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Current project - Tscheljabinsk 1957: Wissen und Kommunikation ueber die Katastrophe - Comments

Oxana - 15.10.2014 10:08
Protokoll der Sitzung am 08.10.2014 - Virtuelles Seminar mit dem Zentrum für Sozial- und Kulturgeschichte Tscheljabinsk
Textdiskussion
Besprochen wurde der Projektentwurf für die Dissertation von Laura Sembritzki mit dem Titel Tscheljabinsk 1957: Wissen und Kommunikation über die Katastrophe (Stand 23.02.2014). Der Text steht auf der Webseite des International Seminar on Russian and East European History zur Verfügung: http://www.isem.susu.ac.ru/curren/Tscheljabinsk_oeko_d/
Laura Sebrnitzki hat in Bochum und Hamburg studiert und ist heute forschend sowohl in Heidelberg als auch in Tscheljabinsk tätig. Der Text ist bezüglich des Standes ihres Dissertationsprojekts möglicherweise nicht mehr aktuell.
Ausgangspunkt für Sembritzkis Abhandlung sind die Atommüll-Katastrophen in den 50er Jahren in Tscheljabinsk-40, einer geheimen und geschlossenen Stadt, welche von offizieller Seite untersucht, aber gegenüber der betroffenen Bevölkerung verschwiegen wurden. Wie das Wissen um die Katastrophe bei verschiedenen Akteuren und Betroffenen generiert und tradiert wurde, steht im Zentrum des Interesses ihres Dissertationsprojekts.
Der Text gliedert sich in zwei Gebiete: Einerseits die Orientierung über die Ereignisgeschichte und andererseits der Entwurf eines theoretischen Instrumentariums, welches ihrem interdisziplinären Projekt gerecht werden soll.
Der erste ereignisgeschichtliche Teil hat in der Kolloquiumssitzung besonderes Interesse geweckt, wobei mehrfach der Wunsch nach weiterführenden Informationen geäussert wurde.
Der zweite theoretische Teil hat zu Kontroversen und Grundsatzfragen hinsichtlich der Herangehensweise der historischen Forschung geführt.
Der interdisziplinäre Ansatz von Frau Sembritzki wurde als innovativ und bezüglich des Themas als vielversprechend beschrieben, wobei auch der Hinweis auf eine in Tübingen stattgefundene Konferenz gemacht wurde: Dazu siehe den Tagungsbericht von Katja Doose: Katastrophen im östlichen Europa vom 18. Jahrhundert bis heute. 21.02.2013–22.02.2013, Tübingen, in: H-Soz-u-Kult, 10.04.2013, abrufbar unter:
http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4750.
Nach Frau Doose wird die Erforschung von Katastrophen seit zwei Jahrzehnten interdisziplinär betrieben, jedoch stellt sie für das Gebiet Osteuropa einen Mangel an Forschung auf dem Gebiet der Katastrophengeschichte fest. Dieses Urteil von Frau Doose wurde in der Kolloquiumssitzung auch gleich wieder kritisiert, da Katastrophenforschung für die osteuropäische Geschichte gewiss kein Novum ist. Dafür wurde der Hinweis auf das mittlerweile auf dem Gebiet der Katastrophengeschichtsforschung wichtige Buch von Kate Brown gemacht: Plutopia: Nuclear Families, Atomic Cities, and the Great Soviet and American Plutonium Disasters (New York: Oxford University Press 2013). Es handelt sich um ein Forschungsprojekt über geschlossene Städte im Kalten Krieg sowohl in den USA als auch in der UdSSR.
Es wurde erwähnt, dass die Projektbeschreibung bezüglich des Fokus ambivalent bleibt. Es entstehe der Eindruck, dass es auf einer methodologischen Ebene nur um die Wissensbestände und deren Genealogie ginge, während die zugrundeliegenden Katastrophen und der Kontext der Stadt Tscheljabinsk-40 lediglich als Ausgangslage dafür genutzt würden. Trotzdem nehmen sie bei der Projektbeschreibung eine prominente Position ein, da es sich um spektakuläre Ereignisse handelt. Die methodologischen Überlegungen haben in der Diskussion zu Kontroversen geführt:
Einerseits wurde bemerkt, dass der Begriff des Wissens, verstanden als sozial konstruiertes Phänomen, welches die Kategorien wahr oder falsch nicht kennt, das allgemeine Vorhaben wissenschaftlicher Forschung untergräbt. Die Frage drängte sich auf, was es für einen Text, der den Anspruch erhebt, Wissen zu generieren, bedeute, verschiedene Wissensformen zu unterscheiden. Diese Problematik entsteht dadurch, dass das Wissen als Forschungsgegenstand greifbar gemacht werden muss, wobei eben die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Wissen obsolet wird.
Damit wird ein Grundsatzproblem der Historiographie als Wissenschaft angesprochen, nämlich dass Historiker fast zwangsläufig durch Interpretationsprozesse Wissen generieren, da sie in der Regel nicht dabei waren, und sich deshalb mit dem Lesen von Quellen zufrieden geben müssen. In dem Moment, in dem der Historiker den Physiker als Hilfe braucht, um die Messprotokolle zu verstehen, ist er schon mitten im Interpretationsprozess. Dadurch lässt sich Wissen als soziales Konstrukt beschreiben.
Im Fall von Katastrophen mit Strahlung, also mit unsichtbaren Ursachen aber sichtbaren Resultaten, ist es sinnvoll, sich mit einer Wissensgeschichte auseinanderzusetzen. Die betroffene Bevölkerung um Tscheljabinsk-40 sah wahrscheinlich die Folgen der Unfälle, besass aber nicht das nötige Fachwissen, um deren Ursache zu verstehen. Trotzdem verlangen gewisse Ereignisse in der Umwelt, etwa wenn Bäume plötzlich absterben, Flüsse ihre Farbe ändern und die Fische sterben etc., nach Erklärungen. Das Wissen über Strahlung war in diesem Kontext wahrscheinlich eine Form von Geheimwissen, was die Kategorie des Gerüchts ins Spiel bringen würde.
Jedenfalls ist entscheidend, wer das Wissen produziert. Diesbezüglich wäre es auch spannend zu sehen, was Igor Narskij zu Gerüchten in der Sowjetunion gearbeitet hat (siehe die Tagung: Gerüchte in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Berlin am 01.-02.10.2009).
Methodologisch bedarf der Umgang mit dem impliziten Realitätsbegriff jedenfalls weiterer Klärung.
Weiter wurde bemerkt, dass aus dem Text nicht hervorgeht, welche Quellen für die Untersuchung vorgesehen sind. Diesbezüglich, da es wahrscheinlich schwierig ist, an Quellen zu einer geheimen und geschlossenen Stadt zu kommen, wurde der Hinweis auf verschiedene Schriften von Julia Obertreis gegeben, die sich mit Infrastruktur und Bewässerungssystemen in Zentralasien beschäftigt hat. Sie arbeitete zum Beispiel mit Zeitzeugeninterviews, siehe ihre Publikationsliste:
http://www.osteuropa.geschichte.uni-erlangen.de/cms/mitarbeiter/prof.-dr.-julia-obertreis/publikationen.php
Auf der methodologischen Ebene wurde auch die Frage nach dem Begriff der Wissensformation gestellt, und wie dieser Begriff zum Begriff der Wissensordnung steht?
Prof. Caroline Arni sprach bei ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Basel über das Wissen über das ungeborene Leben. Menschen haben über das Unbekannte in verschiedenen Epochen unterschiedlich nachgedacht. Sie beschrieb dies als Epistemologie wobei das Epistem das Unbekannte ist. In unterschiedlichen Zeiten machen sich Gesellschaften vom Unbekannten ein unterschiedliches Bild. So kann man auch in diesem Fall Wissensgeschichte beschreiben. Es geschieht eine Katastrophe und die lokale Bevölkerung merkt, dass etwas nicht stimmt, da die Natur sich aus unbekannten Gründen verändert. Die Leute versuchen, diese Veränderungen zu interpretieren. Aus dieser Perspektive müsste man jedoch das Forschungsvorhaben von Frau Sembritzki als Kommunikationsgeschichte und nicht als Wissensgeschichte beschreiben, denn sie interessiert sich für die Tradierung des Wissens, Geheimhaltungsstrategieren und Wissensmanagement.
Der Fokus auf die unterschiedliche Nutzung und Handhabung des Wissens erscheint insofern als sinnvoll, da konkrete Namen von Leuten Tscheljabinsks bekannt sind, die bei den Wahlen zum obersten Sowjet angetreten sind. Wie entscheidend es ist, was diese historischen Akteure mit Wissen gemacht haben, ist heute noch am Beispiel der Ukraine sichtbar, wo betont wird, dass für die Abstimmung über die Unabhängigkeit von der UdSSR entscheidend gewesen sei, dass Kiew das Wissen über Tschernobyl zurückgehalten hat. Die Handlungslogik der historischen Akteure lässt sich besser verstehen, wenn man weiss, was sie gewusst haben. Genau darin liegt auch ein Problem des Forschungsvorhabens von Frau Sembritzki, da dieses Wissen schwierig zu erschliessen ist.
Ein weiterer Begriff, der Fragen aufgeworfen hat, ist der des Gegenwissens. Gegen wen richtet sich dieses? In der Diskussion wurde als Erklärung angeboten, dass in spät-sozialistischen Gesellschaften das Wissen, welches kriminalisiert wurde, als Gegenwissen gelten kann. Etwa Umweltdaten, die nicht privat gesammelt oder erhoben werden durften. Umweltdaten waren als geheim klassifiziert. Insofern kann sich eine Gegenöffentlichkeit an ihnen als Wissen kristallisieren. In der konkreten politischen Ausprägung der Perestroika kann man jedoch verschiedene Antagonismen bilden, welche die Kategorie des Gegenwissens erlauben. Wahrscheinlich dient diese Kategorie jedoch dazu, die Schlagkraft gewissen Wissens zu beschreiben. Die Messungen der Wissenschaftler vor Ort (Tscheljabinsk-40) wurden mit bestimmten Absichten gemacht. Eine Frage war, wie man in diesem Gebiet Landwirtschaft betreiben könne (welche Pflanzen nehmen weniger giftige Substanz auf etc.)? Die Daten wurde erhoben, ohne das diejenigen, die betroffen waren, um diese Dimension wussten. Den Leuten, die dort lebten und Landwirtschaft betrieben, war nicht klar, was da erhoben wurde und welches Ausmass die Katastrophe hatte. In diesem Setting lässt sich der Begriff des Gegenwissen durchaus einsetzen.
Auch wurde vorgeschlagen, den Begriff des Wissens durch den begriff des Narrativs zu ersetzen. Die Frage wäre dann, welche Narrative von den verschiedenen Akteuren entwickelt wurden, um diese wundersamen Phänomene sinnvoll zu verorten. Das wäre besonders spannend mit Blick auf die späte Sowjetzeit, in der allen klar war, dass sie in zwei verschiedenen Realitäten leben. Die Menschen waren gewohnt, in zwei Sprachen zu sprechen, am Arbeitsplatz und am Küchentisch. Wie wird ein solches Phänomen der sozialen Wirklichkeit in Sprechweisen der Wirklichkeit eingebettet?
Abschliessend wurde gesagt, dass der Text über die Katastrophe informiert, aber wenig darüber sagt, woher diese Informationen kommen und was wirklich bekannt ist und was nicht. Wäre dies klarer, so wäre besser nachvollziehbar, wie sich die Theorie aus dem Material entwickelt. Diese Bemerkung gab Anlass zur Grundsatzfrage, wie sinnvoll es im Anfangsstadium einer Forschungsarbeit sei, einen konkreten theoretischen Zugang zu entwickeln, bevor die Quellenauswahl getroffen oder bekannt ist. Das Argument dafür lautet, dass es schwierig ist, ohne konkretes Rechercheprofil relevante von irrelevanten Quellen zu unterscheiden, da alles, was mit dem Thema zu tun hat, relevant erscheinen kann. Andererseits liegt genau darin auch die Gefahr einer stark theoretisch vorgeformten Perspektive, da der Forscher wahrscheinlich gewisse Quellen übersieht.
Lionel Wirz

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