft? in der Romantik und mit der sich ausbreitenden Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert wurde Natur neu beschrieben als etwas Aesthetisches, immer mehr aber auch als etwas Knappes, Bedrohtes.
In der Tatra erwachte das Bewusstsein fuer die schuetzenswerte Natur schon in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts. Vor allem auf der polnischen Seite des Gebirges formierten sich buergerliche Kraefte und gruendeten 1874 die Polnische Tatragesellschaft, die sich gleichzeitig dem Schutz und der Propagierung dieser Region verschrieben hatte. In den folgenden Jahrzehnten und bis nach dem Zweiten Weltkrieg spielten die polnischen Tatraaktivisten international eine bedeutende Rolle. Der Plan, einen Nationalpark einzurichten, scheiterte in den 30er Jahren nur knapp. Verwirklicht wurde er schliesslich in der Nachkriegszeit, und zwar 1949 auf der tschechoslowakischen, 1954 auf der polnischen Seite. Der Naturschutz in der Tatra war damit Teil einer weltweiten Bewegung, die eine Loesung auf ein Problem mit globalen Ausmassen suchte.
Mit der Einrichtung des Nationalparks gewann die Konkurrenz um die Ressource ?Tatra? eine neue Dimension. Das Gebirge besass nun offiziell den Status als schuetzenswertes Gelaende, es gab eine Verordnung ueber zulaessige Eingriffe, die Naturschuetzer konnten also aufatmen. Andererseits war damit der Zutritt fuer die Bevoelkerung gesetzlich garantiert. Das Gebirge war zu einer Art allgemeinem Eigentum geworden, und verschiedene Interessengruppen konnten ihre Vorstellungen von der richtigen Nutzung der Tatra auf diesem Status basieren. In der Volksdemokratie war die Tatra nun offiziell vergemeinschaftet worden, Ansprueche auf sie mussten umso mehr ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen, um Legitimitaet beanspruchen zu koennen.
Dieser Bezug auf das gesellschaftliche Interesse verweist auf ein wichtiges Spezifikum des von mir untersuchten sozialistischen Kontextes. Sowohl die kommunikativen und legalen Mechanismen als auch das Verstaendnis von der staatlichen Gemeinschaft, fuer die sich die Relevanz zeigen sollte, unterschieden sich von den Verhaeltnissen in einer westlichen Demokratie: Nach 1945 wurden die bisherigen Naturschutz-, Tourismus- und Sportverbaende in zentralisierte Massenorganisationen ueberfuehrt, die die oeffentliche Debatte bestimmten. Fortan sollten sie an der Errichtung einer sozialistischen Ordnung mitwirken. Die Verwirklichung der sozialistischen Utopie unter sowjetischer Regie als oberste Staatsraison praegte auch die Auseinandersetzung um die Tatra. Die Akteure mussten sich diesem Ziel unterordnen und konnten keine freie Debatte anstrengen. Einige Interessengruppen, etwa die Naturschuetzer, verloren an Einfluss, andere, so die Tourismuslobbyisten, wurden in der neuen Ordnung wichtiger. Die staatliche Planung erstreckte sich auch auf die Bewirtschaftung der Tatra, Privatinvestoren fielen aus. Vor allem veraenderte sich das oeffentliche Sprechen ueber die verschiedenen mit dem Gebirge verbundenen Aktivitaeten. Damit komme ich zum naechsten Abschnitt meiner Ausfuehrungen, dem Tatradiskurs nach 1945. Den Schwerpunkt werde ich hierbei auf den Tourismus legen, der in der oeffentlichen Repraesentation der Tatra besonders wichtig war.
II. Naturbegriff und Vorstellungen von Naturnutzung im sozialistischen Kontext
Schon in der Erzaehlung der Geschichte vom Gebirge und seinen Menschen wurde der Bruch mit der Vergangenheit diskursiv vollzogen. Waehrend vor dem Ersten Weltkrieg die Tatra Grossgrundbesitzern gehoert habe, haetten in der Zwischenkriegszeit die reichen Bourgeois die Vorherrschaft uebernommen. Jedes Mal sei das Volk um sein Recht betrogen worden, die Schoenheit der Berge sei reserviert gewesen fuer eine exklusive Minderheit. Der Wendepunkt in dieser Erzaehlung kommt dann mit der Machtuebernahme durch die Sozialisten 1944/45 in Polen, 1948 in der Tschechoslowakei. Besonders blumig, und das will ich Ihnen nicht vorenthalten, schildert ein tschechoslowakischer Bildband von 1953 den Effekt fuer Mensch und Natur:
?In den Hotels und Sanatorien der Tatra geben sich nicht mehr wie frueher ungarische Feudalherren und die Angehoerigen der tschechischen und slowakischen Bourgeoisie dem Muessiggang hin. (...) Werktaetige aus allen Teilen des Landes stroemen heute hier zusammen, um in der klaren Hochgebirgsluft neue Kraefte fuer ihre weitere Arbeit zu schoepfen.
Ehemals unfreie Lohnsklaven, heute freie Menschen, kommen sie im Sommer und im Winter hierher, steigen durch die Taeler zu den Gipfeln der Tatra empor, bewundern in dem erst unlaengst errichteten Tatra-Nationalpark die praechtige Tatraflora und erleben die hinreissenden Naturschoenheiten der Tatra so voll und ganz, wie es die gefuehlsarme, blasierte und kosmopolitische Bourgeoisie nie tun konnte.? (1)
Hier kommen die zentralen Diskursstraenge in Bezug auf die nun sozialistische Tatra vereint vor: Anstatt einer reichen Oberschicht stehe sie nun Werktaetigen aus dem ganzen Land offen, die sich hier erholen und neue Kraefte fuer den weiteren Aufbau erlangen koennten. Auf dieses Ziel ausgerichtet sind ebenso zwei andere Elemente in diesem Zitat: die koerperliche Ertuechtigung beim Erklimmen der Gipfel wie auch das aesthetische Erlebnis der Bergwelt.
Die Natur stellte in dieser Lesart keinesfalls einen Selbstzweck dar, sondern war in mehrfacher Hinsicht dem Menschen in der sozialistischen Gesellschaft zu Diensten. Zentraler Topos war die Zugaenglichkeit fuer die breiteste Masse der Bevoelkerung. Dass es sich bei dieser Deutung um den quasi hegemonialen Diskurs in der Nachkriegszeit handelte, laesst sich daraus ersehen, dass aus dem buergerlichen Milieu stammende Akteure der Zwischenkriegszeit, die auch nach dem Krieg eine wichtige Funktion bei der Popularisierung der Tatra ausuebten, auf diesen ?proletarischen? Nutzungsdiskurs einschwenkten. Zwar hatten sie bereits vor dem Krieg die weitere touristische Erschliessung des Gebirges gefordert, doch hatte diese vor allen Dingen auf das buergerliche Milieu abgezielt und keineswegs auf eine solch massenhafte Zugaenglichkeit, wie sie in der neuen Ordnung realisiert werden sollte. Die proletarische Popularisierung in kategorischer Abgrenzung zum buergerlichen Denken stellte sich so als die bestimmende Sagbarkeit heraus.
In seiner oeffentlichen Repraesentation war der sozialistische Tourist tugendhaft und ruecksichtsvoll in Bezug auf Mensch, Tier und Natur. Als negatives Gegenstueck zu den Gebotstafeln fuer richtiges Verhalten in Naturschutzgebieten, wie wir sie vorhin gesehen haben, zeichnete der oeffentliche Diskurs in Wort und Bild immer wieder den unkultivierten Anti-Touristen. Dieser war nicht richtig ausgeruestet, liess seine Abfaelle zurueck, pflueckte Blumen am Wegrand und erschreckte Tiere, laermte und trank Alkohol.
Das Idealbild des Touristen entsprach somit an sich den buergerlichen Vorstellungen der Vorkriegszeit. Allerdings sollte der Arbeitertourismus ja eine Massenbewegung sein und nahm tatsaechlich nach dem Zweiten Weltkrieg stetig zu, womit die Problematik der Nutzungskonkurrenz ungekannte Brisanz erhielt. Diskursiv wurde sie ausgetragen, indem die gesellschaftliche Relevanz der verschiedenen Nutzungsformen betont wurde. Um Legitimitaet beanspruchen zu koennen, beharrten die Vertreter der Nutzergruppen auf der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung ihrer jeweiligen Taetigkeit. So sprachen die Naturwissenschaftler vom Fortschritt durch die Erforschung der Naturphaenomene, die Tourismusaktivisten vom Neuen Menschen, die Naturschuetzer von der kulturellen Reife des Sozialismus.
Der Schluessel zu der diskursiven Koexistenz all dieser Konzepte, wie das kleine Gebirge zu nutzen sei, lag aber in der Kultiviertheit aller Beteiligten. Der wohlerzogene Tourist etwa sollte auch Naturschuetzer im Dienste der Allgemeinheit sein. Mit dieser Argumentation konnten die Naturschuetzer sich an die populaere Forderung nach allgemeiner Zugaenglichkeit anhaengen, die eigentlich noch nie im Sinne des Naturschutzes gewesen war. In einer populaerwissenschaftlichen Abhandlung aus der Tschechoslowakei zum Tatranationalpark von 1956 heisst es dazu:
?Hunderttausende unserer Werktaetigen besuchen jaehrlich das Gebiet des Tatranationalparks, berauschen sich am Zauber seiner Natur und schoepfen hier neue Kraefte fuer die Arbeit am Aufbau ihrer Heimat. Immer weiter waechst die Zahl derer, denen der Aufenthalt in der Tatra dank des Schutzes der Tatranatur unvergessliche Erlebnisse beschert hat. Je eher aus jedem Besucher der Tatra ein aktiver Helfer beim Schutz der dortigen Natur wird, desto eher werden wir aus diesem unserem groessten Naturreservat eines der Naturschmuckstuecke unseres Staates und Europas machen.? (2)
Obwohl die Naturschutzlobby mit ihrer konservativen Auffassung von Natur und der Forderung nach begrenztem Zugang zur Tatra in der neuen Ordnung eigentlich relativ schlechte Chancen hatte, Gehoer zu finden, gelang es ihr, sich der Forderung nach massenhafter Zugaenglichkeit anzuschliessen. Der Naturschutz wurde in dieser Interpretation erst zum Pruefstein fuer den proletarischen ? also aktiven, aufgeklaerten, bewussten ? Touristen.
III. Nutzungsansprueche und -konkurrenzen in der Praxis: Aushandlung und gesellschaftliche Relevanz
In einem letzten Schritt moechte ich den Blick darauf lenken, wie sich die Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Nutzungskonzepten in der Praxis abspielten. Dazu kann ich noch weit weniger sagen als zur diskursiven Ebene, weil ich mich bisher auf die Auswertung der gedruckten Dokumente konzentriert habe, jedoch noch weit weniger Quellen gesichtet habe, die ueber die Praxis Auskunft geben. Solche Informationen erhoffe ich mir dann, insbesondere vor Ort zu finden ? in den Archiven des Tatranationalparks, des Tatramuseums und den Unterlagen der regionalen Institutionen.
Es geht nun um eine traditionelle Nutzergruppe des Gebirges, naemlich die Schafe. Sie waren das Hauptaergernis vieler Mitspieler in der Konkurrenz um die Nutzung der Tatra und gleichzeitig ein wandelndes Symbol der angeblich vormals ausbeuterischen kapitalistischen Strukturen. Ihre Praesenz war insbesondere den Naturschuetzern ein Dorn im Auge, die unbarmherzig auf die Schaeden hinwiesen, die der Auftrieb der Schafherden in das Hochgebirge verursachte. Dass die Schafhirten mit ihren Herden seit jeher die Grenze ueberquerten, um zu ihren Weidegruenden zu gelangen, konnte wiederum dem Zentralstaat nicht recht sein.
Die Gegnerschaft gegenueber den Schafen liess sich in den neuen Sagbarkeiten ganz besonders gut artikulieren: Weil die (zunaechst adligen, dann bourgeoisen) Grossgrundbesitzer das fruchtbare Land fuer sich reserviert haetten, sei der ansaessigen Bevoelkerung nichts anderes uebrig geblieben, als ihre Tierherden immer hoeher in das immer unwirtlichere Gebirge zu treiben. Mensch wie Tier seien so unter den ehemaligen sozialen Verhaeltnissen an den Rand der Existenz wie auch an die aeusserste Peripherie des Landes gedraengt worden. Darueber hinaus waren die Schafe in der sozialistischen Ordnung natuerlich auch das Sinnbild einer archaischen Wirtschaftsordnung. Die Tatrabauern sollten ihre extensive Viehwirtschaft aufgeben und sich am industriellen Aufbau des Landes beteiligen. Spaeter kam noch der expandierende Tourismussektor als Wirtschaftsfaktor in der Region dazu.
Dieser Deutung zum Trotz hatte es schon vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit Bemuehungen gegeben, die Weidewirtschaft einzudaemmen. In den Statuten der beiden Nationalparks war sie dann endgueltig verboten worden. Tatsaechlich blieben die Schafe aber auch nach dem Systemwechsel ein Problem, das umso groesser wurde, je wichtiger Tourismus und Sport als Massenveranstaltungen in der Tatra wurden. In den Akten in Bratislava und Prag (fuer Polen habe ich dies noch nicht ausgewertet) finden sich immer wieder Klagen, Kritiken, Eingaben in Bezug auf das Weidevieh in der Tatra. Haeufig stammten diese Briefe von Naturwissenschaftlern der Universitaeten oder Akademie der Wissenschaften, die in Appellen auf den ihrer Meinung nach alarmierenden Zustand der Flora in dem Hochgebirge hinwiesen.
Eines dieser Eingabeschreiben moechte ich Ihnen nun naeher vorstellen, da es m. E. sehr schoen deutlich macht, wie vielschichtig die Herrschaftsverhaeltnisse waren, die in der Aushandlung ueber die legitime Nutzung der Ressource Tatra zutage traten. Es handelt sich um ein Schreiben eines Vertreters der Nationalparkleitung an den tschechoslowakischen Regierungsvorsitzenden, Viliam ?irok?, vom 9. Juni 1954. Er schreibt darin, dass der wissenschaftliche Beirat des Nationalparks sich mit folgender Angelegenheit an den Regierungschef wendet: Am 1. und 2. Juni des Jahres, also nur eine gute Woche zuvor, haetten Bewohner umliegender Gemeinden ?eigenmaechtig und unrechtmaessig? ihre Schafe in ein Teilgebiet der Tatra getrieben. Der Autor betont, dass die Bauern diesen Schritt rein demonstrativ unternommen haetten, da es fuer das Vieh zu dieser Jahreszeit noch ueberhaupt nicht genuegend Futter gebe. Traditionell werde das Vieh nie vor dem 15. Juni in die Berge getrieben. Daran schliessend betont der Autor die volkswirtschaftlichen Schaeden: Der wirtschaftliche Effekt dieser Weidemethode stehe in keinem Verhaeltnis zu der Beeintraechtigung des Gebiets, ganz abgesehen von seiner Bedeutung fuer Tourismus, Sport und Erholung fuer die Werktaetigen der ganzen Republik. Erst danach kommt der Verweis auf die Schaedigung von Flora und Fauna und auf die eigentliche Aufgabe des Verfassers und seiner Behoerde: die Bewahrung der Natur aus ideellen, also aesthetischen und moralischen Gruenden. Den Hoehepunkt der Argumentation bildet die Beteuerung, dass erst die volksdemokratische Regierung nach dem Krieg dieses schon lange vorher geforderte Gesetz zum Schutz der Tatra haette verwirklichen koennen.
In dem letzten Abschnitt des dreiseitigen Briefes zieht der Autor nun Konsequenzen aus der vorherigen Darlegung: Er fordert das Eingreifen der Regierung gegen die in seinen Augen unhaltbaren Zustaende und schlaegt eine Loesung vor. Diese ist aus meiner Sicht unerwartet, denn er fordert keine Bestrafung der verantwortlichen Bauern, sondern uebt Kritik an der Regierung. Der Staat habe es vernachlaessigt, genuegend Weideflaeche im Flachland unterhalb der Berge bereitzustellen, sodass die Schafzuechter aus purer Not in den Nationalpark eindraengen. Das Angebot an Schafweiden zu verbessern, sei die einzige Moeglichkeit, dem Problem beizukommen. Deshalb bittet der Verfasser den Regierungsvorsitzenden persoenlich, Schritte in diese Richtung einzuleiten, um Unfrieden und weitere Schaeden abzuwenden.
Indem der Vertreter der Nationalparkverwaltung alle Register des anerkannten Diskurses zieht, weist er auf den Stellenwert seiner Institution, die sich ja nicht gerade im Herzen des sozialistischen Moderneprojekts befand, innerhalb der herrschenden Ordnung hin. Auch verleiht er damit seinem Vorschlag, wie mit dem Problem umzugehen sei, Legitimitaet. Untermauert wird die Forderung durch mehrere wissenschaftliche Gutachten, die die durch die Schafe verursachten Schaeden bestaetigen und auf die vorgeschlagene Loesung draengen. Hier arbeiteten also die Vertreter von Naturschutz und Wissenschaft zusammen, um ihr Ziel zu erreichen.
Im gleichen Monat noch kam es zu Reaktionen auf diesen Vorstoss: Das slowakische Landwirtschaftsamt erstellte ein Gutachten, in dem es in Zusammenarbeit mit den betroffenen Bezirken Verbesserungsmoeglichkeiten aufzeigte. Das staatliche Landwirtschaftsministerium in Prag genehmigte diese Vorschlaege und draengte auf eine schnelle und vernehmliche Loesung des Problems.
Damit schliesst die Akte, und ich kann noch keine weiteren Aussagen ueber den Fortgang dieser Geschichte machen. Die allgemeine Problematik, Schafe auf dem Gebiet des Nationalparks zu weiden, blieb weiter bestehen. Allerdings wurden die Klagen seltener, und auch in der Presse erhoben die Naturschuetzer ihre Stimme weniger haeufig.
Welche Schluesse lassen sich aus diesem kleinen Fallbeispiel auf die Aushandlung verschiedener Nutzungskonzepte in der Praxis ziehen? Auffaellig ist zunaechst die Wirksamkeit des oeffentlichen Diskurses fuer die interne Kommunikation. Der Vertreter des Nationalparks formulierte sein Anliegen in denjenigen Kategorien, die ihm und seiner Sache Relevanz und Legitimitaet verleihen sollten. In Zusammenhang damit steht die Form der Forderung als Eingabe an den Regierungsvorsitzenden, die als spezifische Kommunikationsform in staatssozialistischen Herrschaftsgefuegen gilt. Der Form gegenueber steht die inhaltliche Argumentation, die sich nicht an Modernisierungstopoi orientiert, sondern an den Verhaeltnissen vor Ort. Das Weiden der Schafe in ihrer traditionellen Form wird akzeptiert, stattdessen wird der Zentralstaat in Prag aufgefordert, fuer eine Verbesserung der Verhaeltnisse zu sorgen. Die Allzustaendigkeit und das Versprechen auf ein besseres Leben durch das System werden hier beim Wort genommen. Um hier Erfolg zu erzielen, arbeiteten verschiedene Nutzergruppen zusammen, die in anderen Faellen durchaus entgegengesetzte Interessen vertreten konnten. Nicht zuletzt wird hier deutlich, wie die Natur nicht blosses Objekt einer vom Menschen gesteuerten sozialistischen Transformation war, sondern wie die Schafe Akteursqualitaet gewannen, auf die das System reagieren musste.
Fazit
Lassen Sie mich abschliessend meine Ergebnisse zusammenfassen. In meiner Dissertation geht es mir am Beispiel der Tatra um die Frage, wie sozialistische Gesellschaften mit einem Naturraum umgingen, der sich nicht fuer die grossangelegte Umgestaltung im Programm der sozialistischen Moderne eignete. Ich argumentiere, dass sich durch die Untersuchung von alltaeglichen Nutzungsformen von Natur Erkenntnisse ueber die Funktionsweise und Vorstellungswelten sozialistischer Gesellschaften gewinnen lassen und sich unser Bild vom Umgang mit Natur im Staatssozialismus vervollstaendigen laesst. Dazu betrachte ich das Aufeinandertreffen und die Aushandlungsprozesse zwischen den Vertretern verschiedener Nutzungskonzepte. Ich gehe davon aus, dass die Natur der Tatra eine knappe Ressource darstellte, um deren Nutzung verschiedene Gruppen konkurrierten. Um ihre Nutzungsvorstellung durchzusetzen, mussten sie gesellschaftliche Relevanz erringen.
Zentral ist dabei die Frage, inwiefern es sich hier um das Spezifikum sozialistischer Ordnungen handelte. Dieser Problematik habe ich mich auf drei Ebenen genaehert. In Bezug auf die Problemlage eines gesellschaftlich umkaempften Naturraums habe ich festgestellt, dass es sich hier um ein generelles Phaenomen moderner Gesellschaften handelt. Im Fall der Tatra nach 1945 wurden die Spielregeln der Aushandlungsprozesse aber beim Aufbau sozialistischer Staats- und Wirtschaftsstrukturen abweichend vom ?Westen? festgelegt.
Deutlich zeigt sich diese Abweichung in der diskursiven Verhandlung der Tatranutzung. Zentraler Topos wurde die allgemeine Zugaenglichkeit, die sich vor allem ueber den Tourismus abspielte, aber auch die anderen Nutzungskonzepte beruehrte. Um die eigenen Ziele durchzusetzen, war es notwendig, den eigenen Beitrag beim Aufbau des neuen Systems zu betonen.
In meinem Beispiel zur Aushandlungspraxis wurde einerseits deutlich, wie sehr dieser oeffentliche Diskurs auch interne Ablaeufe bestimmte. Auch die Form und die Konsequenz der Forderung waren den Umstaenden der sozialistischen Ordnung geschuldet. Das Problem wie auch die Loesungsvorschlaege liessen sich aber auch in anderen Kontexten wiederfinden.
Die Frage danach, was dem Zusammentreffen und den Aushandlungsprozessen zwischen Schafen, Skifahrern und anderen Tatraliebhabern durch die Sozialisten hinzugefuegt wurde, fuehrt also zu einer uneindeutigen Antwort. Mit Sicherheit stellten die Strukturen gesellschaftlicher Kommunikation wie auch das Projekt, eine neue Ordnung mit einem besseren Leben zu erschaffen, wichtige Unterschiede dar. Dies aendert nichts daran, dass die Ereignisse rund um die Tatra Teil eines globalen Problemfeldes waren. Dieses Ergebnis mag etwas mager erscheinen; meines Erachtens charakterisiert es jedoch Ostmitteleuropa nach 1945 sehr passend und weist darauf hin, dass die Lebensrealitaeten jenseits des Eisernen Vorhangs genauso ?normal? waren wie diesseits.
Anmerkungen
1. Celba, K.; Straka, B.; Kroutil, F.; ?imko, J. (1953): Die Hohe Tatra. Praha: Artia, 12.
2. Hir?: Ochrana pr?rody 31.
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