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| Archive - Zarische Verwaltung - Comments
Liebe Seminarteilnehmerinnen und ?teilnehmer,
haben Sie alle herzlichen Dank fuer die ausfuehrliche und aeusserst
anregende Diskussion meines Textes. Abgesehen von einigen polemischen
Kommentaren hat die grosse Mehrheit in der Diskussion die Schwaechen
meiner Untersuchung, die sich noch an einem Anfangspunkt befindet und
somit als ?work in progress? zu bezeichnen ist, offenbart. Dafuer ist
ausdruecklich zu danken.
Mein Appell, die Geschichte Russlands nicht nur von dem Zentrum aus zu
betrachten, fand durchweg bei allen Zustimmung. Allerdings stellte ich
fest, dass es einige Diskussionsteilnehmer verstimmte, dass ich ab und
an eine ?tatarische Perspektive? einzunehmen versuchte. Gerade dies
foerdert aber die Untersuchung der Geschichte Russlands, die doch so
vielschichtig und aufregend ist, wenn man die nicht-russischen Voelker
und Voelkerschaften mit hinzunimmt und deren Wechselverhaeltnis
thematisiert. Sicher ist aber die These, dass in der Zentralasienpolitik
die Gruende fuer eine Entfremdung von Tataren und Russen zu sehen ist, zu
relativieren. Dies war nur einer von vielen Gruenden der bis in die
heutigen Tage hinein spuerbaren Entfremdung.
Mit der Beschreibung der Diskussionsergebnisse zweier unterschiedlicher
Kazaner Konferenzen hatte ich versucht, den Blick von Kazan auf die
Peripherie aufzunehmen und die Schwierigkeiten der russischen
Zentralasienpolitik in ihrer Vielschichtigkeit zu skizzieren. Hier ist
sicher noch einmal ein intensiver Archivaufenthalt vonnoeten, bei dem ich
nach den Teilnehmern an den Konferenzen suchen werde, um deren
Lebenswelten rekonstruieren zu koennen. In diesem Sinne gilt es, die
Bedeutung der einzelnen Konferenzen herauszustellen und ihre
Einflussmoeglichkeiten auf die politischen Gremien zu untersuchen.
Dankbar bin ich fuer Ihre Bemerkungen, die Struktur des Textes zu
ueberdenken, ihn redundanter zu machen. Auch sollte ich die vielen
Begriffe wie beispielsweise Zivilisation und Zivilisierung ebenso
genauer definieren wie ich die Unterschiede zwischen den beteiligten
Ethnien deutlich machen sollte.
Insgesamt gesehen fand ich die Diskussionsrunde sehr fruchtbar und
gewinnbringend fuer meine Arbeit. Dafuer bin ich Ihnen sehr dankbar und
freue mich darauf, mit Ihnen weiterhin die Geschichte Russlands in dem
virtuellen Seminar unserer Universitaeten zu diskutieren.
Herzliche Gruesse aus Basel, Ihr Joern Happel.
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Zentralasien diente sowohl den russischen Kolonialbeamten als auch den tatarischen Nationalisten und Missionaren als Projektionsflaeche fuer eigene Plaene und Zukunftsvisionen. Der schlechte Zustand der Verwaltung Turkestans und Transkaspiens zog das Interesse imperialer Planer und tatarischer Visionaere auf sich. Dennoch hatten alle an der Diskussion beteiligten Akteure, die Joern Happel beschreibt, eigenstaendige institutionelle und materielle Interessen. In diesem Licht kann man den Plan der Beamten sehen, russische Buecher als Mittel gegen das ?Umfallen des kasachischen Volkes durch eine tatarische Missionspolitik? einzusetzen. Die Beamten wollten ihr eigenes Wirken von der Regierung finanziell besser unterstuetzt wissen. Gleiches gilt fuer die Forderungen der Kazaner Orientalisten. Zu diesem Punkt gab es von einigen Diskussionsteilnehmern schon Hinweise.
Wie wenig die Plaene aller Seiten an den Lebensrealitaeten in den Nomadengebieten orientiert waren, zeigt die Bedeutung, die Pressepublikationen und Buecher in den russisch-tatarischen Diskussionen einnahmen. Was fuer eine Gefaehrdung sollten Druckerzeugnisse in Gesellschaften darstellen, die nicht alphabetisiert waren? Hier zeigt sich, dass es zwar eine realistische Lagebeurteilung ueber den Zustand der zarischen Kolonialverwaltung gab, darueber hinaus jedoch ein verschwommenes Bild ueber die in Zentralasien lebenden Bevoelkerungsgruppen vorherrschte.
Diese Beschraenkung der Quellenperspektive wirkt sich auf den Argumentationsgang in Joern Happels Ausfuehrungen aus. Pantuerkische Agitation, das Wirken der Jadidisten und die Lehren antirussischer Sufis werden nicht unterschieden. Die Schueler islamischer religioeser Schulen treten pauschal als Unruhestifter und Russlandfeinde hervor. Die These vom Analphabetismus wird ohne die Beachtung der Andersartigkeiten in der Schrift- und Kommunikationskulturen Zentralasiens uebernommen. Doch Schreibunkundigkeit und religioeser Fanatismus galten den zarischen Beamten als Indikatoren fьr die kulturelle Rueckstaendigkeit von Bevoelkerungen. Sollten die Fragen nicht vielmehr lauten: Warum sehen sich die russischen Beamten in Kazan in einer Bedrohungslage? Wie fuegt sich ihre Islamfeindlichkeit in den Kontext der Nationalitaetenpolitik und die Auseinandersetzung mit der tatarischen Nationalbewegung nach 1905 ein? Waren die Zeitungsverbote in Mittelasien gezielte Akte behoerdlichen Anti-Islamismus oder handelte es sich um administrativen Pragmatismus zur Entlastung ueberforderter Zensurbehoerden?
Einige Ueberlegungen Happels bekommen ein anderes Gewicht, betrachtet man sie aus der Perspektive der fruehen Sowjetzeit. Die russischen Schulen und die muslimischen Reformschulen waren aus der Sicht ihrer Unterstuetzer 1917 sicherlich gescheitert. Nicht ausser Acht gelassen werden sollte jedoch, dass Schueler russischer Schulen in den 1924 gegruendeten nationalen Sowjetrepubliken Zentralasiens ? auch im von Nomaden bewohnten Turkmenistan ? einen grossen Anteil in den Regierungen und nationalen Parteiorganisationen stellten. Sie wurden somit zu einer wichtigen Stuetze des Sowjetregimes.
Andererseits sollte der tatarische Einfluss in Zentralasien nicht unterschuetzt werden. An der Eroberung und dem Wiederaufbau von Regierungsstrukturen nach dem Buergerkrieg waren Wolgatataren in so grosser Zahl beteiligt, dass es Mitte der zwanziger Jahre in Tadschikistan Beschwerden ueber die dort herrschende ?russisch-tatarische Diktatur? gab. Auch vor 1917 war der Einfluss der Tataren in manchen Regionen Zentralasiens sehr stark. In der nordchinesischen Provinz Xinjiang waren des Tataren, die zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und 1914 ein reformiertes Schulwesen fuer die dort lebenden turksprachigen Uiguren aufbauten. Im Ili-Tal (am suedlichen Ende der heutigen kasachisch-chinesischen Grenze) lebten im Jahr 1892 1900 Tataren.
Joern Happels Forderung, die russische Imperialgeschichte muesse als Dialog zwischen Zentrum und Peripherie neu erzaehlt werden, ist zu unterstuetzen. Doch kann seine Schlussthese, dass der Anlass zur Entfremdung zwischen Tataren und Russen ?das gegenlaeufige Interesse beider Voelker in Zentralasien? gewesen sei, in dieser Form bestehen?
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Sehr geehrter Joern Happel,
Sie beschaeftigen sich mit einem sehr interessanten und faszinierenden Thema. Die Probleme der kolonialen Herrschaft werden heute nicht nur auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR diskutiert, wo vor 15 Jahre der riesige multiethnische Staat untegangen war und neue Staatsbildungen aus den ehemaligen ?bruederlichen Republiken? auf der Schwelle des wachsenden nationalen Bewusstseins gewachsen sind. Die europaeische Wissenaschaft diskutiert dieses Thema auch unter der Herausforderung des Postmodernismus, was teilweise ihren Ausdruck in postcolonial studies fand.
Ich versuche meine Ausmerksamkeit auf Ihren Thesen zu konzentrieren, die meines Erachtens, zusammen mit der Beruecksichtigung der kritischen Bemerkungen anderer Teilnehmen, zu einer guten Untersuchung fuehren werden.
1. Ihr Versuch, die Konturen der russischen kolonialen Herrschaft zu skizzieren, finde ich sehr vielversprechend. Ihr Termin ?nevmeschatelstvo? scheint mir zutreffend, obwohl Sie weiter selbst versuchen, von dieser Interpretation zu verzichten. Ich wuerde diese Linie weiter fuehren und schauen, wie sich russische Buerokratie im Zentrum die Mechanismen der kolonialen Herrschaft vorstellt, welche Hindernisse diese Projekte an Ort und Stelle finden und wie sie sich veraendern. Was bedeutete ?nevmeschatelstvo? in allen Bereichen der Herrschaft ? wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen.
2. Die Untersuchung des Problem der Sprachbarriere scheint sehr wichtig zu sein. Aus eigener Untersuchung weiss ich, dass sich die Bolscheviken mit diesem Problem in Mittelasein sowie in anderen Regionen auseinandersetzt hatten. Es scheint, allen Schwirigkeiten zum Trotz, dass sie dieses Problem erfolgreicher als zarische Verwaltung geloest hatten. Ist das keine interessante Vergleichsmoeglichkeit? Geschweige denn, dass in postcolonial studies dieses Thema ausfuehrlich eroertet wird. Es wuerde sich lohnen zu untersuchen, wie die imperiale Kolonialsprache von ausgebildeten Vertretern der indigenen Bevoelkerung rezipiert wurde.
3. Mir scheint auch interessant, die unterschiedliche Formen der kolonialen Herrschaft wie Uebersidlungs- und Assimilierungpolitik zu analysieren.
Mit besten Wunschen fuer Ihre weitere Arbeit
Olga Nikonova
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Sehr geehrte Frau Tscherepanova,
ich teile Ihre Ansicht nicht, dass die Quellenbasis meines Textes fuer
die Untersuchung zu klein ist. Bewusst habe ich mich fuer diese Dokumente
entschieden, bewusst habe ich sie fuer sich sprechen lassen. Sie
schreiben, dass ich zu sehr glaube, was in den Texten steht. Aber warum
denn nicht? In meinen Kommentierungen zeige ich, meiner Ansicht nach,
warum diese Dokumente so spannend sind, und wieso sie eine fuer mich
wichtige Stellung einnehmen.
Zustimmen moechte ich Ihnen bezueglich des von Ihnen ausfuehrlich
geschilderten Aspekts der Wahrnehmung (das Eigene und das Fremde). Dies
haette von mir besser herausgearbeitet werden sollen.
In einem weiteren Punkt moechte ich klarstellen, dass zwar das ?Reifen?
einer tatarischen wie russischen ?nationalen Idee? zusammenfielen, doch
mit Sicherheit auf tatarischer wie ?zentralasiatischer? Seite wohl durch
die mitunter fragwuerdige Kolonialpolitik des Zarenreiches forciert wurde.
Im Grunde freut es mich schliesslich, dass Sie meine Arbeit als reine
Hypothese bezeichnen, weil auch die Ueberlegungen der hier in Kuerze
dargestellten Kazaner Konferenzen in vieler Hinsicht hypothetischer
Natur waren. Hypothesen zu aeussern, ist doch eine Aufgabe eines sich in
Arbeit befindenden Projektes. Hier decken sich die Ueberlegungen der
Kazaner Konferenzen mit meiner eigenen jetzigen Arbeit. Waehrend erstere
nach moeglichen anderen Wegen unter anderem in der Zentralasienpolitik
des Zarenreiches suchten, ueberlege ich mir mein weiteres Vorgehen in der
jetzigen Arbeitsphase und habe bewusst, Hypothesen formuliert, um
Denkanstoesse zu bekommen und Kritik zu ernten. Ihre Entscheidungsfrage,
was ich denn untersuchen moechte, habe ich mit meinem Text eigentlich
beantwortet: Beides. Allerdings geht dies ? wie Sie zurecht meinen ? in
dieser hier vorgestellten Kuerze nicht. Da haette ich mich tatsaechlich
entscheiden muessen. Dann waeren auch einzelne Passagen klarer geworden.
Herzliche Gruesse, Ihr Joern Happel.
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Lieber Herr Volkov,
es ueberrascht mich sehr, dass Sie den Eindruck gewinnen konnten, mein
Artikel sei auf Basis oder unter dem Einfluss der derzeitigen
tatarischen Geschichtsschreibung entstanden. Dem widerspreche ich und
dies verdeutlichte auch mein Text. Ich mцchte hier mein Unverstдndnis
darьber aeussern, wie mein Text als einseitig ?protatarskij? abgetan und
als ?maloproduktivnyj? bezeichnet wird. Aus neutraler Sicht heraus habe
ich diesen Artikel zu schreiben versucht. Mit Sicherheit ist mir dies
nicht immer gelungen ? wem gelingt das schon? ? aber eine prorussische
bzw. protatarische Seite nehme ich nicht ein. Es verwundert mich
wirklich, dass Sie das so empfinden und weise Ihre Kritik, zumal
unzureichend begruendet, von mir.
Bezueglich des Aufstands von 1916 ist zu sagen, dass Agenten aus der
?Tuerkei? nicht den Ausschlag fuer die Revolte gaben, sondern vielmehr ein
grosser Kulturkonflikt ueber Jahre entstanden war, der nach der
Einfuehrung der Wehrpflicht fьr die Bevцlkerung des russischen
Zentralasiens in einem Aufstand kulminierte.
Danken moechte ich Ihnen ausdruecklich fuer die Richtigstellung der
Bewertung Stolypins. Hier hatte ich es mir zu leicht gemacht.
Schliesslich haben Sie auch in dem Punkt Recht, wenn Sie meinen, ich
muesse Dokumente aus zentralen Archiven beruecksichtigen. In meiner
Dissertation werde ich dies machen. Fuer diesen Artikel halte ich es aber
nicht fuer notwendig, da gerade mein Text die ?periphere Diskussion?
thematisiert.
Herzliche Gruesse, Ihr Joern Happel.
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Liebe Frau Schukschina,
selbstverstaendlich verfolgten Nomaden Zentralasiens immer ihre eigenen
Ziele, so auch infolge des schlecht vorbereiteten Andijan-Aufstandes.
?Muslimische Propaganda? alleine vermochte es ja gerade nicht, diese
Revolte vom Zaune zu brechen. Ihr Einwand ist meiner Ansicht nach somit
mehr als begruendet. Das Nomadentum ist eine dynamische Lebensform, die
aufgrund jener Dynamik andere Interessen verfolgt als sesshafte
Menschen. Revolten und Aufbegehren gegen die Obrigkeiten (etwa
Clanchefs) gehoeren bei Nomaden beinahe zur Tagesordnung, weshalb nicht
bei allen Auseinandersetzungen zwischen sesshaften und nichtsesshaften
Bevoelkerungsteilen des Zarenreichs sogleich von einem Aufstand
gesprochen werden sollte. In vorliegendem Falle halte ich die
Bezeichnung aber fьr angebracht. Ferner hatte ich den Aufstand von
Andijan lediglich als Einstieg in die Thematik gewaehlt, hдtte ihn aber
besser einordnen mьssen. Deshalb danke ich Ihnen sehr fьr Ihren Hinweis.
Zu den von mir genannten zwei Prozent der Uzbeken, die im Jahre 1917
lesen und schreiben konnten: An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht
nur die zarische, sondern auch die ?muslimische? Bildungsarbeit wenige
Fruechte trugen. Diesen Aspekt will ich aber noch naeher untersuchen. Im
Text sprach ich lediglich von einem Scheitern russischer Bildungsarbeit.
Dies waere im Grunde aber auch auf ein Scheitern pantuerkischer
Bildungsanstrengungen auszudehnen. Ihre Frage ist zentral und ich werde
ihr weiter nachzugehen haben. Derzeit bleibe ich Ihnen eine umfassende
Antwort schuldig und bitte Sie deswegen um Verstaendnis.
Herzliche Gruesse, Ihr Joern Happel.
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Lieber Herr Timofeev,
haben Sie herzlichen Dank fuer Ihre Ausfuehrungen. Sie erlaeutern darin die
Begriffe Zivilisation und Zivilisierung. Ich hatte dies in meinem
Artikel aufgrund der Kuerze weggelassen. Auch fuer die Hinweise der
unterschiedlichen Wahrnehmungsformen von Zivilisation danke ich sehr. So
anschaulich, verstaendlich und kurz habe ich dies noch nicht gelesen.
Herzliche Gruesse, Ihr Joern Happel.
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Sehr geehrter Herr Sapronov,
Sie haben in aller Kuerze die Schwachstellen meines Projekttextes
aufgezeigt und Recht damit, dass meine Struktur zu ueberarbeiten ist: Ich
springe tatsaechlich in manchen Dingen zu schnell von Thema zu Thema.
Dies fiel mir erst jetzt ? dank Ihres Kommentars ? auf. Aber zu einigen
Ihrer Anregungen: Sicher, in Zentralasien lebten und leben mehr Voelker
als die Kasachen, doch wollte ich lediglich auf die Kasachen in einigen
Faellen eben als Fallbeispiele verweisen. Weiter moechte ich erklaeren,
dass ich mit der Aussage, an der Jahrhundertwende trenne sich der Weg
von Tataren und Russen, polarisieren wollte. Ich glaube, dass in den von
mir vorgestellten Dokumenten ein Bruch in den tatarisch-russischen
Beziehungen auszumachen ist, der aber lange nachwirkt. Ihre Ergaenzung
?Selbstherrschaft?, wenn ich von einer ?mjagkaja politika? spreche,
machen Sie zurecht. Aber bis heute frage ich mich, ob in allen Bereichen
des Zarenreiches stets von Selbstherrschaft gesprochen werden kann.
Strahlte denn die Zarenherrschaft in alle Winkel des Imperiums gleich
aus? Kann es nicht auch sein, dass die Zarenherrschaft von Beamten wie
Beherrschten auch einmal als ?schwach? angesehen werden konnte, zumal am
Rande des Reiches? Mit diesen Fragen kann man mit Sicherheit mehrere
Seminare fuellen, so dass wir dies hier auch nicht vertiefen koennen. Aber
ein Aspekt meiner Dissertation wird es sein, die tatsaechliche Wirkung
von zarischer Regierungsgewalt zu untersuchen, sie auf ihre Eigen- und
Fremdwahrnehmung zu hinterfragen. Deshalb danke ich Ihnen sehr fuer Ihre
Hinweise und stehe fuer Nachfragen immer gerne zur Verfuegung.
Herzliche
Gruesse, Ihr Joern Happel.
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(Manteltext)
Lieber Herr Happel,
am 10. Januar fand sich das Treffen der Tscheljabinsker Teilmehmer des Internet-Seminars, die sich sammelten, um ihre Eindruecke von dem von Ihnen zugeschickten Text auszutauschen. Im Namen des an der Sitzung teilgenommenen Kreises darf ich mich bei Ihnen fuer das spannende Projekt herzlich bedanken, das eine rege Diskussion hervorrief. Das Problem der Zusammenarbeit und Konkurrenz von Russen und Nichtrussen in den peripheren Gebieten des spaeten Zarenreiches gehoert sicherlich zu zentralen und ausserordentlich diffizilen Themen der russischen Geschichte.
Die Kommentare und Kritik kreisten vorwiegend um die fehlenden historische Kontexte und lassen sich zusammenfassend wie folgt vormulieren:
1. Der Text provoziert eine Vermutung ? was eventuell und mindestens teilweise auf den bescheidenen Umfang und Besonderheiten vom Genre der Projektskizze zurueckzufuehren sei, ? dass der Autor zu verschwommene Vorstellungen von den Regierten hat. Diese Kritik wurde insbesondere von den an der Sitzung teilgenommenen Ethnologen vertreten. Die Bevoelkerung des Turkestans bestand nicht nur aus Nomaden, waehrend die Kasachen doch mehrheitlich ausserhalb von Turkestan wohnte. Die Heterogenitaet der Bevoelkerung, die in der Komplexitaet der ethnischen und administrativen Karte des Turkestans ihre Widerspiegelung fand, soll in dem Projekt staerker beruecksichtigt werden.
2. Nicht nur die Regierten, sondern auch die Regierenden sehen in der Projektskizze gesichtslos aus. Symptomatisch scheint beispielsweise, dass aus dem Text nicht klar bleibt, wer die Tagungen in Kazan? iniziierte und einberief, wer zur Teilnahme zugelassen wurde, mit einem Wort, wie die Macht als Diskurs funktionierte. Widerspruechlich scheinen auch Ihre Ausserungen ueber die zivilisatorische Mission der russischen Administration in Turkestan. Einerseits wird sie pauschal negativ als gewaltaetig und ineffektiv bewertet, andererseits erzeugt der Text den Eindruck, dass die russischen Buerokraten einen grossen Spielraum fuer die regionale Elite liessen.
3. Sehr fragwuerdig scheint die These von der hervorragenden und autonomen Rolle der Kazaner Tataren in Turkestan. Moeglicherweise ueberschaetzen Sie ihre Rolle in der Region. Ihre zivilisatorische Mission war wirklich hervorragend, jedoch nur den Baschkiren und den Einwohnern der Kasachischen Steppen gegenueber, nicht aber in Mittelasien, wo manche Tataren ihre eigene religioese Ausbildung bekamen. Waren die Kazaner Tataren in Turkestan wirklich die Vertreter ausschliesslich eigener Interessen oder doch die Vermittler der russischen Politik? Existierte die in den russischen Machtzentren diskutierte tatarische Gefahr wirklich oder nur in den Koepfen der russischen Beamten (mit deutschen Namen)? Die Teilnehmer ausserten die Vermutung, Sie nehmen die buerokratischen Quellen aus der spaeten Zarenzeit und die aktuelle tatarische Geschichtsschreibung nicht kritisch genug wahr. Eventuell waere es (nicht nur) aus oekonomischen Gruenden besser, die Archivrecherche nicht in Kazan?, sondern in den Hauptstaedten des Reiches anfangen.
4. Manchen Teilnehmern der Sitzung fehlte der internationale Vergleich. War die Situation der Russen in Turkestan viel anders als die der Englaender in Afganistan und in anderen asiatischen Regionen in den ersten Jahrzenten nach ihrer Anignung? Wem von den kolonialen Grossmaechten hat es gelungen, in wenigen Jahrzehnten eigene Sprache zu verbreiten und die Machtinstitutionen zu vernetzen und zu verankern? Es lohnt sich wahrscheinlich, die postkoloniale Theorie in die interpraetative Konstruktion intensiver einzubeziehen. Es waere auch ratsam, die These von der Ineffizienz der russischen Politik in Turkestan nicht nur durch den vergleichenden Ansatz zu relativieren, sondern auch durch die Erweiterung der zeitlichen Perspektive: die Region war z. B. waehrend des russischen Buergerkrieges die unproblematische Insel der relativen Ruhe geblieben, was eher fuer die relative Stabilitaet der russischen Anwesenheit in Turkestan spricht.
Die einzelnen Fragen und Kommentare finden Sie unten (meine persoenliche Meinung habe ich in den Manteltext eingebaut). Wir sind gespannt auf Ihre Antwort und hoffen, dass die geaeusserte Kritik Ihnen behilflich sein koennte. Die Tscheljabinsker Kollegen wuenschen Ihnen viel Erfolg mit Ihrem spannenden und anregenden Projekt.
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It is well known that Late Russian Empire was not the only to face the problems of keeping territorial unity and loyalty of the native population. In no less extent the same problems, as well as lively and politically loaded liberal-conservative debates on the issue featured British Empire, the oldest and most dynamic imperial structure of the Western world. Of course, direct analogies between two empires would look rather simplistic, but before making far-reaching conclusions on ?failure? or ?success? of Russian imperial politics, it would make makes sense to assess it in more general imperial context and to compare certain similar practices of both empires and response to it of the local population, the russification of imperial ?suburbs? and anglicization of colonies populated with native peoples, in particular |
Liebe Oxana Nagornaja,
ich komme erst jetzt dazu, Ihre Fragen zu beantworten. Auch die beiden
Kommentare, die sehr scharf formuliert sind, aber viel Nuetzliches
enthalten, werde ich erst heute beantworten.
Doch zunaechst zu Ihnen. Die Kompetenzen beider von mir als
Fallbeispiele erwaehnten Konferenzen sind schwer zu bestimmen. Sicher
ist, dass beide lediglich "Gedankenspiele" waren, in etwa einer Art
Klausurtagung entsprechen, bei der moegliche Handlungsoptionen erdacht
wurden. Entscheiden konnten die Teilnehmer nichts, aber ihre Meinung
fand, so eine meiner Erkenntnisse, durchaus Gehoer bei den russischen
Staatsbehoerden. Dies mache ich an einigen Bemerkungen fest. Allerdings
spricht aus den Konferenzen keine "Staatsmeinung". Ich glaube, mich in
meinem Text dahingehend etwas umstaendlich ausgedrueckt zu haben. Konnte
ich Ihre ersten Fragen damit einigermassen beantworten?
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Lieber Herr Happel,
ich habe Ihren Text mit grosser Neugier gelesen. Ich riskiere einige Luecken in meinem Wissen zu verraten, doch stelle ich ein Paar Praezisierungsfragen.
Koennten Sie doch genauer bestimmen: welche Kompetenz hatten die Konferenzen, die Sie erwдhnen, wie repraesentativ war ihre Meinung bzw. Entscheidungen, und ob die von den russischen Staatsbehoerden wirklich akzeptiert wurden?
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